Nur zögerlich kommt eine Debatte darüber in Gang, welche Lehren aus der militärischen Intervention in Afghanistan zu ziehen sind. Aus der Sicht mancher in der NATO war ISAF allein schon dadurch ein Erfolg, dass das Bündnis über mehr als ein Jahrzehnt in der Lage war, die Mission durchzuführen und durchzuhalten.
Ob das Unternehmen an sich erfolgreich war, ob die Ziele erreicht wurden und die eingesetzte Strategie angemessen war, das scheint aus dieser Sicht keine Rolle zu spielen. Diese geradezu autistische Betrachtungsweise ist jedoch gefährlich. Denn sie verhindert Lernen. Sie möchte die Diskussion über Nutzen und Erfolg, Sinn und Unsinn des ganzen Unterfangens in Afghanistan vermeiden. Notwendig ist dagegen ein nüchterner Blick zurück, um Lehren für künftige Interventionen zu ziehen. Denn trotz der gegenwärtigen Interventionsskepsis dürfte der Ruf nach dem Einsatz militärischer Gewalt immer wieder einmal laut werden, wenn andere Instrumente keinen Erfolg versprechen.
Zur Erinnerung: Das politische Ziel der Afghanistan-Intervention nach dem Sturz der Taliban und der Zerstörung von al-Qaida war der Aufbau eines modernen, funktionierenden, weithin als legitim angesehenen afghanischen Staates mit Kontrolle über sein Territorium. Entstehen sollte ein repräsentatives politisches System, liberaldemokratische Normen und afghanische Traditionen sollten sich miteinander verbinden. Diese Erwartung spiegelte sich nicht zuletzt in der Afghanistan-Vereinbarung vom 5. Dezember 2001, dem Ergebnis der UN Afghanistan-Konferenz auf dem Petersberg bei Bonn. Dort war die Rede vom Recht des afghanischen Volkes „seine politische Zukunft im Einklang mit den Grundsätzen des Islam, der Demokratie, des Pluralismus und der sozialen Gerechtigkeit in Freiheit selbst zu bestimmen“.
Afghanistan: Euphorische Naivität
Im Grunde ging es also um ein ehrgeiziges Projekt der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Transformation des Landes. Dessen Problematik und Konfliktträchtigkeit wurden in der anfänglichen Aufbruchsstimmung nicht nur von den USA, sondern auch von der internationalen Gemeinschaft insgesamt unterschätzt. Seltsam klingt im Nachhinein die Rede vom Aufbau einer „blühenden Demokratie“ (US-Präsident George W. Bush). In geradezu sozialtechnokratischer Euphorie schien dieser Modernisierungsprozess nur eine Frage des koordinierten Einsatzes entsprechender Ressourcen zu sein. Die Politik in Afghanistan folgte dem Modell des „liberal peace-building“, wie es im Kontext der Interventionen der 1990er Jahre Gestalt gewonnen hatte.
Nicht minder ambitioniert war die hochgepriesene amerikanische „Counterinsurgency-Strategie“ (COIN). Sie wurde immer wieder als Schlüssel zum Erfolg angepriesen, nachdem klar wurde, dass man sich einer ausgewachsenen Aufstandsbewegung der aus dem politischen Prozess ausgeschlossenen Taliban gegenüber sah. Die COIN-Doktrin, wie sie in Afghanistan verfolgt und mit der „Allied Joint Doctrine for Counterinsurgency“ im Februar 2011 innerhalb der NATO kodifiziert wurde, war und ist mehr als eine Militärdoktrin. Sie versteht sich als ein umfassendes Konzept für den Einsatz militärischer, politischer, wirtschaftlicher und propagandistischer Mittel in einem asymmetrischen kriegerischen Konflikt, in dem Regierung und Aufständische um die Kontrolle über die Bevölkerung konkurrieren.
Nicht nur in Deutschland wird die „feindzentrierte“ Seite des Konzepts gern ausgeblendet, die von Gewaltanwendung und Opfern unter der Bevölkerung gekennzeichnet ist.
