Sie schreiben in Ihrem Buch „Die liberale Illusion“, die Linke habe nach dem Ende des Kalten Krieges ihre Systemkritik aufgegeben. War das nicht konsequent? Der Kapitalismus hatte gesiegt. Es wurde Zeit, sich ihm voll und ganz zu unterwerfen.
Eine neoliberale „Friss oder stirb“-Mentalität hat in der letzten Zeit viel Unheil angerichtet. Die moderaten Linken haben eher aufgehört, eine Gegenmacht zum Kapital und eine Schutzmacht für die kleinen Leute zu sein. Viele Sozialdemokraten wollen heute für ihre pragmatische und postideologische Politik gelobt werden. Sie freuen sich, wenn ein paar Banker ihnen attestieren, vernünftig zu sein. Das ist die konsequente Fortsetzung von New Labour und des „Dritten Weges“, die heute als „Neoliberalismus light“ bezeichnet werden müssen. Ich glaube aber, dass diese Zeit des Dritten Weges vorbei ist. Vielmehr sogar: Mitte-links hat sich mit dem Dritten Weg größtenteils geirrt. Aber noch gibt es starke Beharrungskräfte, die das nicht akzeptieren können und wollen.
Warum? Die Mitte-links-Parteien haben fast überall in Europa harte Verluste zu verzeichnen. Ein Umdenken liegt doch nahe.
Es ist eigentlich ziemlich einfach. Diejenigen, die zur Zeit des „Dritten Weges“ politisch sozialisiert wurden, müssten zugeben, dass sie jahrelang an den falschen Götzen geglaubt haben. Das ist hart. Zudem sind auch einige junge Nachwuchspolitiker nicht gerade links. Die sind im Sinne der Politikwissenschaftlerin Nancy Fraser „progressive Neoliberale“. Zwar haben sich zuletzt im „Spiegel“ ein paar junge SPD-Abgeordnete gegen den Neoliberalismus gestellt. Aber an der sozialliberalen Grundorientierung der linken Mitte ändert das erst mal noch nichts.
Was müsste sich aus Ihrer Sicht ändern?
Finanzkrise, Trump und Brexit waren eine Zäsur. Aber die Regierungsparteien machen einfach so weiter wie bisher. Als Weiter-so-Partei wird aber keine sozialdemokratische Partei überleben. Die linke Mitte ist gefangen zwischen den Polen der liberalen Selbstzufriedenheit und des systemkritischen Populismus. Noch eine selbstzufriedene Management-Partei braucht es aber nicht. Daher müssen die Sozialdemokraten wieder systemkritischer werden. Und von allen wahlstrategischen Fragen mal abgesehen: Es ist einfach richtig, nicht in Selbstzufriedenheit abzudriften. Denn wir haben als Menschheit bei weitem nicht erreicht, was wir erreichen können. Wir brauchen also keine Postideologie. Wir brauchen vielmehr neue Visionen. Wir sollten wieder mit Ernst Bloch die „konkrete Utopie“ denken.
Als postmaterialistische Partei kann keine linke Volkspartei funktionieren.
Sie sprechen in ihrem Buch von einer postmodernen Linken, die sich einem moralisierenden Liberalismus verschrieben hat. Was meinen Sie damit?
Was ist denn zuletzt passiert? Erst ließ die moderate Linke sich von der liberalen Illusion vom „Ende der Geschichte“ blenden. Francis Fukuyama hatte ja nach 1990 quasi gesagt: Das war es Leute. Der Weltgeist hat sich zur Vollendung getrieben. Lasst die Stifte fallen und freut euch über den Sieg des Liberalismus. Dieser Illusion sind eben auch die moderaten Linken in ihrem „Dritten Weg“ auf den Leim gegangen. Aber dann passierte noch etwas. Eine postmodern geprägte Gesellschaftspolitik wurde langsam zur Agenda der Mitte-Parteien von links. Man rief hauptsächlich nach Toleranz und Weltoffenheit und hypte den Multikulturalismus. Die Botschaft war: Alles ist gut, und alles ist auf dem richtigen Weg. Lehnt euch zurück und seht dem Liberalismus beim Siegen zu. Das einzig Wichtige sei nun im bestehenden System zur richtigen Moral zu finden. In Deutschland hat sich selbst die „Konservative“ Angela Merkel dieser Agenda weitgehend angeschlossen und ist sogar zu einem Oberhaupt eines neuen Sonnenscheinliberalismus gewachsen.
