Im Zuge der derzeitigen Krise haben sich die tarifpolitischen Handlungsbedingungen der Gewerkschaften europaweit weiter verschlechtert. Dies liegt zum einen an den generell ungünstigen konjunkturellen Rahmenbedingungen. In der Mehrzahl der europäischen Länder herrscht nach wie vor geringes Wachstum und hohe Arbeitslosigkeit. Dies aber liegt vor allem auch am derzeitigen EU-Krisenmanagement, das mit seinem einseitigen Fokus auf Austeritätspolitik und neoliberalen „strukturellen Reformen“ zusätzlichen Druck auf die Lohnentwicklung und bestehende Flächentarifvertragssysteme ausübt.
Ausgangspunkt der EU-Reformpolitik ist die Annahme, dass es sich bei der derzeitigen Krise primär um eine Krise der preislichen Wettbewerbsfähigkeit handelt. In deren Kontext können die Defizitländer ihre Wettbewerbsnachteile nur durch eine Senkung der Lohnstückkosten beheben. Dieser Strategie der „internen Abwertung“ folgend geht es dabei vor allem um die Durchsetzung einer moderaten Lohnentwicklung und eine Flexibilisierung der Tarifvertragssysteme. Flexibilisierung heißt dabei aber zugleich immer auch Dezentralisierung.
Lohnpolitischer Interventionismus
Die Umsetzung dieser Strategie erfolgt primär über zwei Instrumente, die es den europäischen Entscheidungsträgern ermöglichen, in bisher nicht gekanntem Ausmaß direkt in die nationale Lohn- und Tarifpolitik der jeweiligen Länder einzugreifen. Dies geschieht, obwohl der EU-Vertrag explizit jegliche Kompetenzen der EU im Bereich der Tarifpolitik ausschließt. Die lohnpolitische Intervention erfolgt zum einen über länderspezifische Empfehlungen im Rahmen des Europäischen Semesters. Sicher, die länderspezifischen Empfehlungen sind bisher rechtlich nicht verbindlich. Doch durch die im neuen System der europäischen Economic Governance vorgesehenen Möglichkeiten von finanziellen Sanktionen im Falle der Nichteinhaltung haben sie faktisch zunehmend verbindlichen Charakter. Das zweite Instrument der lohnpolitischen Intervention sind bilaterale Vereinbarungen zwischen nationalen Regierungen und der Troika – aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und dem Internationalen Währungsfonds. In diesen sogenannten „Memoranda of Understanding“ verpflichten sich nationale Regierungen im Gegenzug zu finanzieller Unterstützung zur Durchführung bestimmter Reformen.
Lohnpolitische Empfehlungen im europäischen Semester
In den vergangenen vier Jahren waren 19 der 28 EU-Mitgliedsstaaten von tarifpolitischen Interventionen betroffen. 13 Länder erhielten länderspezifische Empfehlungen. Diese forderten in der Mehrzahl der Fälle recht vage eine Dezentralisierung der Tarifverhandlungen (Belgien, Italien und Spanien), moderate Mindestlohnzuwächse (Frankreich, Portugal und Slowenien) sowie generell eine moderate Lohnentwicklung (Belgien, Bulgarien und Kroatien) ein. Ein Klassiker ist auch die regelmäßige Aufforderung von Belgien, Luxemburg, Malta und Zypern, ihr System der automatischen Lohnindexierung zu reformieren oder abzuschaffen. Spezifischere Empfehlungen erhielten lediglich Schweden und Deutschland. Stockholm wurde im Jahr 2012 aufgefordert, eine höhere Lohnspreizung am unteren Ende der Lohnskala sicherzustellen – also de-facto den Niedriglohnsektor auszuweiten.
In den vergangenen vier Jahren waren 19 der 28 EU-Mitgliedsstaaten von tarifpolitischen Interventionen betroffen.