Nicht nur in Deutschland wird die „feindzentrierte“ Seite des Konzepts gern ausgeblendet, die von Gewaltanwendung und Opfern unter der Bevölkerung gekennzeichnet ist. Betont wird eher die „bevölkerungszentrierte“ Dimension. Bei dieser geht es vor allem darum, über die Gewährleistung von Sicherheit und gutem Regieren die Masse der Bevölkerung zu der Einsicht zu bewegen, dass eine erfolgreiche Aufstandsbekämpfung in ihrem rational kalkulierten Eigeninteresse liegt. Geistig ist COIN – ähnlich wie das „liberal peace-building“ – im sozialtechnokratischen Optimismus der Modernisierungstheorien verwurzelt. Dieser lebt in der Annahme fort, bei ausreichendem Einsatz von Ressourcen und einem langen Atem lasse sich im Grunde überall ein effektiver Staat aufbauen, der von der breiten Mehrheit der Bevölkerung als legitim anerkannt wird. Und dieser Staat könne über die Bereitstellung öffentlicher Leistungen, darunter insbesondere Sicherheit, in der bewaffneten politischen Konkurrenz mit den Aufständischen die Loyalität der Bevölkerung gewinnen. So heißt es im US Government Counterinsurgency Guide vom Januar 2009: „Um das Vertrauen und die Unterstützung der Bevölkerung zu gewinnen, ist es zentral, die Qualität des Regierens durch politische Reform, die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit und, wenn angemessen, wirtschaftliche Entwicklung zu verbessern.“
COIN war in Afghanistan von einem Überoptimismus getragen, der für militärische Organisationen geradezu essentiell ist. Doch dieser wurde nie einer realistischen Evaluation ausgesetzt. Angesichts der Schwierigkeiten, Fortschritte in einer komplexen Mission zu messen, war es vielleicht geradezu unvermeidlich, dass das US-Militär am Ende wieder auf die Messlatte des „body count“ zurückfiel: Militärisch geht es in der amerikanischen Afghanistan-Strategie seit geraumer Zeit um kaum mehr als die Ausschaltung möglichst vieler Aufständischer durch Tötung und Gefangennahme. Mal geschieht dies in der Hoffnung, die Führung des Gegners verhandlungsbereit zu stimmen, mal in der Erwartung, dass gestärkte afghanische Sicherheitskräfte so eher in die Lage versetzt werden, mit der letztlich nicht ganz zu beseitigenden Bedrohung fertig zu werden. Erst wenn man das Scheitern von „Counterinsurgency“ in aller Nüchternheit akzeptiert, ist man offen dafür, produktive Lehren aus Afghanistan zu ziehen.
Militärisch geht es in der amerikanischen Afghanistan-Strategie seit geraumer Zeit um kaum mehr als die Ausschaltung möglichst vieler Aufständischer durch Tötung und Gefangennahme.
Sicher, man mag argumentieren, Erfolg oder Scheitern sind nicht die brauchbarsten Kategorien. Vielmehr gehe es um Fortschritte auf dem Weg zu einer Stabilisierung. Denn mit Beharrlichkeit und Durchhaltevermögen lasse sich der Erfolg allen Widrigkeiten zum Trotz vielleicht doch noch erringen. Doch es lässt sich nicht bestreiten: Die Einsatzfähigkeit und Einsatzbereitschaft der afghanischen Armee erfüllt nicht die Erwartungen; von einer guten Regierungsführung bleibt Afghanistan noch weit entfernt; und von einem Friedens- und Aussöhnungsprozess ist wenig zu erkennen. Der seit mehr als drei Jahrzehnten währende afghanische Bürgerkrieg dürfte mit der Reduzierung der westlichen Präsenz vermutlich in eine neue Phase treten. Sein Ausgang wird auch davon abhängen, wie lange der US-Kongress bereit ist, die afghanischen Sicherheitskräfte mit Milliarden von US-Dollar zu unterstützen.
Die Lehre: Das Primat der Politik
Was also ist im Sinne einer Vermeidung künftiger Fehler zu lernen? Militärische Macht muss auf einen klaren politischen Zweck ausgerichtet sein, der einigermaßen realistisch ist – nicht auf grandiose Visionen. Und der Einsatz muss auf erreichbare militärische Ziele zugeschnitten sein, die dem politischen Zweck entsprechen – und dies wird oft eine politische Lösung des Konflikts sein. Die Taktik darf diese Ziele nicht konterkarieren.
Wenn Einsätze wie in Afghanistan im Grunde eine „mission impossible“ sind, kann dann die Zukunft von Interventionen nur in „hit and run“-Einsätzen wie in Libyen liegen? In der Beseitigung einer Regierung ohne Verantwortung für das folgende Chaos? Sicher nicht.
Afghanistan und Libyen lehren eines: große Zurückhaltung und Selbstbescheidung beim Einsatz militärischer Gewalt. Denn als politisches Instrument ist militärische Gewalt aller Erfahrung nach – das zeigen empirische Untersuchungen zu militärischen Interventionen nach 1945 – nicht sehr effektiv. Territorien lassen sich verteidigen oder erobern, Regime stürzen, aber politische Ziele nur schwer mit militärischer Gewalt erzwingen. Das gilt insbesondere dann, wenn der Einsatz sich gegen nicht-staatliche Akteure richtet.
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