800.000 Asylanträge erwartet die Bundesregierung in diesem Jahr. Gleichzeitig ist kein Abklingen der Konflikte im Nahen Osten und Afrika in Sicht. Einigen Menschen in Deutschland macht das Angst, wie begegnen Sie dem?
Die derzeitige Situation bedeutet eine große Herausforderung für uns alle. Tagtäglich kommen hunderte Flüchtlinge bei uns an, wir sehen die Bilder nicht nur in den Nachrichten, viele erleben direkt und ungefiltert die Not und Verzweiflung von Männern, Frauen und Kindern, die völlig erschöpft bei uns Schutz suchen. Es gibt Menschen, denen all das Angst macht. Und ich kann diese Angst auch nachvollziehen. Die Menschen sehnen sich nach stabilen, sicheren Verhältnissen, die sie durch die aktuelle Weltlage ein Stück verloren sehen. Wenn dann durch die Flüchtlinge so viel Unbekanntes und Fremdes in ihren Alltag eintritt, löst das neue Ängste aus. Schaffen wir das alles?
Wird sich unser Land durch die Flüchtlinge verändern? Ist jetzt weniger Geld für andere wichtige Dinge da?
Das alles muss man ernst nehmen und immer wieder aufklären, dass uns die Situation nicht überfordert, auch nicht finanziell. Rechtsextreme nutzen aber genau diese Unsicherheit aus. Ich denke, wir können die Menschen nur erreichen, indem wir besser aufklären, aber auch Netzwerke unterstützen, die über die jeweilige Situation vor Ort informieren und eine Anlaufstelle sein können. Natürlich ist auch der Austausch zwischen Flüchtlingen und Anwohnern wichtig. Wer sich nicht nur begegnet, sondern auch miteinander redet, erfährt die menschliche Dimension der Flucht. Das ist das beste Rezept gegen Ängste.
Nicht nur Asylsuchende, sondern auch Wirtschaftsflüchtlinge kommen nach Europa, und sind offenbar bereit, für ein besseres Leben ihr Leben erst einmal zu riskieren. Wie sollte Deutschland damit umgehen?
Ich finde die Bezeichnung „Wirtschaftsflüchtlinge“ abfällig. Es handelt sich um Menschen, die zu uns kommen, weil sie in ihrem Land keinerlei Perspektiven für sich und ihre Kinder sehen. Da muss sich jeder selbst fragen: Würde ich in einem Land bleiben, das von Korruption durchzogen ist und das nur einer privilegierten Oberschicht die Teilnahme am Wohlstand erlaubt? Viele der Menschen aus Albanien und dem Kosovo beispielsweise haben falsche Vorstellungen davon, wie unser Asylrecht angelegt ist, und dass dieser Weg für sie eine Sackgasse ist. Sinnvoll wäre es deshalb, besser aufzuklären, aber auch die legalen Wege der Arbeitsmigration auszuweiten. Wir könnten zum Beispiel prüfen, ob ein Kontingent für Saisonarbeiter geöffnet wird, dann könnten Menschen aus den Balkanstaaten für ein paar Monate bei uns Geld verdienen, von dem sie dann in ihrem Land wiederum einige Zeit leben können. Das wäre für beide Seiten ein Gewinn.
Unterstützen Sie die Idee, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge, oder zumindest vor der gefährlichen Reise über das Mittelmeer, Anlaufstationen für diese Menschen zu schaffen?
Wir brauchen in den Herkunftsländern mehr Information darüber, wie gefährlich die Reise über das Mittelmeer ist, welches die Voraussetzungen für Asyl in Europa sind und welche Möglichkeiten der legalen Einwanderung es nach Europa überhaupt gibt. Wenn aber sogar Asylanträge in solchen Zentren bearbeitet werden sollen, bin ich sehr skeptisch. Wer sollte dort rechtstaatliche Verfahren durchsetzen, zumal in den Herkunftsländern?
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat nun das Dublin-Abkommen, das Flüchtlingen vorschreibt, in dem Land ihren Antrag zu stellen, in dem sie zuerst in die EU eingereist sind, für Flüchtlinge aus Syrien ausgesetzt. Ist das ein Eingeständnis der Überforderung?