Berlin wurde wiederholt aufgefordert sicherzustellen, dass die Lohnentwicklung mit der Produktivität Schritt hält – eine Forderung, die angesichts der moderaten Lohnentwicklung in Deutschland de-facto als Appell für höhere Löhne interpretiert werden kann. In diesem Jahr wurden mit Belgien, Italien und Kroatien drei weitere Länder darauf verwiesen, dass sich die Löhne im Einklang mit der Produktivität entwickeln sollten. In diesen drei besteht die Intention jedoch darin, für moderate Lohnzuwächse zu sorgen. Denn die Kommission fordert, dass die nominalen Löhne der realen Produktivität folgen sollen und zwar ohne Inflationsausgleich. Damit war Deutschland das einzige Land mit einer nachfrageorientierten Lohnempfehlung. In allen anderen Fällen folgten die Empfehlungen der angebotsseitigen Strategie der internen Abwertung, die Löhne lediglich als Kostenfaktor wahrnimmt.
Tarifpolitische Eingriffe der Troika
Die weitreichendsten und sehr viel spezifischeren tarifpolitischen Interventionen gab es jedoch in den sogenannten „Programmländern“. Zum Standardprogramm gehörten in Griechenland, Irland und Portugal Lohnkürzungen und Lohnstopps der Gehälter im öffentlichen Dienst. Natürlich zur Senkung der öffentlichen Ausgaben und der Reduzierung des Staatsdefizits. Die weitreichendsten direkten Kürzungen fanden zwischen 2009 und 2013 mit 30 Prozent in Griechenland statt. Um jedoch das wahre Ausmaß der Kürzung des verfügbaren Einkommens zu erfassen, müssen auch die Kürzungen der zusätzlichen Leistungen wie zum Beispiel das 13./14. Monatsgehalt oder Zuschüsse für Mieten, Arzneimittel und Verpflegung berücksichtigt werden. In Portugal zum Beispiel wurden 2011 die Löhne im öffentlichen Dienst um durchschnittlich fünf Prozent gekürzt. Da jedoch 2012 und 2013 zusätzlich das 13. und 14. Monatsgehalt abgeschafft bzw. gekürzt wurde und darüber hinaus zwischen 2010 und 2013 ein Lohnstopp galt, verloren die Beschäftigten des öffentlichen Dienstes durch die Kombination verschiedener Kürzungsmaßnahmen bis zu einem Drittel ihres verfügbaren Einkommens.
Darüber hinaus forderte die Troika in allen drei Ländern Kürzungen bzw. das Einfrieren des Mindestlohns. Der radikalste Einschnitt fand auch hier in Griechenland statt. Dort wurde im Februar 2012 auf Veranlassung der Troika eine Reduzierung des Mindestlohns um 22 Prozent beschlossen – bei den jungen Arbeitnehmern unter 25 sogar um 32 Prozent. Beide Maßnahmen dienten unter anderem dazu, die Lohnentwicklung im privaten Sektor zu bremsen. Zu diesem Zweck forderte die Troika in Griechenland auch das Einfrieren von Senioritätsprämien in privaten Tarifverträgen.
Die langfristig vielleicht noch weiterreichenden Auswirkungen vor allem auch im Hinblick auf die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften ergeben sich aber aus den von der Troika veranlassten prozeduralen Änderungen in den Tarifvertragssystemen der südeuropäischen „Programmländer“. Bei der folgenden Beschreibung der Eingriffe in die Tarifvertragssysteme wird Spanien mit einbezogen, da sich das Land im Gegenzug für die finanzielle Unterstützung des Bankensektors zur Durchführung struktureller Reformen verpflichten musste. Die in den südeuropäischen Ländern durchgeführten „Reformen“ des Tarifvertragssystems umfassen im Wesentlichen drei Elemente:
- den Vorrang von Unternehmenstarifverträgen vor sektoralen Tarifverträgen zum Beispiel durch die Abschaffung des Günstigkeitsprinzips in Spanien und Griechenland. Nun können Unternehmenstarifverträge Bestimmungen in sektoralen Tarifverträgen unterminieren.
- den Rückzug bzw. Abbau der rechtlichen Unterstützung von Tarifverhandlungen zum Beispiel über restriktivere Kriterien für die Allgemeinverbindlicherklärung (Griechenland, Portugal) oder die Nachwirkung von Tarifverträgen (Griechenland, Spanien).
