„Putin findet neue Freundin“, so betitelte n-tv im April seine Berichterstattung zum Russland-Besuch der argentinischen Präsidentin Cristina Fernández de Kirchner. Tatsächlich verlief das Treffen harmonisch und endete mit der Erklärung zur Aufnahme einer „umfassenden strategischen Partnerschaft“ zwischen Argentinien und Russland. Der jüngste Aufenthalt der argentinischen Präsidentin in Moskau ist nur ein weiteres Beispiel dafür, wie unrealistisch und auch ignorant die Diskussion des vergangenen Jahres über einen möglichen Ausschluss Russlands aus der G20 waren. Auch die Erwartungen Europas und der USA, Lateinamerika würde sich an den Sanktionen des Westens gegenüber Russland beteiligen oder werde von substituierenden Lieferungen seiner Agrarprodukte absehen, war naiv. Hier zeigt sich, wie sehr im Westen die internationale Lage verkannt wird. Es ist nicht Lateinamerikas Auseinandersetzung, die derzeit mit Putin geführt wird.

Generell werden die Konflikte des Westens in Lateinamerika nicht als eigene Konflikte wahrgenommen; Moskau, Teheran oder Peking gelten nicht als Widersacher, sondern eher als Verbündete bei der Suche nach einer neuen Weltordnung. Sicher lässt sich dies auch mit der geographischen Distanz Lateinamerikas zu den Konfliktherden dieser Welt erklären. Schwerer aber wiegen die inhaltlichen Differenzen in geostrategischen Fragen. Zudem sind in Lateinamerika die eigenen leidvollen Erfahrungen mit der westlichen Doppelmoral in Fragen von Demokratie und Menschenrechten noch sehr präsent. Wenn die Region häufig als dritte Säule des atlantischen Dreiecks der westlichen Zivilisation angeführt wird, so liegt dem ein Irrtum zugrunde. Der Westen gilt auch in Lateinamerika eher als Ursprung von Unterdrückung und Fehlentwicklung denn als Partner. Einflussreiche Gruppen insbesondere im linken Lager verbitten sich entsprechend eine Vereinnahmung des Westens.

 

Überwiegend die alten Eliten sind weiterhin an Nord-Süd-Beziehungen interessiert

Lateinamerika hat sich mehrheitlich bis heute nicht identifiziert mit dem universellen (und universalistischen) Strukturanspruch des Westens. Die Unzufriedenheit mit der bestehenden Weltordnung ist hier ähnlich groß wie in Afrika oder Asien. Schon der Begriff der „internationalen Gemeinschaft“ konnte sich nie durchsetzen; als Teil derselben fühlt zumindest die Linke Lateinamerikas sich schon gar nicht – kein Wunder, wurde sie doch auch nie gefragt, was diese internationale Gemeinschaft im Kern denn eigentlich ausmachen solle. Allenfalls Konservative und Rechte verstehen sich heute als Teil des Westens; es ist Teil ihrer Identität, dient es ihnen doch zur Elitenbildung und zur Abgrenzung gegenüber aufstrebenden politischen und gesellschaftlichen Akteuren wie der Indigenenbewegung. Es sind entsprechend überwiegend die alten Eliten, die weiterhin vorrangig an den Nord-Süd-Beziehungen interessiert sind. Doch auch sie legen die Vasallentreue vergangener Zeiten nicht mehr an den Tag. Früher kam es in der Region noch zum Streit zwischen den „occidentalistas“ und den „tercermundistas“. Inzwischen aber wird die nationale und regionale Souveränität auch von Konservativen als wichtige Errungenschaft wertgeschätzt.

Die westlichen Werte wie Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Gleichheit, Individualismus und Toleranz prägen Lateinamerika zwar, völlig durchgesetzt haben sie sich aber nicht. Abgesehen von Kuba ist die gesamte Region demokratisch regiert; auch die kapitalistische Marktwirtschaft ist bei aller Varianz der unterschiedlichen Ausprägungen vorherrschend. Die (Re-)Demokratisierung Lateinamerikas erfolgte aber nur teilweise im Namen des Liberalismus. Die Rechtsstaatlichkeit konnte sich bis heute in der Region nur partiell durchsetzen. Die Probleme der Region wie die große soziale Ungleichheit oder verbreitete Straflosigkeit basieren nicht auf der Hinterfragung westlicher Werte. Und doch sind die Probleme Zeugnis dafür, dass diese Werte nie vollständig den Durchbruch schafften. Zudem stehen genau diese Werte auch immer wieder im Verdacht, nur als zivile Camouflage westlichen Machtstrebens herhalten zu müssen.

