Die Folgen der Digitalisierung auf den Arbeitsplatz ausschließlich am Verlust oder der Schaffung von Arbeitsplätzen zu messen, ist eine sehr einseitige Betrachtungsweise. Auf der Grundlage dieser Folgenabschätzung kann man lediglich die Aussage treffen, ob die Digitalisierung „gut“ oder „schlecht“ ist. Den Gewerkschaften wird jetzt zunehmend bewusst, dass dies mehr oder weniger einem Blick in die Kristallkugel gleichkommt, insbesondere wenn sie nicht wissen, welche Technologien konkret eingeführt werden sollen. Deshalb erachten sie es als wichtig, einen proaktiveren Ansatz zu verfolgen.

Beispielsweise hat der Europäische Gewerkschaftsverband für den Öffentlichen Dienst (EGÖD), der etwa acht Millionen Beschäftigte des öffentlichen Dienstes vertritt, ein Debatte darüber angestoßen, wie man den Beschäftigten dabei helfen kann, ihre zukünftigen Arbeitsplätze zu gestalten. Die Gewerkschaften wollen sie vorausschauender auf die Einführung digitaler Technologien reagieren und sicherstellen, dass die Beschäftigten ein Mitspracherecht darüber haben, wie eine neue Technologie eingesetzt wird.

Klare Regelungen werden dazu beitragen, Grenzen zu ziehen, um sicherzustellen, dass die Manager nicht von den Beschäftigten verlangen können, ständig für sie erreichbar zu sein.

Grob gesagt, haben die Gewerkschaften bislang meist erst dann reagiert, wenn entsprechende Technologien bereits eingeführt waren. Die EGÖD wird sich auch weiterhin mit neuen Technologien am Arbeitsplatz auseinandersetzen und will jetzt die Tarifverhandlungen zu einem Schlüsselinstrument für den Schutz von Arbeitnehmerrechten im Zusammenhang mit der Digitalisierung machen. Eine wesentliche Forderung der EGÖD ist, dass die Arbeitgeber ihre Belegschaften vor der Einführung neuer Technologien informieren und Rücksprache mit ihnen halten.

Mit dieser Herangehensweise will die Gewerkschaft jegliche negativen Auswirkungen von Technologie ausschließen (etwa den Eingriff in die Privatsphäre der Beschäftigten, eine Leistungsbeurteilung anhand von Algorithmen; zudem will sie den Verlust von Arbeitsplätzen verhindern beziehungsweise die Umstrukturierung in Unternehmen voraussehen, bevor es zum Verlust von Arbeitsplätzen kommt). So kann sie sicherstellen, dass die Technologie sowohl zur Entwicklung des Unternehmens als auch der von Beschäftigten beiträgt.

Die Einführung von Technologie demokratisieren

Unite, die mit 1,42 Millionen Mitgliedern aus fast allen Branchen größte Gewerkschaft Großbritanniens, unternimmt hier mit einer neuen Vereinbarung einen Vorstoß. Im aktuellen Entwurf ist vorgesehen, dass die Einführung neuer Technologien mit beiderseitiger Zustimmung von Arbeitgebern und Gewerkschaften erfolgen soll. Das würde die Einrichtung eines „Fonds für neue Technologien“ (New Technology Fund) beinhalten, um die Arbeit eines neuen Unterausschusses zu finanzieren und zu verbreiten. Dieser Ausschuss würde sich ausschließlich aus Mitgliedern der Belegschaften zusammensetzen.

Der Unterausschuss kann bei Bedarf qualifizierte Sachverständige über die neue Technologie und ihre Auswirkungen zu Rate ziehen, um anschließend die Belegschaft über die Erkenntnisse zu informieren und dazu beizutragen, die sich ergebenden Probleme zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern zu lösen. Die Mitglieder des Unterausschusses werden sich mit den Auswirkungen auf die Arbeitskräfte beschäftigen, und zwar vor und nach der Einführung der jeweiligen Technologie. Zu den Aufgaben des Ausschusses gehört es auch, die neue Technologie zu prüfen und die Arbeitgeber über Beschwerden von Arbeitskräften und alle sich daraus ergebenden Probleme in Kenntnis zu setzen.

