Emma Rees ist die nationale Organisationsleiterin der Graswurzelbewegung „Momentum“, die Jeremy Corbyn auf seinem Weg zum Labour-Vorsitzenden im Jahr 2015 maßgeblich unterstützte.
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Glauben Sie, dass die Momentum-Bewegung und ganz allgemein auch Jeremy Corbyns Wahlkampf mehr Frauen ermutigt hat, sich politisch zu engagieren?
Ja, auf verschiedene Weise, auch im Parlament selbst. Zum ersten Mal in der Geschichte besteht das Schattenkabinett aus mehr Frauen als Männern, und das ist sehr wirkmächtig und überzeugend. Es zeigt, dass Frauen auf der höchsten Ebene der Entscheidungsbildung vertreten sein müssen, und ist ein wichtiges Signal. Zudem geht aus allen Umfragen hervor, dass Corbyn bei Frauen beliebter ist als bei Männern. Das ist mehreren Faktoren geschuldet, aber vor allem der Tatsache, dass Jeremy Corbyn mit seinem Parteiprogramm unter anderem gegen die Austeritätspolitik vorgeht, von der Frauen unverhältnismäßig härter betroffen sind.
Ist es für Frauen einfacher, sich an politischen „Bewegungen“ wie Momentum zu beteiligen als an traditioneller Parteipolitik?
Es ist ein harter Kampf. Noch immer gibt es viele Barrieren, die einer Partizipation von Frauen im Weg stehen. Vielleicht ist es tatsächlich ein wenig leichter für Frauen, sich in Bewegungen zu engagieren, weil diese nicht so formal organisiert sind und die Frauen eher ihre Kinder mitbringen können. Diese Erfahrung haben wir auch bei Momentum gemacht. Wenn wir Veranstaltungen organisieren, versuchen wir immer, dafür zu sorgen, dass es einen betreuten Kinderbereich gibt. Wir organisieren die Veranstaltungen auch zu verschiedenen Zeiten, nicht nur abends, damit unterschiedliche Leute es neben der Versorgung ihrer Kinder und möglichen beruflichen Verpflichtungen einrichten können zu kommen. Und auch bei großen Sitzungen und Konferenzen ist die kostenlose Betreuung der Kinder immer gewährleistet.
Vielleicht ist es tatsächlich leichter für Frauen, sich in Bewegungen zu engagieren, weil diese nicht so formal organisiert sind und die Frauen eher ihre Kinder mitbringen können.
Das soll natürlich nicht heißen, dass sich Männer nicht um ihre Kinder kümmern und für sie verantwortlich sind, aber diese Aufgabe fällt immer noch häufiger den Frauen zu. Und so sind sie es oft, denen diese Organisationsweise zugutekommt. Nicht nur für Frauen, sondern auch für Behinderte und für andere Menschen, die – aus welchen Gründen auch immer – vom politischen Prozess ausgeschlossen sind, ist es wichtig, Zugang zu bekommen und mitwirken zu können. Wir hatten von Anfang an die Vorstellung, dass das ganze Momentum-Projekt nur funktionieren kann, wenn wir jede Menge neuer Leute zum Mitmachen mobilisieren, und diese auch das Gefühl haben, sich einbringen zu können. Sie müssen weder Politikwissenschaftler sein noch einen Uniabschluss vorweisen können oder alle Zeitungen gelesen haben.
Warum haben Sie sich damals entschieden, bei Momentum mitzumachen?
Im Vorfeld der Parlamentswahlen von 2015, als Ed Miliband noch Parteivorsitzender war, fand ich alles sehr frustrierend. Wir hatten fünf Jahre Koalitionsregierung von Tories (Konservativen) und Liberaldemokraten hinter uns, die eine massive Sparpolitik eingeführt hatten. Der Lebensstandard von vielen Menschen hatte sich erheblich verschlechtert; die Löhne waren eingefroren und es gab Kürzungen bei vielen öffentlichen Diensten, was das Leben vieler Menschen auf spürbare Weise beeinträchtigte. Aber trotz all dieser Probleme schien es der Labour Party nicht zu gelingen, Menschen zu aktivieren und eine Alternative zu bieten. Statt das Narrativ der Tories infrage zu stellen, sagten die Labour-Politiker immer wieder: „Na ja, auch wir werden natürlich Kürzungen vornehmen müssen, aber wir werden dabei umsichtiger vorgehen.“ Sie nahmen die von den Konservativen vorgegebene Debatte einfach so hin.
Zu der Zeit war ich Grundschullehrerin in einer sozial stark benachteiligten Gegend. Bei uns kamen die Kinder teilweise in die Schule, ohne gefrühstückt zu haben. Wir hatten Kinder mit extremen psychischen Problemen, die manchmal auf Vernachlässigung oder gar Missbrauch im Elternhaus zurückzuführen waren, manchmal auch darauf, dass die Familien keinen Zugang zu geeigneten Hilfs- und Unterstützungsmaßnahmen hatten. Das war für mich eine sehr politisierende Erfahrung. Man hatte wirklich das Gefühl, dass die Labour Party vom Kurs abgekommen war und nicht genug getan hatte, um den Menschen zu helfen.
