Für Frauen in Indien ist Gewalt im privaten und öffentlichen Raum allgegenwärtig, weil aufgrund gesellschaftlicher Vorurteile und Gepflogenheiten Frauen diskriminiert und patriarchale Machtstrukturen privilegiert werden. Jeder Versuch, mehr Autonomie zu erlangen, sei es zu Hause oder in der Gesellschaft, zieht heftige Gegenreaktionen nach sich. Doch seit der unglückseligen Gruppenvergewaltigung in Neu-Delhi im Jahr 2012 haben sich trotz der traurigen Umstände die Aussichten auf einen Wandel verbessert, da der Vorfall den öffentlichen Diskurs über geschlechtsspezifische Gewalt ebenso nach sich zog wie Strafrechtsreformen und einen Anstieg polizeilicher Anzeigen, der hoffen lässt, dass Frauen heute nicht mehr willens sind, den Missbrauch, den sie bislang schweigend ertragen haben, weiter zu rechtfertigen.
Die Gewalt gegen Frauen in Indien erregte wohl erstmals weltweit Aufmerksamkeit, als eine junge Frau am Abend des 16. Dezember 2012 in Neu-Delhi in einem Bus von mehreren Männern vergewaltigt wurde. Indische Frauenrechtsaktivistinnen weisen allerdings seit über drei Jahrzehnten auf dieses Problem hin, in dem sich ihrer Ansicht nach eine Gesellschaft widerspiegelt, in der Frauen diskriminiert und patriarchale Machtstrukturen privilegiert werden.
Die indische Verfassung garantiert zwar die Gleichheit von Männern und Frauen, doch gesellschaftliche Vorurteile und Gepflogenheiten unterlaufen diese Garantie. Ein krasses Sinnbild für diese vielschichtige Ungleichheit ist das verzerrte Geschlechterverhältnis bei Neugeborenen. Nach der Volksbefragung des Jahres 2011 liegt sie bei 914 Mädchen auf 1000 Jungen, eine Zahl, die belegt, wie stark Söhne in der indischen Gesellschaft bevorzugt werden. Die hohe Zahl von Verbrechen gegen indische Frauen – von Missbrauch und Verschleppung bis hin zu Mitgiftmord und Vergewaltigung – ist ein weiterer Beleg für den ungleichen Status der Geschlechter. Den jüngsten Zahlen des National Crime Records Bureau (NCRB) zufolge wurden im Jahr 2014 insgesamt 337.922 Fälle von Gewalt gegen Frauen registriert. Das sind nur die bei der Polizei angezeigten Fälle; die eigentliche Zahl dürfte erheblich höher liegen.
Bei genauerer Betrachtung der Statistik zeigen sich beunruhigende Regelmäßigkeiten. Zum einen machen Vergewaltigung und sexuelle Übergriffe einen Großteil der geschlechterspezifischen Verbrechen aus, und bei 38 Prozent der angezeigten Vergewaltigungen sind die Opfer minderjährige Mädchen. Zum anderen liegt die Zahl der Sexualverbrechen in der Hauptstadt Neu-Delhi unverhältnismäßig höher als im Rest des Landes. In ihrem „Buch Indien: Ein Land und seine Widersprüche“ bezeichnen Amartya Sen und Jean Drèze Neu-Delhi als Spezialproblem, da in der Stadt neunmal mehr Vergewaltigungen stattfinden als in Kalkutta. Aus den Zahlen des NCRB lässt sich zudem die traurige Tatsache ableiten, dass ein großer Teil dieser Gewalt in der Familie stattfindet, denn die überwiegende Mehrzahl der Verbrechen wird von Vätern und anderen engen Verwandten begangen. Über dieser Tatsache liegt freilich ein Schleier des Schweigens, der vor allem falsch verstandenen Vorstellungen von „Familienehre“ geschuldet ist. Der ehemaligen Generalsstaatsanwältin Indira Jaising zufolge wird in Indien die Rechtsstaatlichkeit immer dann eingeschränkt, wenn es einen Kampf zwischen Männern und Frauen gibt, da eine Frau nicht als eigenständiger Mensch gilt, sondern als Anhängsel einer Familie.