Die Gewerkschaft Unite verhandelt derzeit mit verschiedenen staatlichen Einrichtungen und privatwirtschaftlichen Unternehmen über diese Vereinbarung. Im Prinzip ist das eine hervorragende Idee, die in ganz Europa übernommen und angewendet werden könnte. Die Gewerkschaften könnten dabei helfen, Probleme im Zusammenhang mit digitaler Technologie im Vorfeld zu erkennen, und zur Problemlösung beitragen. In der Praxis muss sich jedoch erst erweisen, wie gut diese Vereinbarung funktionieren wird. Werden sich die Arbeitgeber wirklich darauf einlassen? Wieviel Geld wird für den neuen Technologie-Fonds gebraucht und woher soll das Geld kommen? Außerdem sind spezifischere Regelungen erforderlich, wie die Entscheidungen über die Einführung neuer Technologie letztlich gefällt werden. Was würde im Fall von Uneinigkeit zwischen dem neuen Technologie-Unterausschuss und dem Arbeitgeber passieren?

Das Recht auf Ausschalten

Beschäftigte im öffentlichen und privaten Sektor sind zudem mit dem Problem konfrontiert, dass digitale Technologien in Form von E-Mails oder Nachrichten über WhatsApp immer mehr in ihr Privatleben eingreift. Die EGÖD beschäftigt sich beispielsweise gerade mit den Fragen, wie sicherzustellen ist, dass Beschäftigte das Recht auf Abschalten haben; dass es klare Abgrenzungen zwischen Arbeit und Freizeit gibt und nicht die Erwartung im Raum steht, dass die Beschäftigten jederzeit die E-Mails oder WhatsApp-Nachrichten der Unternehmensleitung lesen und beantworten.

In Frankreich analysieren die Gewerkschaften schon seit 2015 die Probleme der Digitalisierung und überlegten beispielsweise, wie ein „Recht auf Abschalten“ durchgesetzt werden könnte. Fünf große Gewerkschaften beteiligten sich an der Erarbeitung eines von der damaligen Arbeitsministerin Myriam El Khomri in Auftrag gegebenen Gutachtens über Arbeit und digitale Veränderungen. Das darin genannte „Recht auf Abschalten“  als eine von mehreren Empfehlungen wurde 2017 schließlich gesetzlich verankert.

Unternehmen mit über 50 Beschäftigten und einer gewerkschaftlichen Vertretung sind jetzt gezwungen, das Recht der Beschäftigten, „nicht ständig erreichbar“ zu sein (beziehungsweise das Recht, die digitalen Kommunikationsmittel auszuschalten), in die obligatorischen jährlichen Verhandlungen mit den Gewerkschaften aufzunehmen, insbesondere in die Verhandlungen über Geschlechtergleichstellung und Lebensqualität. Mit der Forderung, Vereinbarungen über die Nutzung der neuen Kommunikationsmittel zu treffen, zielt das Gesetz darauf ab, dass bestimmte Zeitfenster ausschließlich Ruhe- und Urlaubszeiten vorbehalten sind. In Gewerkschaften in ganz Europa wird jetzt debattiert, wie dieses Recht eingeführt und durchgesetzt werden könnte, etwa per Gesetzgebung oder mittels Tarifverhandlungen.

Das ist ein überaus wichtiger Punkt für den öffentlichen und privaten Sektor in ganz Europa. Klare Regelungen werden dazu beitragen, Grenzen zu ziehen, um sicherzustellen, dass die Manager nicht von den Beschäftigten verlangen können, ständig für sie erreichbar zu sein. Eine Arbeitskultur, in der von Beschäftigten erwartet wird, rund um die Uhr erreichbar zu sein und in ihrer Freizeit auf Nachrichten zu reagieren, wird fast zwangsläufig zu einer Verwischung der Grenzen zwischen Berufs- und Privatleben führen. Dies hätte nachteilige Folgen: Vermehrte Burnout-Symptome bei den Beschäftigten sowie verminderte Produktivität und wirtschaftliche Einbußen bei Einrichtungen des öffentlichen Sektors und privatwirtschaftlichen Unternehmen.