Wie sind Sie dann aktiv geworden?
Ich hatte Jeremy Corbyn auf Anti-Kriegsdemonstrationen erlebt. Er ist sehr offen und geradeheraus. Als ich dann im Radio hörte, dass er für den Parteivorsitz der Labour Party kandidierte, beschloss ich, mich dafür zu engagieren. Es waren gerade Sommerferien, so dass ich etwas Zeit hatte, um als Freiwillige bei seinem Wahlkampf zu helfen. Als den Menschen klar wurde, dass er tatsächlich gewinnen könnte, kam es plötzlich zu diesem Energieausbruch. Es engagierten sich so viele Leute und es machte sich so viel Hoffnung breit – das war ansteckend. Da waren viele junge Menschen wie ich (ich war damals 27), aber auch ältere, die zur Zeit des Irakkriegs aus der Labour Party ausgetreten waren als Tony Blair an der Regierung war, und die jetzt zurückkamen. Daraus ist letztlich die Bewegung Momentum entstanden.
Dieses Jahr werden im Vereinigten Königreich „100 Jahre Frauenwahlrecht“ gefeiert. Wie ergeht es Frauen heute in der Politik?
In den letzten 100 Jahren haben wir zweifellos viele Fortschritte gemacht. Aber es ist immer noch viel zu tun. Im Vereinigten Königreich sind wir nach wie vor in einer Situation, in der Frauen überproportional von Sparmaßnahmen betroffen sind. Und das überschneidet sich noch mit Schicht, Ethnie und auch mit Behinderung. Wir haben zwar eine Premierministerin, aber ich glaube, dass mit Theresa May deutlich wird, dass es nicht reicht, eine Frau an der Spitze zu haben, obwohl ich natürlich überzeugt bin, dass es auf allen Entscheidungsebenen mehr Frauen geben sollte.
Im Vereinigten Königreich sind wir nach wie vor in einer Situation, in der Frauen überproportional von Sparmaßnahmen betroffen sind.
Nötig ist vielmehr ein politisches Programm, das für eine ausgewogenere Verteilung von Macht und Wohlstand sorgt und damit eine gerechtere Gesellschaft schafft.
Sie haben vorhin gesagt, dass die Austeritätspolitik Frauen unverhältnismäßig hart trifft. Kann man von Theresa May erwarten, eine frauenfreundlichere Politik durchzusetzen?
Ich habe nicht erwartet, dass Theresa May sich für eine bestimmte Politik einsetzt, bloß weil sie eine Frau ist. Ich schreibe ihr nicht mehr Verantwortung für das Parteiprogramm der Konservativen zu als einem männlichen Parteivorsitzenden. Tatsache ist, dass die Konservative Partei schon immer die Interessen der Reichsten in der Gesellschaft vertreten hat. Das entspricht ihrer Geschichte und ihrer Tradition. Heute behaupten sie etwas anderes von sich. Aber wenn man die Auswirkung ihrer marktorientierten Politik analysiert, wird deutlich, dass diese Politik zur Konzentration von Wohlstand und Macht in den Händen weniger geführt hat. Und das hat auch eine geschlechtsspezifische Dimension. Es ist also eher ein Problem der generellen politischen Ideologie der Konservativen.
Glauben Sie, dass in einer gerechten Gesellschaft 50 Prozent Frauen ins Parlament gewählt würden?
Unser Ziel ist die Schaffung einer Gesellschaft, in der jeder einzelne Mensch sein Leben selbstbestimmt gestalten und über seine Zeit nach eigenem Gutdünken verfügen kann. Aber so weit sind wir noch nicht. Als Lehrerin ist mir klar geworden, wie viel Unsinn wir als Gesellschaft immer noch an unsere Kinder weitergeben – Märchen und Kinderbücher, die Geschlechterstereotypen transportieren. Wir sagen unseren Kindern, dass „Jungen dies tun“ und „kleine Mädchen das tun“. In Abhängigkeit von ihrem Geschlecht geben wir ihnen bestimmte Spielzeuge und erwarten ein bestimmtes Verhalten von ihnen. All das übt einen gewaltigen Einfluss auf sie aus. Als Erwachsene glauben wir dann, uns frei zu entscheiden. Aber natürlich sind all unsere Entscheidungen von unseren früheren Erfahrungen geprägt.
Grundsätzlich denke ich, dass es Aufgabe der politischen Parteien und der Regierung ist, auf einer strukturellen Ebene die Situation von allen Menschen zu verbessern. Wir müssen die Barrieren beseitigen, die es Menschen erschweren, sich in Politik und Gesellschaft zu engagieren, und sie in ihren freien Entscheidungen einschränken.