Die Überzeugung, dass der Mann das überlegene Geschlecht sei, ist so tief verwurzelt, dass auch Frauen sie verinnerlicht haben.
Die Überzeugung, dass der Mann das überlegene Geschlecht sei, ist so tief verwurzelt, dass auch Frauen sie verinnerlicht haben. Die dritte landesweite Umfrage zur Familiengesundheit (National Family Health Survey, 2005–2006) zeigt, dass 41 Prozent der verheirateten Frauen in Indien es für gerechtfertigt halten, von ihrem Ehemann geohrfeigt zu werden, wenn sie gegenüber den Schwiegereltern respektlos waren. Ein etwas kleinerer Prozentsatz findet es richtig, dass eine Frau geschlagen wird, wenn sie ihre häuslichen Pflichten vernachlässigt. Angesichts der großen Verbreitung solcher Vorstellungen ist es nicht weiter erstaunlich, dass häusliche Gewalt vom Staat Indien erst 1983 als Straftatbestand anerkannt und ein Gesetz dafür erst 2005 verabschiedet wurde.
Nicht nur der private, sondern auch der öffentliche Raum steckt für Frauen voller Gefahren. Der wachsenden Zahl von Frauen besonders im städtischen Umfeld, die mehr Verantwortung übernehmen, größere Autonomie erlangen und bessere Bildungs- und Beschäftigungschancen anstreben, stellen sich allerlei Hindernisse in den Weg, die von mangelhafter städtischer Infrastruktur – etwa nicht funktionierende Straßenbeleuchtung bei Nacht oder ein unzureichender öffentlicher Nahverkehr – bis hin zu offenem Sexismus reichen. Dies stützen die Ergebnisse einer Umfrage zur Sicherheit von Frauen in Delhi, die das Frauenzentrum Jagori im Jahr 2010 durchführte. Die befragten Frauen gaben alle an, an öffentlichen Orten schon sexuelle Belästigungen erlebt zu haben. Die Vorfälle reichten von Beleidigungen bis hin zu körperlichen Übergriffen und fanden zu jeder Tages- und Nachtzeit statt. Deutlich kristallisiert sich außerdem heraus, dass Frauen, sobald sie ihr Zuhause verlassen, ganz allein für ihre persönliche Sicherheit verantwortlich sind.
Dies illustrierte im Dezember 2012 auf tragische Weise die Gruppenvergewaltigung einer 23 Jahre alten Physiotherapie-Studentin, die am Abend mit ihrem männlichen Begleiter in Süd-Delhi in einen privaten Bus stieg. Einer der verurteilten Männer sagte später aus, wenn das Opfer „anständig“ gewesen wäre, so wäre sie nicht um 21 Uhr noch unterwegs gewesen. Ihre tödlichen Verletzungen habe sie geradezu herausgefordert, weil sie sich gegen ihre Vergewaltiger gewehrt habe. Dem Opfer die Schuld zu geben, ist leider üblich, und selbst bekannte indische Politiker und Regionsführer erklären öffentlich, dass Frauen Übergriffe provozieren, wenn sie durch ihre Kleidung oder die Art ihres Umgangs mit der Tradition brechen. Wenn Frauen die Beschränkungen durch das Patriarchat überwinden wollen, setzt eine Gegenreaktion ein, die diverse Formen annehmen kann. So ist es schon vorgekommen, dass Panchayats (Dorfältestenräte in den Gemeinden) jungen Frauen verboten, Jeans zu tragen oder ein Mobiltelefon zu erwerben, um ihre Freiheiten einzuschränken.