 

Westliche Werte werden in der Außenpolitik nicht als orientierungsleitend angesehen

Zum Vorrang der Menschenrechte bekennt sich die Linke Lateinamerikas uneingeschränkt. Defizite in der eigenen Region, so im Falle Kubas oder aktuell Venezuelas, werden allerdings nicht kritisch in Frage gestellt. Nicht immer agiert man hier glaubwürdig. Kritik an der Scheinheiligkeit des Westens ist fraglos berechtigt, das dezente Hinwegschauen über die Menschenrechtsverletzungen in befreundeten Staaten aber beeinträchtigt die eigene Legitimität. Ein schlechtes Gewissen aber sollten gerade die Europäer den Lateinamerikanern nicht machen. Europa und Lateinamerika bräuchten einander prinzipiell, um die „soft interests“ einflussreich auch in anderen Regionen bewerben zu können. Dazu müsste Europa sie aber erstmal selbst glaubwürdig vertreten. Ein erster Schritt wäre es, sich zur eigenen Doppelmoral zu bekennen. Denn immerhin wird die Mischung aus einem Bekenntnis zu den Menschenrechten einerseits und der Nichteinmischung bei Menschenrechtsverletzungen in anderen Ländern andererseits in Lateinamerika stringent angewandt. Insofern ist diese Haltung zumindest konsequent. Die westlichen Werte werden zwar geteilt und betont, in der Außenpolitik aber nicht als orientierungsleitend angesehen. In Russland oder China, im Iran oder in der Türkei die Durchsetzung der Versammlungsfreiheit oder die Rechte einer freien Presse anzumahnen, käme lateinamerikanischen Regierungsvertretern nicht in den Sinn. Sie würden es als Anmaßung empfinden. Zudem orientieren sich außenpolitische Schwerpunkte in erster Linie daran, ob sie mit dem Entwicklungsmodell kohärent sind.

 

Um ideologische Aspekte geht es nur nachrangig

Ideologie ist in Lateinamerika wichtig für die Diskursebene, für die praktische Ebene aber ungleich weniger bedeutsam. Nur die extreme Linke ist noch stark ideologiegeleitet und dem Freund-Feind-Schema des Kalten Krieges verhaftet – der Feind ist hier klar der Westen. Allerdings befindet sie sich im Niedergang – wer kann heute in der Region noch als extrem links bezeichnet werden? Der Westen dagegen hebt entrüstet den Zeigefinger, wo der Gegner dies zulässt und schaut verschämt zur Seite, wo Realpolitik, strategische Interessen oder wirtschaftliches Kalkül danach verlangen. So zumindest sehen es – im Einklang mit weiten Teilen des globalen Südens – die Lateinamerikaner. Sie kaufen dem Westen sein Bekenntnis zur Universalität der Menschenrechte nicht mehr ab. Ihrer Auffassung nach nutzt der Westen die Menschenrechte als Vehikel, um Interventionen zu rechtfertigen oder die bestehende Weltordnung zu seinen Gunsten aufrechtzuerhalten.

Der Umgang mit den Flüchtlingen in Europa, das Gefangenenlager in Guantanamo, die Unterstützung autoritärer Regime im Nahen Osten inklusive lukrativer Waffengeschäfte – der Westen muss zunächst einmal seine eigene Glaubwürdigkeit auf dem Feld der Menschenrechte wieder herstellen, will er die Lateinamerikaner als strategische Partner auf seine Seite ziehen und ihrerseits zu mehr Kohärenz verpflichten. Gelänge dies, wäre es für beide Seiten gewinnbringend. Schaffen die Europäer es nicht, diesen Nord-Süd-Beziehungen neue Dynamik zu verleihen, so werden sie die Lateinamerikaner als Partner mittelfristig abschreiben müssen. Und selbst dann sind nur themengebundene Ad-hoc-Allianzen möglich – als enger Verbündeter im Rahmen pro-westlicher Globalisierungsvorstellungen fällt Lateinamerika aus. Die Lateinamerikaner möchten das vom Westen angelegte internationale System korrigieren und sehen sich hier an der Seite Asiens und Afrikas. Bei der Realisierung einer Agenda für eine friedliche und gerechte Weltordnung sehen sie wesentlich größere Übereinstimmungen mit den Ländern des globalen Südens als mit dem Westen.

Lateinamerika lässt sich für die Anliegen der Europäer nur  gewinnen, wenn die berechtigten Anliegen der Region endlich Ernst genommen werden – ein Schlüssel wäre hier die Reform der supranationalen Institutionen, allen voran der Vereinten Nationen und des Internationalen Währungsfonds. Zudem sollte der Westen das Potential Lateinamerikas zur Vermittlung in bestehenden Konflikten anerkennen. Doch auch dieser Schritt verlangt nach einer toleranteren und ja, auch demütigeren Haltung der westlichen Staaten. Bringt man heute das Gespräch mit Brasilianern darauf, ob sie nicht beispielsweise im Fall der Ukraine zwischen Russland und dem Westen vermitteln könnten, so winken sie ab. Zu präsent sind noch die demütigenden Reaktionen auf die gemeinsame Initiative Brasiliens und der Türkei zur Vermittlung im Atomkonflikt mit dem Iran im Jahre 2010. Behindert wurde der Konpromiss insbesondere in Washington, doch auch aus Europa kam nicht die nötige Unterstützung. Doch in einer sich immer rascher wandelnden Weltordnung wird man sich eine solche Mischung aus Arroganz und Ignoranz nicht mehr lange leisten können.