Der Kampf gegen Afghanistans Opiumproblem ist wie der Kampf gegen die Hydra: Je mehr Köpfe abgeschlagen werden, desto mehr neue Fratzen entstehen. Die internationale Gemeinschaft, die seit Beginn des Einsatzes am Hindukusch gegen das neunköpfige Unwesen vorgeht, hat nichts unversucht gelassen: Vernichtung, Anbaualternativen und Aufklärung. Doch das Ungetüm Opium floriert und droht die Erfolge in anderen Bereichen ebenfalls zunichte zu machen. Die einzige Lösung, so Experten, liegt ausgerechnet in dem Bereich, den die internationale Bereitschaft seit einem Jahrzehnt nahezu konsequent ausgeblendet hat.

2007 stammten 93 Prozent des weltweit konsumierten Opiums aus Afghanistan. Nach großen Anstrengungen und dem Einsatz beträchtlicher Mittel fiel der Anteil laut Angaben von Juri Fedotov, Chef der UN-Drogenbekämpfungsagentur UNODC im Jahr 2013 auf 80 Prozent. Doch Afghanistan produziert nach wie vor weltweit das meiste Opium.

Auch die grassierende Korruption, die den afghanischen Staat und seine Justiz von innen heraus zersetzt, wird fleißig vom Drogenhandel genährt.

Der immer wieder zu hörende populistische Ruf nach noch härterem Vorgehen gegen Opiumproduzenten und -händler ist dabei ähnlich sinnvoll wie der Hinweis, der Hydra die nachwachsenden Köpfe einfach schneller abzuschlagen. Je mehr Druck erzeugt wird, desto mehr verdichtet sich das Geflecht aus Korruption, organisierter Kriminalität und Lukrativität. Längst finanzieren die Taliban, die Raison d'être der internationalen Truppen am Hindukusch, ihren Krieg gegen die afghanische Regierung und den Westen mit Einnahmen aus dem Millionengeschäft Opium. Auch die grassierende Korruption, die den afghanischen Staat und seine Justiz von innen heraus zersetzt, wird fleißig vom Drogenhandel genährt. Das Problem wächst und wächst und droht bald sogar zu einem mächtigen Treiber für weitere Konflikte in Afghanistan und in der Region zu werden.

 

Ressourcenfluch der Taliban

Drogen, die laut Koran Sünde sind und ursprünglich von den Gottesschülern sogar strikt verboten worden waren, finanzieren laut dem jüngsten UN-Bericht von Juni 2014 längst „Teile der Talibanbewegung“. Diese wird, traurige Ironie der westlichen Bemühungen, gegenwärtig sogar von einem umgekehrten „Ressourcenfluch“ heimgesucht: nämlich zu viel Geld. „Während die Talibanfinanzen zunahmen, wandelten sich die Taliban mehr und mehr zu einem Wirtschaftsakteur“ schreiben die UN-Experten. Dieser Geldregen aus Drogenexporten schaffe Anreize, „dieses Einkommen zu erhalten und reduziere potenzielle Anreize für Verhandlungen mit der Regierung.“

Was dieser sündhafte Handel aus den einst äußerst genügsamen Taliban macht, kann längst jenseits der Grenze, zum Beispiel im pakistanischen Karatschi besichtigt werden. Dort lebt inzwischen eine Taliban-Mittelschicht in Stadtteilen mit pompösen Villen und dicken SUVs.

Die Auswirkungen des illegalen Treibens werden noch absurder, wenn man die Geldströme des Opiumhandels verfolgt. Die Regierung verdient daran sogar besser als die Taliban. Zahlreiche afghanische Regierungsmitglieder besäßen längst große Ländereien und bauten dort selbst Opium an, weiß ein Experte zu berichten, der namentlich nicht zitiert werden möchte.

Der afghanische „Opiumkomplex“ droht daher zum ernsthaften Hindernis für Frieden und Stabilität zu werden. Denn er ernährt gleichermaßen diejenigen, die eine Lösung suchen als auch auch jene, die von einem fortwährenden bewaffneten Konflikt profitieren und deshalb Lösungen sabotieren.