Zunächst einmal begrüße ich diese Entscheidung, in diesen Fällen die in der Verordnung vorgesehene Möglichkeit des Selbsteintritts Deutschlands zu nutzen. Sie ist eine Annäherung an die Realität, denn das Dublin-Verfahren ist längst hinfällig. Nur ein Siebtel aller Dublin-Fälle in Deutschland wird überhaupt wieder in das EU-Land zurückgeführt, in dem als erstes der Antrag gestellt oder sie registriert wurden. Das heißt, das BAMF verschwendet wichtige Ressourcen, um Dublin-Überstellungen in andere Mitgliedstaaten durchzusetzen, die dann nicht stattfinden. Im Anschluss daran muss das BAMF den Asylantrag dann ohnehin inhaltlich prüfen. Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dass wir in Europa echte Solidarität unter den Ländern zeigen. Das heißt: Wir müssen endlich zu einer gemeinsamen Flüchtlingspolitik kommen. Es kann nicht angehen, dass manche osteuropäische EU-Länder keine Bürgerkriegsflüchtlinge aus Syrien aufnehmen. Wir müssen aber auch sehen, dass der Weg dorthin nicht über Nacht erreicht werden wird. Viele Mitgliedstaaten inklusive Deutschlands haben in den letzten zehn Jahren gut damit gelebt, dass keine Flüchtlinge kamen oder sie andere Mitgliedstaaten für zuständig erklären konnten. Hier muss sich auch eine Haltung bei den Regierungen und den jeweiligen Ländern ändern.
Welches sind die grundsätzlichen Änderungen auf gesetzlicher und gesellschaftlicher Ebene, die kommen sollten, um mit der Situation besser umzugehen?
Die wichtigste politische Aufgabe besteht derzeit darin, die Kommunen zu entlasten. Das geschieht bereits durch die zusätzliche Milliarde vom Bund, die wir den Ländern bereitstellen. Es wäre fatal und gefährlich, wenn Gemeinden und Städte an ihren Kitas, Schulen und sozialen Einrichtungen sparen müssten, weil sie mit den Kosten für die Flüchtlingsunterbringung alleingelassen werden. Wie eine dauerhafte und strukturelle Lösung aussehen kann, beraten wir derzeit. Wichtig ist, dass wir nicht mehr alle paar Monate neu um Geld feilschen müssen. Eine Idee wäre, dass der Bund einen Teil der Kosten für Flüchtlinge nach zwölf oder 15 Monaten übernimmt. Das wäre rechtlich möglich, indem das Asylbewerberleistungsgesetz, das die Länder und Kommunen tragen, nach einem Jahr endet und die Flüchtlinge dann ein Existenzminium erhalten, das weitgehend vom Bund finanziert wird. Dadurch würden die Kommunen strukturell und dauerhaft entlastet. Auf gesellschaftlicher Ebene ist es wichtig, dass wir als Politiker klar und deutlich Stellung für die Schutzsuchenden beziehen und die vielen Ehrenamtlichen unterstützen. Dazu braucht es mehr hauptamtliche Strukturen. In Deutschland gibt es momentan so viele hilfsbereite und offene Menschen wie selten zuvor, wir müssen aufpassen, dass wir sie nicht überfordern.
Die Fragen stellte <link ipg unsere-autoren autor ipg-author detail author hannes-alpen _blank external link in new>Hannes Alpen.
20 Leserbriefe
Gerd Post
haben Sie vielen Dank für das interessante Interview.
Speziell zum Wort: "Wirtschaftsflüchtlinge"? Wieso ist das diskriminierend? Eine Umbenennung würde nicht den Tatbestand verändern. Es ist richtig, dass die meisten Menschen hierzulande sich sehr gut in die Situation de Wirtschaftsflüchtlinge einfühlen können. Aber ist es nicht Sache der Herkunftsländer, die als Beitrittsstaaten zur EU die Verpflichtung haben, ihre Menschen besser aufzuklären? Sie wissen doch besser als die meisten, dass ein Beitritsskandidat zur EU gewisse Standards erfüllen muss, zu denen jedenfalls nicht gehört, dass die Bevölkerung massenhaft und in großer Not flüchten muss.
Ihr Vorschlag, "Saisonarbeit" einzuführen, öffnet m.E. der Ausbeutung Tür und Tor und würde vermutlich die Situation verschärfen.
Im übrigen dürfen Sie sich vermutlich auf die Tausenden verlassen, die je in ihren Kommunen nicht nur "ehrenamtlich" tätig sind. sondern vor allem mit tiefem Mitgefühl. Diese Menschen sind nicht so leicht zu "überfordern" und sie brauchen den Staat nicht, um auf sich selbst aufzupassen. Ich betrachte das nicht als "Diskriminierung", aber als Entmündigung der vielen Helfer.