- weiterreichende Möglichkeiten für gewerkschaftlich nicht organisierte Gruppen von Arbeitnehmern, Tarifverträge auf Unternehmensebene abzuschließen.
Aushöhlung der Flächentarifvertragsstrukturen in „Programmländern“
Die Auswirkungen dieser Maßnahmen zeigen sich in einem dramatischen Rückgang der Anzahl der abgeschlossenen Tarifverträge und der Tarifbindung – also des Anteils der tarifvertraglich abgedeckten Arbeitnehmer. In Portugal und Spanien zum Beispiel sank seit Beginn der Krise die Anzahl der Tarifverträge sowohl auf sektoraler als auch auf Unternehmensebene. Die Bedeutung von Tarifverträgen als regulatorisches Instrument hat daher stark abgenommen. In Spanien sank die Anzahl der insgesamt abgeschlossenen Tarifverträge von knapp 6.000 im Jahr 2008 auf etwas mehr als 2.400 im Jahr 2013. Die entsprechenden Zahlen für Portugal sind 296 für 2008 und nur noch 95 im Jahr 2013. Ähnliches gilt für Griechenland. Dort kam es zwar 2012 zu einem sprunghaften Anstieg der Anzahl von Unternehmenstarifverträgen. Das aber lässt sich dadurch erklären, dass zahlreiche Unternehmen eine im Oktober 2011 eingeführte Sonderregelung nutzten. Nach dieser ist es möglich, auf Unternehmensebene Lohnvereinbarungen abzuschließen, die unterhalb des bestehenden sektoralen Lohnniveaus bleiben.
Die Zahlen belegen den grundsätzlichen Wandel der Tarifvertragssysteme in den südeuropäischen „Programmländern“ Griechenland, Portugal und Spanien.
Die Zahlen belegen den grundsätzlichen Wandel der Tarifvertragssysteme in den südeuropäischen „Programmländern“ Griechenland, Portugal und Spanien. Obwohl die Flächentarifvertragsstrukturen formal fortbestehen, wurde ihre Reichweite und Regelungskompetenz durch die beschriebenen Veränderungen ausgehöhlt. In der Praxis sind sie daher einem für die mittel- und osteuropäischen Staaten typischen Haustarifvertragssystem viel ähnlicher als den für nordeuropäische Länder typischen Flächentarifvertragssystemen. Diese de-facto Systemänderung impliziert nicht nur eine Dezentralisierung sondern eine Ent-Kollektivierung der Arbeitsbeziehungen, da die Tarifbindung in Ländern mit starken Flächentarifvertragssystemen meist viel höher ist als in Systemen, in denen Tarifverhandlungen primär auf Unternehmensebene stattfinden.
Notwendigkeit zur Umkehr der Reformpolitik
Im nun schon sechsten Jahr der Krise sollte deutlich geworden sein, dass die bisherige Krisenbewältigungsstrategie mit ihrem Fokus auf Austerität und gewerkschaftsfeindlichen „strukturellen Reformen“ vollkommen unzureichend ist, um die makroökonomischen Probleme in Europa zu überwinden. Insbesondere der durch die tarifpolitischen Interventionen beförderte Lohnsenkungswettbewerb verschärfte die Krise sogar, indem er den privaten Konsum reduziert, deflationäre Tendenzen beschleunigt und insgesamt zur ökonomischen Stagnation in Europa beiträgt. Das Versagen der bisherigen Reformpolitik zeigt die Notwendigkeit einer prinzipiellen Neuorientierung auf ein stärker lohn- und nachfrageorientiertes Wachstumsmodell, für dessen Umsetzung starke Gewerkschaften und stabile Flächentarifvertragssysteme mit hoher Tarifbindung eine der zentralen Voraussetzungen sind.
5 Leserbriefe
Wenn sich Länder der EURO-Zone nicht an gemeinsame Grundsätze halten und die Einkommen stärker steigen als die Produktivität oder überhaupt unangemessen hoch sind, muss dem Einhalt geboten werden.
Jürgen Kirschning, Berlin