Die afghanischen Verantwortlichen sind sich der Tatsache durchaus bewusst, dass Opium die Stabilität des schwachen Staates und damit der Demokratie massiv bedroht. In einem im Mai 2012 veröffentllichten Bericht warnte das afghanische Anti-Drogen-Ministerium: „Afghanistan riskiert, sich zu einem Drogenstaat zu entwickeln, falls die internationale Gemeinschaft und die afghanische Regierung keine effektiven Maßnahmen entwickeln, um den Drogenhandel zu bekämpfen und den afghanischen Bauern eine alternative Lebensgrundlage anzubieten.“ Der Mangel an wirklich greifenden Maßnahmen drohe nach dem Abzug der internationalen Truppen Ende 2014 zu politischer und wirtschaftlicher Instabilität, Finanzierung terroristischer Gruppen und weit verbreiteter Korruption zu führen, so die Autoren.

 

Die Ratlosigkeit der Experten

Je deutlicher diese Zusammenhänge werden, desto mehr ebbt die Debatte um Opium aus Afghanistan ab. Ganz so als hätte man aufgegeben. Politiker und Experten sind ratlos. Tatsächlich wurden die allermeisten der von Drogenbekämpfungsexperten angeregten Maßnahmen bereits ausprobiert. Zahllose Projekte und Programme existieren, mit dem Ziel, die Drogenproduktion zu drosseln – und doch geht die Kurve der Drogenstatistik nur in eine Richtung: steil nach oben.

Opium wird in Afghanistan sowohl im Süden angebaut, wo der Krieg gegen die Taliban gekämpft wird, als auch im Norden, wo relative Ruhe herrscht. Während vom Opiumanbau im Süden des Landes vor allem die Taliban profitieren, ist er im Norden eine Geldquelle für regierungsnahe Kriminelle. Dabei trägt der eigentliche Opiumanbau kaum zu besseren Lebensverhältnissen für die Bauern bei. Ihnen kaufen Ersthändler die Ernte zu sogenannten „Farmtürpreisen“ ab und verkaufen sie weiter an die großen Dealer. Das richtig große Geld wird dann im Zuge der organisierten Bearbeitung und dem Transport der gefährlichen Ware ins Ausland von internationalen Drogenkartellen gemacht. Das Rohprodukt wird nur zum Teil noch in Afghanistan, meist jedoch in Nachbarländern wie Pakistan in Laboren zu Heroin weiterverarbeitet. Dabei wird das Vorprodukt in Nordafghanistan fast ausschließlich mit Regierungsfahrzeugen und mit Unterstützung von bestochenen Regierungsvertretern aus dem Land geschafft. Im Süden wird dazu die Logistik der Taliban genutzt. Die karren die Opiumpakete auf zivilen Fahrzeugkolonnen durch die Wüste, auf den von ihnen gesicherten Straßen nach Pakistan und in den Iran.

Zahllose Projekte und Programme existieren, mit dem Ziel, die Drogenproduktion zu drosseln – und doch geht die Kurve der Drogenstatistik nur in eine Richtung: steil nach oben.

Das Geld aus dem Drogengeschäft wird nur zu einem kleineren Teil in Afghanistan in anderen Sektoren investiert und gewaschen, der Löwenanteil wird jedoch mittels professioneller Geldkuriere ins Ausland transferiert.

Die Geschichte der Drogenbekämpfung in Afghanistan hat sich von brachialen Vernichtungsstrategien hin zu konstruktiven Ansätzen verfeinert. Doch stets kam sie dem berühmten Tropfen auf den heißen Stein gleich. Die gern empfohlene Vernichtung per Spray, mit der zum Beispiel 2007 eine US-Firma beauftragt wurde, zerstörte lediglich die Existenzgrundlage vieler Kleinbauern und machte diese empfänglich für die Hetze der Talibanpropaganda gegen den Westen. Längst werden Vernichtungsaktionen der Polizei oder des Militärs nur noch punktuell und in kleinem Maßstab angewandt. Denn Erfahrungen haben gezeigt, dass Drogenbarone, die Kontakte in die Reihen der Regierung haben, die Zerstörung der Opiumfelder dazu ausnutzen, die Ernte der Konkurrenz zu vernichten.