Mit Dank für Ihre Geduld und freundlichen Grüßen
Dr. Sieglinde Eva Tömmel
Man würde sich wünschen, dass sämtliche (politisch korrekten) Politiker, insbesondere der linksgrünen Parteienlandschaft endlich den Mut oder die Einsicht finden, die Probleme beim Namen zu nennen bzw. als solche zu erkennen. Wenn man einmal die Zahl von 800.000 durch 365 dividiert kommt man auf 2192. Wenn Frau Özoğuz äußert "tagtäglich kommen hunderte Flüchtlinge bei uns an" hat sie schlichtweg die Unwahrheit gesagt. 2192 kann man nicht Hunderte bezeichen. Sie muss sich also nicht wundern, wenn es in der Bevölkerung kein Vertrauen mehr in die politisch Handelnden gibt. Die noch immer vorherrschende Konzeptlosigkeit gibt auch Nervenstarken Anlass zur Sorge.
Auch die Hoffnung Vieler die glauben, das ganze Problem hätte bald ein Ende, ist hochgradig realitätsfremd. Selbst wenn wir alle Kriege der Welt auf einen Schlag beenden, wird allein der rasante Bevölkerungszuwachs in afrikanischen Ländern über Jahre hinaus für Druck sorgen, nach Europa "einzuwandern". Es beginnt gerade ein neues Zeitalter für das ein Name offiziell noch nicht gefunden ist.
Aus dem Bereich der Verkehrspolitik gibt es aber eine interessante Einsicht: Gut fliessender Verkehr zieht weiteren Verkehr an ! Als Reaktion auf diese Erkenntnis haben die meisten Kommunen ihre Ampelschaltung von der "grünen Welle" der 80er Jahre auf eine "rote Welle" umgestellt, d.h. Ampeln dienen heute nur noch sekundär zur Verkehrsregelung und sollen primär Verkehr verhindern. Dies geschieht in der Hoffnung, daß die Menschen dann auf die öffentlichen Verkehrsmittel umsteigen.
Die Geschehnisse auf dem Budapester Hauptbahnhof zeigen, daß es sich mit den Flüchtlingsströmen ähnlich verhält: So, wie es sich herum spricht, daß Deutschland grüne Welle für Flüchtlinge schaltet, so werden immer mehr Flüchtlinge Ihr Migrationsziel in Deutschland sehen. Die Rufe der Flüchtlinge in Budapest heute - "Germany, Germany" - deuten dies bereits an.
Mit einer Zuwanderung nach Deutschland von 800.000 oder mehr Menschen pro Jahr, wie von De Maiziere angekündigt, würde jedoch gesellschaftlich soviel Sprengstoff gelegt, daß eine weitere Radikalisierung und die verstärkte Anwendung von Gewalt seitens der Zuwanderungsgegner die Folge sein dürften. Dies ist immer die Folge, wenn man aufhört miteinader zu reden - Weimar lässt grüßen.
Das sollten die Zuwanderungsbefürworter bedenken, wenn sie jeden, der nicht vorbehaltlos für Zuwanderung ist, gleich als Rassisten beschimpfen und mit der braunen Keule niederknüppeln. Es wäre kein Verrat an ihrem Weltbild, auch mit dem politischen Gegner über einen Kompromiss zu diskutueren. Kluge Kompromisse sind bekanntermaßen die unverzichtbare Voraussetzung jeder Demokratie.
Der Versuch, neue Denk- und Sprechverbote der political correctness (
„Ich finde die Bezeichnung ‚Wirtschaftsflüchtlinge‘ abfällig.“) zu errichten, zielt m.E. leider genau auf die Unterdrückung des notwendigen Diskurses und wirkt in Richtung einer weiteren innergesellschaftlichen Eskalation
Diskussionsbeiträge, die nur meckern oder Probleme aufzeigen, bringen nichts. Wir sind alle gefordert, die Politiker und alle Bürger. Wie viele Deutsche sind aus wirtschaftlichen Gründen dorthin gegangen, wo sie mehr verdienen und besser leben können? Das gilt nicht nur Millionen Ostdeutsche, die zu DDR-Zeiten in den Westen flohen. Wir werden so lange große Flüchtlingsströme in unserem reichen Land erleben, wie Konflikte mit Kriegen gelöst werden sollen und Eltern nicht wissen, wie sie ihre Kinder satt bekommen. Durch Fernsehen und Internet ist die Welt zusammengerückt. Wenn unsere Kinder in Deutschland auch später in Frieden leben sollen, müssen wir heute gemeinsam an den Problemen arbeiten. Dazu können wir alle beitragen. Ich engagiere mich darum in einem Verein, der in Togo Menschen unterstützt, damit sie sich Perspektiven in ihrer Region erarbeiten. Diese Zusammenarbeit macht sogar Spaß und bereichert mein Leben.
