In der Geschichte des Kapitalismus war die Industrialisierung immer der Motor für wirtschaftliche Entwicklung. Deshalb heißen hoch entwickelte Länder auch „Industrieländer“. Keine Region der Welt leidet stärker darunter, zu wenig Industrie zu haben, als Afrika. Zwar ist die Industrie in den verschiedenen afrikanischen Ländern (immerhin 54) unterschiedlich entwickelt, doch der Mangel auf dem Kontinent insgesamt ist auffällig. Es dürfte schwerfallen, ein großes international wettbewerbsfähiges Fertigungsunternehmen zu finden, das seinen Ursprung in Afrika hat.

Die fehlende Industrialisierung Afrikas erklärt weitgehend die wirtschaftliche Armut, die in den meisten Ländern des Kontinents noch immer herrscht. Mehr als 60 Prozent der Menschen in Subsahara-Afrika leben in extremer Armut, und 70 Prozent der Arbeitnehmer müssen mit unsicheren Arbeitsplätzen vorliebnehmen: Sie arbeiten in ungeregelten Beschäftigungsverhältnissen oder bewirtschaften Land. Die Industrialisierung würde den afrikanischen Bürgerinnen und Bürgern ein verlässlicheres Einkommen und beständigere Arbeitsplätze bringen. Auf diese Weise hat China, das gern als „Fabrik der Welt“ bezeichnet wird, in den letzten 30 Jahren mehr Menschen aus der Armut geholt als der Rest der Welt zusammengenommen.

Zwar herrscht unter den Ökonomen große Einigkeit darüber, dass die Entwicklungsländer mehr Industrie brauchen, doch über das Wie tobt seit Ewigkeiten ein Streit. Soll der Staat eingreifen und seine nationale Industrie unterstützen oder verteilt der freie Markt die Ressourcen wirksamer? Nirgends wird diese Debatte intensiver geführt als in Afrika, wo Regierungen regelmäßig vorgeworfen wird, sie seien korrupt, despotisch, ineffizient und überbürokratisch und könnten daher keine erfolgreiche Industriepolitik gestalten.

Frei, aber kostspielig

Dass heute weltweit der Trend eher zu freien Märkten geht, spiegelt sich in der Beliebtheit internationaler Handelsabkommen wider. Die Welthandelsorganisation (WHO) hat offiziell die Aufgabe, ihre Mitgliedstaaten zur Beseitigung protektionistischer Handelsschranken anzuhalten; das sind etwa Zölle auf importierte Waren und staatliche Subventionen für nationale Unternehmen.

Verfechtern des Freihandels zufolge sind protektionistische Maßnahmen häufig ineffizient und erfolglos und verhindern eine optimale Ressourcenverteilung. Durch die Abschaffung von Handelsschranken seien Länder in der Lage, sich auf Produktion und Handel mit den Erzeugnissen zu spezialisieren, die sie „von Natur aus“ am besten herstellen können. Unter den Bedingungen des freien Handels hätten die Länder angeblich einen „komparativen Vorteil“ in Produktion und Handel.

Diese Argumentation weist jedoch ernsthafte Schwächen auf. Unter dem Freihandel wurde in armen Ländern die Produktion von „Arme-Länder-Waren“ forciert, während die reichen Länder „Reiche-Länder-Waren“ herstellen. Ob ein Land Kartoffelchips oder Computerchips produziert, wirkt sich auf seinen gesamtwirtschaftlichen Wohlstand aus. Hightech-Produkte sind auf dem internationalen Markt mehr wert und heben die Löhne und den Lebensstandard. Produziert werden sie in den reichen Ländern.

Wie also haben es diese Länder, die Reiche-Länder-Waren herstellen – die Industrieländer von heute – geschafft? Indem sie sich den Regeln des Freihandels widersetzten und ihre „jungen Industrien“ förderten: Der Staat schützte und unterstützte Branchen, die als wichtig für den wirtschaftlichen Wohlstand des Landes galten, bis sie auf dem internationalen Markt wettbewerbsfähig waren. Der Erste, der diesen Ansatz der Förderung junger Industrien systematisch verfolgte, war Alexander Hamilton, der erste Finanzminister der Vereinigten Staaten. Er erkannte, dass das produzierende Gewerbe in den USA nur mit staatlicher Unterstützung oder, wie er es nannte, „patronage“ (Protektion) eine Chance hatte, zu der damals führenden Industriemacht Großbritannien aufzuschließen. Ausgehend von Hamiltons Ideen entwickelten sich die USA zu einer Bastion des Protektionismus. Zwischen 1816 und dem Zweiten Weltkrieg erhoben sie den weltweit höchsten Durchschnittszoll auf Importe.