Auch an Informations- und Anbaukampagnen alternativer Produkte mangelte es nicht. Mit viel Geld und Energie wird afghanischen Bauern erklärt, welche Vorteile Weizen, Rosen oder Früchte haben. Und es gibt Spezialteams der afghanischen Polizei, oft unter westlicher Leitung, die teilweise sehr effektiv die Drogentransporte krimineller Banden verhindern. Doch auch hier gibt es berechtige Kritik, dass auch diese von gut vernetzten Dealern manipuliert würden, um die Konkurrenz zu schwächen. Auch gegen Geldwäsche und den Transfer der Drogengewinne ins Ausland wird vorgegangen. Erst kürzlich verabschiedete das afghanische Parlament zwei Gesetze, mit denen Geldwäsche und Geldtransfer erheblich reduziert werden sollen.

Selbst die Kooperation mit den Sicherheitsbehörden der Nachbarländer funktioniert mittlerweile besser, denn diese sind ausnahmslos selbst Opfer der afghanischen Drogenflut und deshalb an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert. Längst steigt die Zahl der Drogenabhängigen im Iran, in Pakistan und Tadschikistan sowie Usbekistan rasant.

Den wenigen Bauern, die aus dem Opiumanbau ausstiegen, konnte die afghanische Regierung allerdings bislang keine überzeugenden alternativen Lebensgrundlagen anbieten. Deshalb kehren viele nach ein bis zwei Jahren wieder zum bewährten Mohn zurück. Dabei gehören Bauern in Afghanistan zu den ärmsten Bevölkerungsschichten mit Einkommen unter dem Existenzminimum.

Es fehlen bis heute kohärente Roadmaps, um Afghanistan zu einem Land zu entwickeln, das die Bevölkerung eigenständig ernähren oder zumindest ein Leben über Existenzminimum gewährleisten kann.

Man sei einfach am Ende des eigenen Lateins angelangt, fasst Graeme Smith, Analyst der International Crisis Group in Afghanistan, das Dilemma zusammen. Das sei ein Resultat ihrer eigenen Strategie. Laut Smith, war jedweder Aktivismus stets begleitet von dem Unwillen – oder Unvermögen – den Maßnahmen grundlegende wirtschaftliche Entwicklungskonzepte anzuschließen. Es fehlen jedoch bis heute kohärente Roadmaps, um Afghanistan zu einem Land zu entwickeln, das die Bevölkerung eigenständig ernähren oder zumindest ein Leben über Existenzminimum gewährleisten kann. Smith findet, dass „der Westen“ bereits in den ersten Jahren seiner Intervention am Hindukusch grundlegende Fehler machte. Damals hätten neo-liberal denkende westliche Experten die Kabuler Regierung zur Übernahme einer neo-liberalen  Wirtschaftsordnung genötigt, in der Annahme auf Sicherheit werde schon ein Markt folgen.

 

Ein unorthodoxer Ausweg?

„Es gibt Lösungsvorschläge, die den Weltbankexperten überhaupt nicht gefallen, aber sie könnten helfen das Drogensproblem zu lösen“ sagt Smith, der das Thema seit Jahren begleitet. „Vor dem Krieg haben zum Beispiel die Bauern in Südafghanistan hauptsächlich Baumwolle angepflanzt. Das könnten sie auch heute tun, würde man die Samen subventionieren und die Produkte zu einem Mindestpreis wieder abkaufen.“ Das erfordere ein hohes Maß staatlicher Interventionen, doch kriegsbedingt seien die afghanischen Bauern auf dem Weltmarkt noch lange nicht konkurrenzfähig.

Die im neoliberalen Geist der 90er Jahre verfasste und 2004 angenommene neue afghanische Verfassung habe dem Land kapitalistische Marktwirtschaft verordnet, mit freiem Handel und geringer staatlicher Rolle. Wenn Afghanistan dagegen eine zunächst geschützte Wirtschaft hätte entwickeln können, so Smith, hätte die Baumwolle zudem in den noch vorhandenen aber nun brachliegenden großen Textilfabriken Afghanistans verarbeitet werden und dort zahlreiche Arbeitsplätze schaffen können.

Doch die Wegweiser für Afghanistan zeigen – wiederum durch westliche Berater unterstützt – in eine andere Richtung. Sie drängen Kabul zu einer weiteren Liberalisierung der Wirtschaft und zur Mitgliedschaft in der WTO. Das Ende der afghanischen Hydra, des Opiumkomplexes, ist damit gewiss nicht in Sicht.