Wie äußert sich dieser moralisierende Liberalismus konkret?
„Celebrate Diversity“ hieß es beim Eurovision Song Contest 2017 beispielsweise. Besser kann man den postmodernen Kulturkampf nicht beschreiben, der die Mitte-Parteien, aber auch Teile des Journalismus erfasst hat. Und alle, die bei dieser Agenda nicht mitzogen, wurden dann moralisch nach unten gedrückt. Man denke da nur an Hillary Clintons Vorwurf, dass ein Großteil der Trump-Unterstützer ein „Haufen von Erbärmlichen“ sei. Auch in Frankreich ist Macron ein Meister darin, arrogant und überheblich mit den kleinen Leuten umzugehen. Auch in Deutschland durfte man im Wahlkampf 2017 diese liberal-postmoderne Weltbildpolitik beobachten und zuletzt im Umgang mit den Verantwortlichen bei der Essener Tafel. Merkel, Grüne und Teile der SPD schritten sofort zur moralischen Ermahnung der Verantwortlichen.
Was ist falsch daran, Diversität zu feiern? Läuft Ihre Kritik hier nicht Gefahr, den Rechtspopulisten in die Hände zu spielen?
Dieses Argument habe ich im letzten Jahr oft gehört. Was wurde mir nicht alles vorgeworfen. Ich sei ein bisschen reaktionär und ein bisschen rechts und würde die Rechtspopulisten doch nur stark machen. Ich halte das für Unsinn. Ich plädiere für einen „linken Realismus“. Linker Realismus bedeutet, nichts zu beschönigen und nichts weg zu ignorieren, sondern Probleme zu benennen. Nur wenn man Probleme benennt, kann man sie auch beheben. Und meine Kritik an den postmodernen Linken ist zudem, dass sie sich in Weltbilddiskussionen verfangen. Das gilt übrigens für fast die ganze politische Elite. Es wird zurzeit vor allem darüber geredet, welche Haltung und welches Weltbild man hat. Gehört der Islam zu Deutschland? Ja oder Nein. Bist du für Flüchtlinge oder dagegen? Bist du bei uns Liberalen oder bist du es nicht? Hier wird nur eine Identitätspolitik gegen die andere in Stellung gebracht. Aber das ist doch keine Politik. In Zeiten massiver sozialer Ungerechtigkeit müssen wir zurück zur „sozialen Frage“ und zur Systemkritik. Auch der Eurokapitalismus wird von innen implodieren, wenn da bald nicht eine Wende in der Europapolitik kommt. Moralpolitik nach dem Motto „Macron wartet auf eine Antwort“ ist jedenfalls keine sinnvolle Europapolitik. Die Eurozone hat Strukturprobleme. Das sollte man nicht wegmoralisieren.
Wir leben noch nicht in der besten aller Welten. Wir sollten auch nicht so tun, als würde alles von unsichtbarer Hand besser.
Die moderate Linke wollte den Kapitalismus nie abschaffen. Im Gegenteil. Sie hat ihn durch Sozialprogramme erträglich und mehrheitsfähig gemacht. Welche Form von Kapitalismuskritik ist aus Ihrer Sicht dennoch angebracht?
Es braucht eine Gegenmacht zum Großkapital, die für die Demokratisierung der Wirtschaft kämpft und Politik für die Menschen und nicht für die Märkte macht. Mir schwebt die Wiederherstellung des „sozialdemokratisch-korporatistischen Konsenses“ vor, so wie der Soziologe Andreas Reckwitz jene Wirtschaftsphilosophie, die vor dem Neoliberalismus herrschte, zuletzt beschrieben hat. Ich will einen neuen sozial eingehegten Industriekapitalismus. Ich habe mit dem Kapitalismus an sich kein Problem. Aber ich halte diesen neoliberalen Finanzkapitalismus für ein System, welches von innen implodieren wird, wenn es nicht reguliert und nicht eingedämmt wird. Ich will auch zu einem Keynesianismus für das 21. Jahrhundert kommen. Wenn die Linke es weiter zulässt, dass die Finanzkapitalisten frei nach Gordon Gekkos Philosophie „Gier ist gut“ leben und weiter fast tun dürfen, was sie wollen, dann wird von dem demokratischen Kapitalismus bald nur noch der Kapitalismus übrig bleiben. Schauen sie auf die USA, das ist doch schon ein neo-feudales System. Wahlkampf ist dort zuletzt auch zu einem postdemokratischen Showwettbewerb geworden. Und der postmoderne Meisterschüler der Unterhaltungsdemokratie, nämlich Donald Trump, sitzt jetzt im Weißen Haus. Ich will das bei uns nicht. Die USA sollten auch mal aufwachen. „Get real“ hat der US-Politikwissenschaftler Mark Lilla seinen Landsleuten und vor allem der US-Linke zuletzt zugerufen. Er hat Recht. Hört auf ihn. Dem Anything goes des Finanzkapitalismus muss man entgegentreten.
