Gegen Rechts, heißt es, muss man Haltung zeigen. Allerdings scheinen Hashtags, Ausladungen und Konzerte den Vormarsch der Rechtspopulisten nicht aufhalten zu können. Die Suche nach einer besseren Strategie beginnt mit der Frage, wessen Werte hier eigentlich verteidigt werden. Denn der Kampf gegen Rechts kann gar nicht funktionieren, solange er als Teil eines Kulturklassenkampfes ausgetragen wird. Und dieser Kampf verläuft zwischen den Mittelklassen der Gesellschaft. Darum streiten wir in Zeiten extremer Ungleichheit über Moral und Identität und nicht über Verteilung.

Wer wir sind und wohin wir gehen, diese Fragen werden seit jeher von Priestern und Philosophen beantwortet. Heute wird diese Deutungsmacht von Akademikern und Kreativen ausgeübt. Für den Soziologen Andreas Reckwitz sind die Werte der Gewinner der postindustriellen Wissensökonomie –Kosmopolitismus, Offenheit, Diversität, Selbstverwirklichung  – das gesellschaftliche Maß und Ziel. Die Akademikerklasse bestimmt, welcher Lebensstil als wertvoll betrachtet wird und welcher nicht.

Viele Menschen können in diesem permanenten Wettbewerb um Sichtbarkeit, Wertschätzung, und Erfolg aber nicht mehr mithalten und sehnen sich nach Halt, Zugehörigkeit und Anerkennung. Vor allem die Unternehmer, Angestellten und Facharbeiter der alten Mittelklasse fühlen sich von Gemeinschaften angesprochen, in denen ihren Werten der Homogenität, Pflichterfüllung, Mitte und Solidarität wieder Geltung verschafft wird. Um Gemeinschaften zu bilden muss klar sein, wer dazugehört und wer nicht. Politisch bedeutet das, der liberalen Öffnung, Entgrenzung und Deregulierung die Schließung der Grenzen und die Reetablierung der nationalen Identität entgegenzusetzen.

Der Kulturkampf zwischen Kosmopoliten und Kommunitariern wird entscheiden, wer zukünftig in Politik, Medien, Kunst und Wissenschaft den Ton angibt.

An die Spitze der Rebellion gegen den Liberalismus haben sich die Rechtspopulisten gesetzt. Ihnen ist es als ersten gelungen, den Gefühlen der Kränkung und Verunsicherung politischen Ausdruck zu geben. Die alte Mittelklasse drängt es aber mehr als das politikverdrossene Prekariat an die Wahlurne. So löst sich das Rätsel, warum die Wähler der Rechten keineswegs ärmer oder ungebildeter sind als der Bevölkerungsdurchschnitt.

Die neue Mittelklasse ist keineswegs gewillt, ihre Definitionsmacht über Werte und Ziele der Gesellschaft kampflos aufzugeben. Dem Angriff auf ihre kulturelle Hegemonie begegnet sie mit kulturellen Mitteln. Moralisch zieht sie eine Brandmauer zwischen den „Anständigen“ und den Frauen-, Fremden-, und Demokratiefeinden. Mittels Tugenddiskursen erhöht sie ihren kosmopolitischen Lebensstil über den ihrer Gegner. Und die wiederum erleben #metoo, #wirsindmehr, #hambibleibt, #dieselfahrverbot und #keinmenschistillegal als Kulturklassenkampf von oben.

Warum wird der Klassenkampf zwischen den Mittelschichten kulturell ausgetragen? In der postindustriellen Ökonomie bestimmen Bildung und Kreativität mehr denn je darüber, ob man sein Leben erfolgreich gestalten kann. Weil sie über großes kulturelles Kapital verfügt, wird die Akademikerklasse („creative class“) aufgewertet, während Prekariat und alte Mittelklassen („Verlierer und Abgehängte“) in der sozialen Hierarchie nach unten rutschen. Gegen dieses Gefühl, kulturell zurückgesetzt zu werden, rebelliert die alte Mittelklasse. Aber weil die neue Mittelklasse ihre soziale Stellung ihrem kosmopolitischen Lebensstil verdankt, ist sie nicht bereit, Abstriche von ihrem moralischen Führungsanspruch zu machen. Der Kulturkampf zwischen Kosmopoliten und Kommunitariern wird entscheiden, wer zukünftig in Politik, Medien, Kunst und Wissenschaft den Ton angibt. Der Kampf der Mittelklassen um die kulturelle Hegemonie erklärt, warum sich die politische Hauptkonfliktlinie nicht um Verteilungsfragen dreht, sondern um kulturelle Fragen wie Sexualität, Identität oder Sprache.

