Zwar hat die Linke in den letzten Jahren in manchen europäischen Ländern Erfolge feiern können. Die Rechte und Ultrarechte haben es allerdings unbestreitbar besser verstanden, die berechtigten Sorgen der Menschen, die in 40 Jahren neoliberalem Klassenkrieg der Oberschicht entrechtet, an den Rand gedrängt, verarmt und enteignet wurden, zu ihrem Vorteil zu nutzen.
Wie Bill Mitchell und ich in unserem Buch Reclaiming the State darlegen, gelang es diesen Kräften (mehr oder weniger schlüssig) die Sehnsucht nach größerer territorialer oder nationaler Souveränität zu bedienen. Da wirkungsvolle übernationale Repräsentationsmechanismen auf europäischer Ebene fehlen, sehen viele darin die einzige Möglichkeit, Politik und Gesellschaft wieder einigermaßen in die Griff zu bekommen.
Die Reaktion der europäischen Eliten auf die Finanzkrise und die zehn Jahre Stagnation und / oder Flaute, die ihr folgten, haben die brutale undemokratische, klassenorientierte Logik der Macht offengelegt, die der EU und insbesondere der Währungsunion zugrunde liegt. Europa ist deshalb unbeliebt wie nie zuvor. Die Hoffnungen auf demokratische Reformen, Wirtschaftswachstum und eine Senkung der Arbeitslosigkeit im Rahmen der derzeitigen institutionellen (und konstitutionellen) Architektur Europas schwinden zusehends. Wie vorherzusehen machen sich ultrarechte Kräfte die Legitimationskrise der EU zunutze und gehen mit der reaktionären Vision nationaler Souveränität hausieren. Das wiederum verstärkt die Zentrifugalkräfte in Europa.
Der linke Mainstream glaubt, die EU und die Eurozone seien vereinbar mit der Rückkehr sozialdemokratischer Politik und einem keynesianischen Neustart der Wirtschaft – obwohl alles dagegen spricht.
Der linke Mainstream betrachtet es unterdessen als seine Mission, Europa vor sich selbst zu retten, indem er den europäischen Wirtschafts- und Integrationsprozess gegen die Bedrohung durch den Neonationalismus verteidigt. Er tut das in dem Glauben, die Europäische Union und die Eurozone seien vereinbar mit der Rückkehr sozialdemokratischer Politik, einem keynesianischen Neustart der Wirtschaft und dem Aufbau einer ausgeprägten übernationalen Demokratie – obwohl alles dagegen spricht.
Diese Haltung jedoch zieht eine Vielzahl von Problemen nach sich. Sie resultieren letztendlich daraus, dass die wahre Beschaffenheit der EU und der Währungsunion nicht verstanden wird. Zum einen begnügt sich die Linke damit, dass sie den Status quo verteidigt. Sie überlässt es der politischen Rechten, aus den berechtigten Vorbehalten der Bürger gegen das System – und besonders gegen die EU – Kapital zu schlagen. Wenn progressiver Wandel nur auf globaler oder auf europäischer Ebene möglich ist – das heißt, wenn die den Wählern dargebotenen Alternativen zum Status quo reaktionärer Nationalismus oder progressiver Globalismus sind –, dann hat die Linke die Schlacht bereits verloren.
Vor allem aber übersieht die Linke mit dieser Haltung, dass die wirtschaftliche und politische „Verfassung“ der EU genau auf die Ergebnisse abzielt, die wir heute erleben: die Erosion der Volkssouveränität, den massiven Transfer von Reichtum von der Mittel- und Unterschicht hin zur Oberschicht, die Schwächung der Arbeiterschaft und allgemeiner das Abschmelzen demokratischer und sozioökonomischer Zugewinne, die von den unteren Klassen zuletzt erreicht wurden. In Wahrheit ist sie genau darauf angelegt, die radikalen Reformen, die progressive Integrationisten und Föderalisten anstreben, zu verhindern.
In der EU – und besonders in der Währungsunion – sind die makroökonomischen Maßnahmen vom volksdemokratischen Prozess praktisch abgekoppelt. Den Mitgliedstaaten fehlen die wirtschaftlichen Instrumente, abseits des Berlin-Brüssel-Frankfurt-Konsenses eine eigene Wirtschaftspolitik zu betreiben. Die „lächerlich heftigen Attacken gegen die verhalten expansive Fiskalpolitik Italiens“, wie es der frühere OECD-Chefökonom Michael Ivanovitch formuliert, und natürlich auch der Umgang mit der Syriza-Regierung im Jahr 2015 bieten reichlich Anschauungsmaterial.
Die europäischen Verträge verankerten den Neoliberalismus in sämtlichen Bereichen der Europäischen Union.