Gegner des Protektionismus wettern nicht nur gegen Importzölle, sondern auch gegen staatliche Subventionen für inländische Firmen. Nach der raschen Industrialisierung der asiatischen Tigerstaaten – Hongkong, Singapur, Südkorea und Taiwan – zwischen 1960 und 1990 wurde intensiv darüber diskutiert, wie stark der Protektionismus das Wirtschaftswachstum beeinflusste. Die Hohepriester des Freihandels behaupten, der Erfolg dieser Länder erkläre sich aus ihrer Teilhabe am internationalen Handel. Tatsächlich weiteten die Tigerstaaten ihre Exporte massiv aus. Aber sie bedienten sich dafür einer cleveren Methode: Firmen, die nach staatlichem Willen international wettbewerbsfähig werden sollten, erhielten Subventionen (oder Vergünstigungen) und mussten im Gegenzug ein bestimmtes Betriebsergebnis erreichen. Die verstorbene Ökonomin Alice Amsden bezeichnete dieses Vorgehen als „reziproken Kontrollmechanismus“ (RCM).

Der Löwe lernt das Brüllen

Auch mehrere afrikanische Länder experimentierten in den 1960er und frühen 1970er Jahren mit protektionistischen Maßnahmen, erzielten damit aber kaum spürbare Erfolge. Dass positive Ergebnisse ausblieben, wird oft dem mangelhaften reziproken Kontrollmechanismus angelastet. Aber das bedeutet nicht, dass Protektionismus in Afrika zum Scheitern verurteilt wäre. Äthiopien, die Volkswirtschaft des Kontinents, die nun schon seit über einem Jahrzehnt am schnellsten wächst, schützt und fördert ihr produzierendes Gewerbe mit innovativen Methoden. Mit steigenden Exporten sinkt beispielsweise für ein Unternehmen der Zinssatz für einen Kredit der Äthiopischen Entwicklungsbank. Auch erhebt der Staat hohe Zölle auf Importe, die auf dem heimischen Markt verkauft werden, und räumt Unternehmen, die ihre gesamte Produktion exportieren, Steuernachlässe ein. Solche protektionistischen Maßnahmen sind denen in Ostasien Anfang der 1960er-Jahre durchaus ähnlich.

Doch Äthiopien ist (noch) kein Mitglied der WHO. Das verschafft dem Land einen enormen Vorteil, denn alle WHO-Mitgliedstaaten werden angehalten, ihre Zölle zu senken, und Export-Subventionen sind streng untersagt. Die WHO behauptet, die Beseitigung von Handelsschranken hebe durch mehr internationalen Handel global den Wohlstand. Wie die WHO bin ich ein großer Verfechter des internationalen Handels. Aber machen wir uns nichts vor: Die Strategie der WHO folgt nicht nur diesem Grundprinzip. Sie dient auch den Interessen einer gewaltigen Lobby mächtiger transnationaler Konzerne, die sich den Wettbewerb durch Firmen in Entwicklungsländern vom Hals schaffen wollen.

Ich rufe die Staats- und Verwaltungschefs afrikanischer Länder auf, sich auf die Lektionen aus der Geschichte zu besinnen: Protektionismus kann scheitern, aber ohne protektionistische Maßnahmen können junge Industrien international nur schwer wettbewerbsfähig werden. Auch diejenigen afrikanischen Regierungen, die sich für Protektionismus aussprechen, sind wegen der Vorgaben internationaler Handelsabkommen leider starken Beschränkungen unterworfen. Deshalb müssen wir auf Organisationen wie die WHO Druck ausüben, damit sie den Entwicklungsländern von heute dieselbe handelspolitische Autonomie zugesteht, die Anfang des 19. Jahrhunderts die USA genossen: die Autonomie, ihre jungen Industrien zu fördern und zu schützen.