Waren es früher vor allem die Minderheiten, die sich um ihre Identität scharten, ist es den Identitären Bewegungen gelungen, der gesellschaftlichen Mehrheit einzureden, auch sie sei eine bedrohte Minderheit.

Der Streit um Moral und Identität ist eine typische Erscheinung der neoliberalen Epoche. Viele Bürger haben den Glauben an Gestaltungskraft und –willen des demokratischen Staates verloren. Gesellschaftliche Veränderungen sind  nur noch vorstellbar, wenn Individuen in großer Zahl einsehen, dass sie ihr Verhalten ändern müssen. Widerstand gegen rationale Projekte wie den Kampf gegen den Klimawandel oder gegen normativ gebotene Anliegen wie Geschlechtergerechtigkeit kann aus diesem Verständnis heraus nur irrational oder böswillig sein. An die Stelle der politischen Auseinandersetzung mit Mitbürgern tritt daher die moralische Abwehrschlacht gegen die Barbaren, die aus dem Diskurs („Kein Sprechrecht für alte weiße Männer“) oder von öffentlichen Foren („Rechte nicht salonfähig machen“) ausgeschlossen werden.  

Die Schärfe, aber auch die Tragik der kulturellen Konfrontation liegt darin, dass beide Seiten um das Überleben der Gemeinschaft fürchten, und daher umso aggressiver auf die vermeintlichen Feinde des Guten und Wahren einprügeln. Wer jedoch seine Lebensweise bedroht sieht, wird sich mit den Seinen nur noch fester zusammenschließen. Mitch McConnell, Mehrheitsführer im US-Senat, brachte das nach der gewonnenen Schlacht um die Bestätigung des Verfassungsrichters Kavanaugh hämisch auf den Punkt. Der „Mob“ habe den Republikanern einen riesigen Gefallen getan, weil die Vorwürfe sexuellen Missbrauchs erreicht hätten, was der Parteiführung alleine nie gelungen wäre: ihre Anhänger kurz vor den Kongresswahlen zu mobilisieren. Mit anderen Worten: Wird die Gruppe von außen angegriffen, stärkt das ihren inneren Zusammenhalt. Dieses Zusammenstehen signalisieren sich die Gruppenmitglieder durch Glaubensbekenntnisse (Virtue Signaling).  Das erklärt, warum Haltung derzeit so hoch im Kurs steht. Im „Kampf gegen Rechts“ sind moralische Abgrenzungen aber kontraproduktiv, weil sie den Zusammenhalt der Rechtpopulisten nur weiter stärken.

Der zweite Grund warum „Haltung zeigen gegen Rechts“ nicht funktioniert, liegt in der Neuordnung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse in der Ära Trump. Waren es früher vor allem die Minderheiten, die sich um ihre Identität scharten, ist es den Identitären Bewegungen gelungen, der gesellschaftlichen Mehrheit einzureden, auch sie sei eine bedrohte Minderheit. Das funktioniert bei den „weißen“ Amerikanern, „Biodeutschen“ oder „wahren Finnen“ nicht viel anders wie bei den Hindunationalisten, Salafisten oder buddhistischen Fundamentalisten. Spätestens hier treffen die Minderheitenallianzen des progressiven Neoliberalismus auf einen Gegner, der gegen kosmopolitische Bekehrungsversuche immun ist. Mehr noch, der das Gefühl der Kränkung und Verunsicherung nutzt, um progressive Errungenschaften zurückzudrehen oder die Institutionen der liberalen Demokratie auszuhebeln.

Wer die soziale Demokratie aus dieser existentiellen Bedrohung retten will, muss diese Lektion so schnell wie möglich lernen. Die Strategie der moralischen und sprachlichen Ausgrenzung funktioniert nicht, sondern macht den rechtspopulistischen Gegner nur noch stärker.