Schulung in digitalen Fertigkeiten

Die Gewerkschaften müssen aber nicht nur die möglichen negativen Auswirkungen von neuen Technologien auf die Arbeitsplätze verhindern, sondern auch die EU und ihre Mitgliedstaaten dazu drängen, die Verfügbarkeit von digitalen Kenntnissen durch Aus- und Weiterbildungssysteme zu erweitern. In einem kürzlich vom European Social Observatory, einem Forschungszentrum für Sozialpolitik und Beschäftigung, veröffentlichten Bericht wird die erste, 2016 in Frankreich unterzeichnete Vereinbarung über Digitalisierung – die erste dieser Art in Europa – vorgestellt. Die zwischen den Sozialpartnern in einer Telekommunikationsgruppe ausgehandelte Vereinbarung sieht die Einrichtung eines Komitees vor, dessen Aufgabe darin besteht, die neuen Fähigkeiten zu ermitteln, die Beschäftigte aufgrund der digitalen Entwicklungen brauchen werden.

Das ist ein hervorragender Weg, um sicherzustellen, dass die Gewerkschaften in Zusammenarbeit mit Arbeitgebern digitale Kenntnisse identifizieren und dafür sorgen, dass die Beschäftigten die entsprechende Weiterbildung erhalten. Das ist von Vorteil für die Arbeitgeber, weil ihre Arbeitskräfte dadurch produktiver werden, und von Vorteil für die Arbeitskräfte, weil sie zusätzliche Fertigkeiten erwerben. Das erhöht ihre Arbeitsplatzzufriedenheit und verbessert ihre Jobaussichten sowohl innerhalb des Unternehmens als auch auf dem Arbeitsmarkt, falls sie sich entscheiden, das Unternehmen zu verlassen.

In den Niederlanden hat der Gewerkschaftsbund FNV eine innovative Art an Vereinbarung entwickelt, die sogenannte Duurzame Inzetbaarheid – Plus (DI+) (Nachhaltige Beschäftigung Plus). Diese ist darauf ausgerichtet, schon im Vorfeld auf mögliche Arbeitsplatzverluste zu reagieren. Das funktioniert folgendermaßen:

Der Arbeitgeber schult die betreffenden Arbeitskräfte bei fortlaufender Bezahlung um, damit sie neue Rollen im Unternehmen finden können und nicht entlassen werden müssen. Ein gutes Beispiel für diese Art Übereinkünfte ist eine ausgehandelte Vereinbarung mit Enexis, einem für die Überwachung und Steuerung der Stromversorgung in den Niederlanden zuständigen Netzbetreiber. Seitdem sie 2014 in Kraft trat, haben schon mehrere Hundert Beschäftigte an DI+-Programmen teilgenommen. Die Folge ist, dass es in dieser Zeit keinerlei Entlassungen gab. Ähnliche Vereinbarungen wurden jetzt auch mit anderen großen Unternehmen im Energiesektor unterzeichnet, und zwar mit TenneT und Alliander.

Auch mit etwas Abstand und aus einem breiteren Blickwinkel betrachtet, wirken viele der Denkansätze der Gewerkschaften – einschließlich der zu neuen Technologie-Vereinbarungen, zum Recht auf Abschalten und der Schulung in digitalen Fertigkeiten – sehr vernünftig und sind sowohl auf den öffentlichen Sektor als auch die Privatwirtschaft anwendbar. Sie könnten darüber hinaus dafür sorgen, dass die Beschäftigten in der derzeit ziemlich unkontrollierten Plattformökonomie bestimmte Grundrechte erhalten. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie diese Ideen von den Gewerkschaften erkämpft und in die Praxis umgesetzt werden können und inwieweit sie von den Arbeitgebern akzeptiert werden.