Die Brutalität der Gruppenvergewaltigung im Jahr 2012 und der Umstand, dass sie in der Hauptstadt geschah, löste landauf landab enorme öffentliche Wut aus, und veranlasste die Regierung, für die Ausarbeitung von Strafrechtsreformen ein Komitee unter dem Obersten Richter J. S. Verma einzusetzen. Die Empfehlungen des Komitees bereiteten wichtigen Gesetzesänderungen den Weg. Ungeachtet solcher Rechtsreformen ist es jedoch für die Überlebende einer Gewalttat nach wie vor schwierig, Recht zu bekommen. Den Rechtsweg beschreiten zu können, ist eine Voraussetzung für jegliche Bemühung, geschlechtsspezifische Gewalt zu beenden. So erklärte das Komitee für die Beseitigung der Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW) erst kürzlich: „Das Recht, ein Gericht anzurufen, ist mehrdimensional. Dazu gehören Justiziabilität, Verfügbarkeit, Erreichbarkeit, gute Qualität, die Rechenschaftspflicht von Rechtssystemen und schließlich die Möglichkeit für die Opfer, Rechtsmittel einzulegen.“ In Indien ist jeder dieser Parameter reformbedürftig und bedarf politischer Maßnahmen.
Trotz der zum Teil traurigen Anlässe hat sich die Aussicht auf einen Wandel zweifellos verbessert.
Trotz der zum Teil traurigen Anlässe hat sich die Aussicht auf einen Wandel zweifellos verbessert. So ist seit den Protesten des Jahres 2012 die Zahl der Anzeigen dieser Verbrechen stark angestiegen, was dafür spricht, dass mehr Frauen selbstbewusst genug sind, es mit ihren Peinigern aufzunehmen. Die NCRB-Daten belegen, dass von 2012 auf 2013 die Zahl der registrierten Fälle geschlechtsspezifischer Verbrechen um 26,7 Prozent anstieg. Auffallend ist auch, wie stark das Thema öffentlich diskutiert wurde, besonders vor den Kommunalwahlen in Delhi 2013 und 2015 sowie vor der Parlamentswahl 2014. Und es ist durchaus ermutigend, dass die Medien solche Verbrechen heute erheblich ernster nehmen als früher.
Die Machthaber reagieren auf die Berichterstattung in den Medien oft überempfindlich. Die wütende Reaktion des politischen Establishments in Indien auf die BBC-Dokumentation India's Daughter der britischen Filmemacherin Leslee Udwin über die Gruppenvergewaltigung in Delhi ist ein typisches Beispiel. Die Regierung fühlte sich veranlasst, den Film nicht nur in Indien zu verbieten, sondern von den Gerichten eine einstweilige Verfügung gegen das Streamen im Internet zu erwirken. Dessen ungeachtet sind in Indien viele, auch Frauenrechtsaktivistinnen, der Ansicht, dass Gewalt gegen Frauen ein zu ernstes Thema ist, als dass man es mit dem Begriff der nationalen Ehre vermengen sollte. Vielmehr sollte die Problematik offen angesprochen und angegangen werden.
In der Öffentlichkeit wächst das Bewusstsein dafür, dass geschlechtsspezifische Verbrechen schwere Vergehen gegen die Menschenrechte von Frauen darstellen. Es gibt eine neue rote Linie für fehlgeleitete Gesinnungen und inakzeptables Verhalten. Diese rote Linie dürfte in der indischen Gesellschaft mit der Zeit eine größere Gleichberechtigung der Geschlechter mit sich bringen.
3 Leserbriefe
In Indien gibt es aufgeklärten Inder, rückständigen Inder und diejenigen die vom Agrargebiete stammen und mit den Fortschritt der Großstädte nicht umgehen können. Auf der sozialen Ebene bedeutet es, dass eine Begegnung solcher unterschiedlichen Personen nur eine oberflächliche Begegnung sein kann. Indien muss die Problematik der Gegensätzlichkeit wahrnehmen und Maßnahmen einleiten, um die sozialen Problemen beherrschbar zu halten.
Leider wird in Indien sehr emotional auf das Thema Frauenrechte reagiert ohne die Wahrnehmung, dass Frauen immerhin 50% der Bevölkerung ausmachen und daher ihre Rechte auch beanspruchen können und sollen.
Indien muss diese soziale Spannungsfeld im Lande bewusst wahrnehmen und die verschiedenen sozialen Probleme effektiver adressieren.