Allianzen zwischen Bürgern mit unterschiedlichen Identitäten zu bauen ist die genuine Stärke der Konsensmaschine Volkspartei. 

Es ist also höchste Zeit, aus der moralischen Panik aufzuwachen, und echte Politikwechsel einzuleiten. Statt wie das Kaninchen auf die Schlange zu starren, muss sich demokratische Politik von ihrer Fixierung auf den autoritären Rand lösen und die gesellschaftliche Mitte festigen. Das bedeutet, die Sorgen der Bürger ernst zu nehmen, statt sie zu beschimpfen. Wer angesichts der epochalen Umbrüche der Globalisierung, Automatisierung, des Klimawandel und der Migration verunsichert ist, ist noch lange kein Nazi. Kluge Politik adressiert diese Verunsicherung, und gibt den Bürgern ein Stück Kontrolle über ihr Leben und das ihrer Gemeinschaft zurück. Das bedeutet mehr Jobsicherheit und soziale Absicherung. Das bedeutet die Rückkehr der staatlichen Daseinsvorsorge in die Fläche. Das bedeutet Begrenzung und Steuerung von Migration. Und das bedeutet konsequente Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit und Kriminalitätsbekämpfung.

Umgekehrt bedeutet es nicht, die emanzipatorischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte zurückzudrehen. Ziel ist die Verteidigung der offenen und solidarischen Gesellschaft. Und in dieser Gesellschaft müssen alle Bürger, egal welcher Herkunft oder Orientierung, dieselben Lebenschancen haben.

Gerade für die Sozialdemokratie ist es daher unmöglich, den kosmopolitischen und kommunitaristischen Teil ihrer Lebenswelt gegeneinander auszuspielen. Welches Schicksal der Sozialdemokratie droht, sollte ihr diese Verbindung nicht gelingen, lässt sich an den beiden Sammlungsbewegungen #aufstehen (geschlossen und solidarisch) und #unteilbar (offen und solidarisch) ablesen. Um diese beiden Formeln herum formieren sich quer durch Europa post-sozialdemokratische Parteien. Das Auseinanderfallen des kosmopolitischen und des kommunitaristischen Teils der sozialdemokratischen Lebenswelt droht das progressive Lager langfristig zu schwächen.

Eine demokratische Zukunft ist nur möglich, wenn die Mittelklassen einsehen, dass ihre Vorstellungen vom guten Leben in einer pluralistischen Gesellschaft immer nur partikular sein können. Diese Einsicht fällt insbesondere der Akademikerklasse schwer, die ihre Werte lange unwidersprochen für universell erklären konnte. Nun ist aber eine Gegenkraft entstanden, die aus dieser Hybris politisches Kapital schlägt. Die neoliberale Vorstellung, gesellschaftliche Probleme durch die Verhaltensänderung von Individuen lösen zu können, ist also am Ende. Im Gegenteil erschwert das Sprechen in moralischen Kategorien („richtig/ falsch“; „gut / böse“) die Suche nach umsetzbaren Kompromissen. Statt über Sprache und Werte müssen wir also endlich wieder über Strategie und Politik streiten.

Dem moralischen Furor der Mittelklassen muss ein Modell des Politischen entgegengesetzt werden, das Veränderung als Ergebnis gesellschaftlicher Kämpfe versteht. Diese sind nicht zu gewinnen, wenn die Gesellschaft in einzelne Stämme zerfällt. Allianzen zwischen Bürgern mit unterschiedlichen Identitäten zu bauen ist die genuine Stärke der Konsensmaschine Volkspartei. Auch die Kämpfe um Anerkennung und Verteilung lassen sich vereinen, wenn man sie klar auf die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse ausrichtet. Das bedeutet, sich nicht auf Symbolpolitik zu beschränken, sondern die strukturellen Bedingungen so zu gestalten, dass gleiche Lebenschancen für alle ermöglicht werden. Die Verbindung dieser Kämpfe war die historische Rolle der Sozialdemokratie. In der politischen Erneuerung dieses Bündnisses liegt ihre Zukunft.