Die Bezeichnung „Krise“ für politische Zustände scheint sich in jüngster Zeit zu mehren. Finanzkrise, Euro-Krise, Ukraine-Krise, Flüchtlingskrise. Was lässt sich unter dem Begriff eigentlich fassen?

Der Begriff „Krise“ wird als eine Zustandsbeschreibung verwendet. Im Allgemeinen bezeichnet er ein System, das dysfunktional und daher gefährdet ist. Dass wir momentan nach den 1970er Jahren, dem anderen „Krisenjahrzehnt“, nun wieder so viele Krisendiskurse führen, ist vielleicht ein Zeichen, dass die westlichen, demokratischen Systeme, deren Siegeszug seit den 1990er Jahren gewiss schien, mit fundamentalen Selbstzweifeln konfrontiert sind. Krisendiskurse drücken eine hohe Unsicherheit aus, die in negativen Gegenwartsbeschreibungen verarbeitet wird. Krisendiagnosen sind aber auch immer mit der Aufforderung verknüpft, zu handeln. Sie sind daher auch ein Instrument politischer Akteure, die mittels einer Krisendiagnose Einfluss aus Parameter des politischen Systems zu bekommen versuchen, welche in Normalzeiten nicht zu verändern sind.

Das klingt fast so, als würden Krisen angestrebt werden. Aber wird man nicht vielmehr von Krisen getrieben oder ist Opfer einer Krise?

Dieser Gedanke folgt eher der klassischen Marxistischen Theorie, dass der Kapitalismus systemisch krisenanfällig ist und die Krisen aus sich heraus handlungstreibend wirken. Hier bekommt die Krise einen objektiven Charakter, der auf die Widersprüchen des Kapitalismus zurück geht. Aber die Krise als konstruktivistisches Element im gesellschaftlichen Diskurs ist vor allem ein besonders starkes, beliebtes und zeitgenössisches Mittel, Politik zu machen. Was nicht heißt, dass die als Krise beschriebenen Ereignisse nicht real und potentiell katastrophal sein können. Eine Krise muss für die gegenwärtige Situation eine ernsthafte Katastrophe wahrscheinlich werden lassen. Eine Katastrophe tritt ein, und wir können nur noch ihre Schäden besichtigen, der Krisenbegriff betont aber die Zukunftsoffenheit, die potentielle Katastrophe ist noch abwendbar. Die Krise ist nie fatalistisch. Der Fatalismus kann allerdings ins Spiel kommen bei einer Aneinanderreihung von Krisen, quasi einer Dauerkrise. Diesestellt eigentlich einen begrifflichen Widerspruch dar, denn in der Krise entscheidet sich eine Situation. Wenn die Krise aber permanent wird, dann verbraucht sich der Krisenbegriff. Auch die Mobilisierungswirkung des Krisenbegriffs ist dann irgendwann gefährdet. Beispiel: Arbeitslosenzahlen. Da ist immer mal wieder von der Krise am Arbeitsmarkt die Rede. Wie viele Arbeitslose aber eine Krise darstellen, das ist eine Wahrnehmungsfrage. Dem diskursiven Verständnis von Krise zufolge gibt es daher keine objektive Krise, keinen Schwellenwert, der, wenn überschritten, es zwingend macht, von einer Krise zu reden. Die Handlungsmaxime entsteht nicht aus der Situation selbst heraus, sondern aus dem gesellschaftlichen Diskurs über diese.

Eine krisenfreie Politik ist für moderne Gesellschaften wohl undenkbar.

Tragen aber nicht komplexe Phänomene wie Globalisierung dazu bei, dass ein Anpassungsdruck auf Teilsysteme entsteht? Diese Anpassungen würden dann als Krisen wahrgenommen werden.

Eine krisenfreie Politik ist für moderne Gesellschaften wohl undenkbar, schon weil Fortschritts- und Krisendiskurse oftmals zusammengehören. Tatsächlich ist der Fortschritt durch Kriseninduktion besonders stark. Wenn man Gesellschaft als in Bahnen verlaufend denkt, die sich auch mal ändern können und die aufgebrochen werden können, dann sind Krisen ein wichtiges Instrument der Steuerung. Die Frage ist, ob man jeweils gleich zur Krisenbeschreibung greifen muss, oder es nicht auch möglich wäre, anders zu steuern, etwa kommunikativ unaufgeregter. Denn eines der Probleme von Krisendiagnosen ist, dass sie nicht nur öffnend, sondern zugleich diskursverengend wirken. Die Beschreibung von strukturellen Defiziten, Unzulänglichkeiten und Gefahren, bewirkt nicht aus sich heraus schon Einigkeit über die Lösung. Über diese wird vielmehr angesichts der Dramatik der Krise oft viel wenig und nur unter stärken Zwängen nachgedacht. Es gilt der Imperativ: Hauptsache handeln und zwar schnell. Die Krise bekommt so die Form eines Ausnahmezustands, in dem man alles machen kann.

Der Handlungsdruck einerseits und das verengen der Lösungsansätze andererseits, das erinnert an den in den Sprachgebrauch vieler Politiker eingegangen Begriff der Alternativlosigkeit. Sehen Sie hier eine Korrelation?

Jede Krise hat dieses Entweder/Oder-Moment: Entweder wir machen weiter wie bisher und gehen unter, oder wir machen etwas anders und alles wird besser. Der Begriff der Alternativlosigkeit verengt den Moment des Oders auf nur eine Lösung. Gemeinsam haben Krise und Alternativlosigkeit auch, dass in ihnen die Bedeutung exekutiver Akteure betont wird. Eigentlich bräuchte es Zeit, um über Alternativen nachzudenken. Doch dafür gibt es in einer Krise keine Zeit und angesichts von Alternativlosigkeit keinen Bedarf.