Wie der verstorbene britische Ökonom Wynne Godley 1992 prophetisch schrieb, „ist das Vermögen, eigenes Geld herauszugeben, von der eigenen Zentralbank Geld zu bekommen, das entscheidende Kriterium für die nationale Unabhängigkeit“. Durch die Übernahme des Euro erhielten die Mitgliedsstaaten praktisch den Status regionaler Behörden oder Kolonien; das wird immer offenkundiger. Die europäischen Verträge reichen jedoch weit über die Fiskal- und Geldpolitik hinaus. Sie verankerten den Neoliberalismus in sämtlichen Bereichen der Europäischen Union und machten damit dem in den Jahrzehnten zuvor verbreiteten „Keynesianismus“ den Garaus.
Zwar sind auf europäischer Ebene technische Maßnahmen zur Stimulierung der Wirtschaft und zur dauerhaften Schuldentragfähigkeit durchaus möglich, auch im Rahmen der aktuellen Verträge. Über die Jahre wurden auch zahllose solcher Maßnahmen vorgeschlagen. Doch das aktuelle Machtgleichgewicht in den Mitgliedstaaten und die Abhängigkeit der EU und der Eurozone vom neoliberalen Weg verhindern politisch einen solchen Wandel.
Noch unrealistischer ist eine radikale Reform der Verträge hin zu mehr Solidarität und einer stärker keynesianischen Ausrichtung. Dafür bräuchte es eine „Eurozonen-Regierung“, die sich mit Unterstützung einer reformierten Europäischen Zentralbank um Haushaltsdefizite kümmert, um eine vollständige Vergemeinschaftung von Schulden, um dauerhafte Transfers von Haushalts- und Steuermitteln zwischen den Ländern und so weiter. Vor allem aber müsste in jedem einzelnen EU-Land mehr oder weniger gleichzeitig eine linke Regierung an die Macht kommen. (Wir haben ja bereits erlebt, was passiert, wenn ein Land es allein versucht). Die Verträge lassen sich im Europäischen Rat schließlich nur einstimmig ändern. Man muss kein Pessimist sein, um zu erkennen, dass das nie eintreten wird.
Selbst im unwahrscheinlichen Fall eines gleichzeitigen internationalen Schulterschlusses linker Regierungen gibt es wenig Grund zu der Annahme, dass sich Deutschland und andere Länder des „ordoliberalen Blocks“ je an einer solchen Allianz beteiligen würden. Der Anti-Keynesianismus ist schließlich tief im deutschen Geld- und Politikestablishment verankert. Auch die neue deutsche Bundesregierung machte bereits jede Hoffnung, dass sie eine vernünftige Reform der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion unterstützen würde, zunichte: indem sie klarstellte, dass Deutschland eine Ausweitung der EU-Fiskalbefugnisse nicht mittragen werde. Damit lehnte sie Vorschläge Emmanuel Macrons ab, die in sich ebenfalls problematisch waren.
Wenn die Linke hartnäckig an „Europa-Reformen“ festhält, so kommt das einer diskursiven und politischen Kapitulation in der Schlacht um die post-neoliberale Vorherrschaft gegenüber der Rechten gleich. Das müsste nicht so sein. Die aktuelle Krise in der EU und der Währungsunion sollte kein Anlass zur Verzweiflung sein, sondern vielmehr eine Gelegenheit, (wieder) eine progressive, emanzipatorische Vision der nationalen Souveränität zu entwickeln. Das muss nicht unbedingt auf Kosten der europäischen Zusammenarbeit gehen. Im Gegenteil gibt es ja reichlich Belege dafür, dass der eiserne Griff der Gemeinschaftswährung innereuropäische Spaltungen vertieft: Er bringt eine verbreitete soziale Verödung mit sich und setzt somit die positiven Wirkungen, die einst mit der Entstehung der EU einhergingen, aufs Spiel.
Der wahre Wert des europäischen Projekts liegt darin, dass es in ganz Europa das Rechtsstaatsprinzip ebenso sichert wie die multinationale Kooperation in Fragen der Einwanderung, des Klimawandels und globaler Belange, die einzelne Staaten allein nicht lösen können. Wenn die geld- und fiskalpolitischen Instrumente wieder in die Hände der nationalen Regierungen zurückkehren, so würde das eine solche Zusammenarbeit nicht schwächen. Im Gegenteil, es wäre die Grundlage für ein erneuertes europäisches Projekt, das auf der multilateralen Kooperation souveräner Staaten gründet – und die Grundlage für eine neue internationale oder internationalistische Weltordnung.
Aus dem Englischen von Anne Emmert