Ich verstehe nicht, warum die Weltwirtschaftsordnung so gut wie nie thematisiert wird. Die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge kommen ja längst nicht alle vom Balkan.
Glücklich, wer Problem erkennt und daran arbeitet. Dieses Erkennen, was man auch als Weitsicht bezeichnen kann, schützt vor Schaden, kann sogar überlebenswichtig sein. Probleme erkennen ist in allen Lebensbereichen von Vorteil und hat die Menschheit weitergebracht. Diejenigen, welche Probleme nicht oder zu spät erkannt haben, hatten das Nachsehen. Wenn Probleme unterschätzt und kleingeredet werden, wie das im Moment (noch) der Fall ist, geschieht genau das, was wir gegenwärtig erleben und in den nächsten Jahren erleben werden. Warum soll das Aufzeigen der Probleme bei einem solch globalen gigantischen Umbruch nichts bringen?
Das deutsche Alleinstellungsmerkmal Willkommenskultur geht durch die gut vernetzten Asylbewerber und Schlepper rund um die Welt. Spruchbänder an den Sichtbarrieren der Erstaufnahmelager "Willkommen in Deutschland" befeuern den Asylbewerberstrom und erzeugen eher Probleme, als sie zu lösen. Deutschland kann nicht die ganze Welt aufnehmen. Kein anderes Land in Europa bewirbt die Willkommenskultur in dem Maße, wie hier. Was dabei herauskommt sehen und hören wir gerade auf den einzelnen Stationen der Balkanroute, die nach Deutschland führt.
Warum gehen Sie nach Togo, Herr Kuessner? Weil sie Probleme erkannt haben und an ihrer Beseitigung arbeiten wollen. Bravo für ihre Nächstenliebe und Hilfsbereitschaft.
Den Millionen Ostdeutschen, die zu DDR-Zeiten in den Westen geflohen sind, rein wirtschaftliche Gründe zu unterstellen, ist zynisch. Es fehlt jetzt nur noch der Vergleich mit den Millionen deutscher Flüchtlinge am Ende des Zweiten Weltkrieges.
Natürlich sollen wir (aber auch alle anderen einschließlich USA, Kanada,…) Kriegsflüchtlingen Asyl gewähren. Natürlich liegt dauerhafte Zuwanderung in unserem Interesse, die bedarf aber klarer Regeln wie das auch andere Länder geschafft haben. Die Zuwanderung einer großen Zahl nicht ausgebildeter und am Ende ggf. nicht integrationswilliger Menschen kann kein Erfolgsrezept werden. Im Moment versagt nicht nur die EU, sondern auch unsere Regierung, die uns nicht mitteilt, wie sie gedenkt, mit dem Problem umzugehen, statt nur organisatorische Fragen in den Mittelpunkt zu stellen.
Meinen Sie Ihre Worte wirklich ernst? Dann vergleichen Sie mal den Werdegang Amerikas mit dem Deutschlands und studieren Sie die Geschichte. Was ist denn eigentlich mit den Ureinwohnern Amerikas passiert? Mit denen müssten wir uns dann ja vergleichen: Die historische Geschichte der Amerikaner währt keine 400 Jahre, hingegen gab es die Germanen schon, als die Jahreszahlen noch 3stellig waren. Aber ich kann Sie beruhigen: was in Amerika heute an auf der Tagesordnung steht, importieren wir immer schneller nach Deutschland mit Ihrer Strategie. Also Rassenhass, Gewalt etc. Damit genau das, was Sie (hoffentlich) nicht wollen. Multikulti funktioniert auch in den USA nicht, wer das nicht sieht, ignoriert massiv Tatsachen.
Die Invasion an der nordafrikanischen Küste nimmt zu und wir werden nur über punktuelle Situationen dieser Invasion von Menschen, die eine neue Heimat suchen, informiert.
Bin mal gespannt wie die Politik sich parallel dazu entwickelt.
B. Hoffmann-Schmidt-Schmidt
Zukünftig sollten wir übrigens (auch die USA ...) darauf verzichten, andere Kulturen so weit zu destabilisieren, dass es immer mehr Flüchtlinge gibt, weil leidlich funktionierende Staatswesen zusammenbrechen. Unsere Art zu leben ist nicht der Maßstab, andere wollen anders leben.
Ich hoffe, die BR verhindert, dass die deutsche Gesellschaft ernsten Schaden nimmt.
Damit wäre wohl alles gesagt!