Aber Ansätze dafür sind doch erkennbar. In Krisen werden stets Experten zu Rate gezogen, die die Krise erklären und nach Lösungen suchen sollen.

Es gibt in der Krise zwei übliche Phänomene in Bezug auf Expertise. Zum einen gibt es die Reaktion, die Entscheidungen vermeintlich zu entpolitisieren und an eine technische Entscheidungsebene von Experten abzugeben, in der Finanzkrise etwa an die Europäische Zentralbank. Zum anderen aber findet in der Krise auch eine Entwertung von Expertise statt. Das sehen wir gerade etwa im Zusammenhang mit dem Aufschwung populistischer Bewegungen. Expertise wird hier sehr generell und umfassend für die Krise verantwortlich gemacht, ein anti-elitärer Diskurs entsteht, in dem nach einer Persönlichkeit gesucht wird, die die Krise allein durch Entscheidungskraft und Willen lösen kann. Die Krise hat also sowohl einen auf-, als auch einen abwerten Effekt auf Expertise. Populismus wie Entpolitisierung haben gemeinsam, dass sie die langsamen diskursiven Prozesse abwerten, die in einer Demokratie wichtig sind.

„Krise“ ist ein beliebtes Narrativ im Journalismus und ein wunderbares Mittel, um Aufmerksamkeit zu generieren.

Führt das permanente Entwerten und Generieren von neuer Expertise in einer Aneinanderreihung von Krisen nicht zu Abnutzungseffekten und einer schleichenden Delegitimation?

Eine Gesellschaft, die sich im Modus einer Dauerkrise befindet, wo jede Krise immer neue Krisen nach sich zieht, lebt tatsächlich in der Gefahr, dass sich die Krisen von Teilbereichen hochschrauben und die Legitimation des Gesamtsystems prekär wird. Diese zersetzende Wirkung von Krisendiskursen lässt sich etwa an der Endphase der Weimarer Republik studieren.

Ist die aktuelle Virulenz des Krisendiskurses ein Indikator für eine solche Dauerkrise?

Wenn der Eindruck entstünde, dass die Entscheidungsebene immer nur Lösungen hervorbringt, die zu keiner wirklichen Lösung der Krise führen, dann bestünde eine echte Gefahr. Allerdings entwickelt die reine mediale Ausrufung einer Krise noch nicht diese Kraft. Ich denke aber nicht, dass wir in Deutschland derzeit an einem so kritischen Punkt angelangt sind – mit Blick auf andere europäische Staaten und die Europäische Union könnte dies aber eine realistischere Sorge sein.  In Deutschland haben wir auch in den letzten zehn Jahren immer wieder Erholungsphasen gesehen, in denen Politik sich wieder gefangen hat, in denen Teilbereiche sich wieder stabilisiert haben. Aber „Krise“ ist natürlich auch ein beliebtes Narrativ im Journalismus und ein wunderbares Mittel, um Aufmerksamkeit zu generieren. Ein routinehaftes, sich selbst überbietendes Ausrufen von Krisen ist in dieser Hinsicht nicht überraschend.

Finden in den letzten Jahren mehr Krisen statt oder ist das nur eine Wahrnehmungsfrage?

Absolute Zahlen hierzu gibt es nicht, was schon mit der Unmöglichkeit zusammenhängt, Krisen objektiv zu definieren. Von einem Anstieg der Ausrufung von Krisen lässt sich allerdings wohl ausgehen. Und auch die Interdependenz von Krisen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen sowie zwischen Weltregionen hat deutlich zugenommen.

Liegt das an der zunehmend vernetzten Welt?

Sicher entsteht durch eine vernetzte Welt ein höheres Potenzial an Irritationen in den Einzelsystemen. Das ist aber nicht per se etwas Schlechtes. Denken wir einmal an die Krise eines autoritären Regimes, das sich in einer offenen Welt nicht mehr abschotten kann. Es liegt immer im Auge des Betrachters, ob eine Krise eine destruktive oder eine progressive Kraft ist.

 

Also entscheidet am Ende der Mensch und seine Fähigkeit, sich anzupassen und Veränderung zuzulassen, was eine Krise ist?

In der Tat wird der Begriff Krise ja auch auf der persönlichen Ebene verwendet. Und interessant ist auch, dass mit dem Begriff der „Resilienz“, ein Begriff mit psychologischer Konnotation, immer mehr Anwendung auf der gesamtgesellschaftliche Ebene findet. Resilienz, als Aushalten-Können von Krisensituationen verstanden, gilt als eine der vielversprechendsten Reaktionen auf Krisensituationen. Sie wird etwa im Zusammenhang mit Terrorismus gefordert. Resilienz meint dann eine Krisenfestigkeit, die aus der Bereitschaft erwächst, sich von einer nicht komplett kontrollierbaren Bedrohung nicht übermäßig beeinflussen zu lassen. Allerdings kann der Mensch nur begrenzt adaptiv auf Krisen reagieren. Die Wahrnehmung fundamentaler Unsicherheit ist nichts, an das wir uns dauerhaft gewöhnen. Diesbezüglich bewirkt die schon angesprochene Verfestigung von Krisendiskursen die Gefahr einer langfristigen Destabilisierung. Hiergegen sollten wir aber auf die Fähigkeit der Demokratie vertrauen, Individuen hervorzubringen, die Kontingenz und Unsicherheit als Herausforderung akzeptieren sowie responsive Institutionen schaffen, die es vermögen, Wandel auch ohne den ‚Krisenmodus‘ der Politik anzugehen.

Die Fragen stellte Hannes Alpen.