Wollen Sie einen demokratischen Sozialismus à la Bernie Sanders?
Willy Brandt galt auch nie als Sozialist. Aber noch 1991 hat er Folgendes gesagt: Es werde sich noch „als geschichtlicher Irrtum erweisen, das dem demokratischen Sozialismus zugrundeliegende Ideal – die Zusammenfügung von Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität – als überholt abtun zu wollen.“ Da gebe ich ihm vollkommen Recht. Aber genau diesem geschichtlichen Irrtum sind die politische Elite und gerade die moderate Linke doch zum Opfer gefallen. Zuletzt gab es fast nur noch Rufe nach mehr Liberalisierung. Aber wird Solidarität in den Parteizentralen der linken Mitte noch als die entscheidende Antriebskraft verstanden? Gerade eher nicht. Und das nenne ich die „liberale Illusion“. Mehr als diffusen Linksliberalismus haben weite Teile der linken Mitte gerade nicht mehr zu bieten.
Was meinen Sie mit "diffusem" Linksliberalismus?
Die linke Mitte konnte zuletzt doch gar nicht mehr richtig angeben, für wen sie Politik machen will. Als postmaterialistische Partei, als Grüne 2.0, kann keine linke Volkspartei funktionieren. Wer sich hauptsächlich um Werbe-Hipster in Berlin kümmert, vergisst schnell die Industriearbeiter in Nordrhein-Westfalen und in Baden-Württemberg. Volksparteien müssen aber integrieren. Das haben die Sozialdemokraten zuletzt weniger geschafft. Die „Parti socialiste“ in Frankreich hat da sogar komplett versagt. In Deutschland wirkte die SPD zuletzt wie eine Partei, in der Google-Praktikanten die Sprachbilder entwerfen, und welche Politik für ein kosmopolitisches Jet-Set-Bürgertum macht. Das ist aber der falsche Kurs. Die linke Mitte muss dementgegen etwa ernstzunehmende Angebote für Menschen aus dem „Dienstleistungsprekariat“ haben. Und für all jene, die sich Sorgen machen, angesichts der Digitalisierung und der Globalisierung. Wir müssen deren Schutzmacht sein und nicht die Co-Manager des Kapitals. Und wenn wir etwas für die Menschen tun, die sich „Sorgen“ machen, dann werden uns auch jene ökonomisch besser Situierten wählen, die aus Gründen des Zusammenhalts befürworten, dass wir etwas für diese Menschen tun. Zudem sind es doch auch Teile der Mittelschicht satt, dass sie den Staat finanzieren sollen und die Reichen sich einen schlanken Fuß machen. Das muss man aussprechen. So kann ein Aufbruch gelingen.
Worin besteht dieser Aufbruch, für den Sie plädieren?
Zuerst einmal darin Folgendes anzuerkennen: Wir leben noch nicht in der besten aller Welten. Wir sollten auch nicht so tun, als würde alles von unsichtbarer Hand besser. Wir sollten die Augen auf machen und mit Realismus und mit Idealismus für eine bessere Welt kämpfen. Wir müssen dafür auch dahin gehen, „wo es brodelt, riecht und stinkt“ wie es Sigmar Gabriel ausgedrückt hat. Wenn wir das als Sozialdemokratie nicht leisten, werden wir in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Die Fragen stellte <link ipg autorinnen-und-autoren autor ipg-author detail author hannes-alpen>Hannes Alpen.