Laut der IOM, der Internationalen Organisation für Migration, ertranken 2016 über 5000 Menschen im Mittelmeer bei ihrem Versuch nach Europa zu gelangen. Einige davon waren Flüchtlinge, die einer politischen Verfolgung oder dem Krieg entkommen wollten. Andere sahen sich aus anderen Gründen gezwungen, die tödliche Reise über das gefährliche Meer auf sich zu nehmen. Sie bestiegen Boote, von denen sie wussten, dass sie nicht sicher waren. Einige, weil sie glaubten, sie hätten nichts mehr zu verlieren. Nachdem sie bereits das lebensgefährliche »Wüstenmeer« Sahara durchquert haben (ein Alptraum den kein Flüchtling ein zweites Mal durchleben will) erscheint die letzte Etappe als einfache Aufgabe.
Angesichts dieser humanitären Katastrophe, die sich tagtäglich vor unseren Augen im Mittelmeer abspielt, gebietet es die Moral, mit der Zuwanderung nach Europa auf menschlichere Weise umzugehen. Was moralisch richtig ist, ist jedoch nicht auch zwangsläufig wirtschaftlich vernünftig oder auch politisch umsetzbar. In meinem Beitrag versuche ich zu zeigen, warum die Linke sich um eine freiere Zuwanderung bemühen muss. Aber auch wie solch ein politischer Kurs zu mehr Wachstum und Wohlstand führen kann und auch von den Wählern Unterstützung bekommen kann.
Die Agenda 2030 enthält klare Ziele und Vorgaben wie internationale Migration genutzt werden kann, um eine nachhaltige Entwicklung für Alle zu erreichen.
Ich begründe meine Sicht der Dinge im Wesentlichen auf folgende Argumente: Die Linke muss für sich eine Strategie entwickeln (auch abseits der Flüchtlingskrise), mit der das maximale Potenzial für mehr Entwicklung und Wohlstand durch eine höhere menschliche Mobilität ausgeschöpft werden kann. Aber gleichzeitig braucht die Linke auch konkrete politische Lösungen, mit denen das Vertrauen in eine Politik der freieren Zuwanderung aufgebaut und eine langfristige breite Unterstützung erreicht werden kann. Es ist möglich, diese Strategie zu erarbeiten, nicht zuletzt in dem das globale Momentum rund um die Agenda 2030 der UN genutzt wird, und konkrete politische Lösungen voranzutreiben. Die Agenda 2030 enthält klare Ziele und Vorgaben wie internationale Migration genutzt werden kann, um eine nachhaltige Entwicklung für Alle zu erreichen.
Zunächst ist es wichtig zu realisieren, dass Migration Wachstum und Entwicklung auf mehreren Ebenen voranbringen kann: für die Migranten selbst, aber auch für das Land, das sie verlassen haben, und auch für die aufnehmenden Gemeinschaften und Zielländer.
Genauso wichtig ist die Erkenntnis, dass sich diese Vorteile durch Einwanderung häufig erst langfristig und indirekt bemerkbar machen, während die Kosten der Migration oft kurzfristig und geballt anfallen. Langfristige Gewinne wie ein höheres Wirtschaftswachstum sind kein Trost für diejenigen, die die kurzfristigen Kosten zu tragen haben, wie Menschen, die in überbevölkerten, sozial benachteiligten Stadtvierteln wohnen, in denen sich oft die meisten neu ankommenden Zuwanderer ansiedeln, oder Menschen, die in denjenigen Teilen des Arbeitsmarktes beschäftigt sind, in denen sie oft mit Arbeitsmigranten um Arbeitsplätze, die nur geringe Qualifikationen erfordern, konkurrieren.
Ein wesentlicher Teil der linken Strategie für mehr Offenheit und freiere Zuwanderung muss darin bestehen, Brücken zwischen den gewaltigen menschlichen, wirtschaftlichen und sozialen Vorteilen, die mit der Einwanderung einhergehen können, und den Kosten, die unweigerlich hier und jetzt entstehen zu bauen. Meiner Meinung nach ist die Bewältigung dieser Herausforderung vor allem eine Frage der politischen Ausrichtung. Eine Frage der politischen Ausrichtung, weil wenn wir als Gesellschaft nicht nach Offenheit streben, wird früher oder später ein nach innen gerichteter Nationalismus uns von innen her auffressen. Nur zielstrebige Politiker mit einem Gespür für den richtigen Kurs, können Vertrauen und langfristige Unterstützung für eine freiere Einwanderungspolitik aufbauen.
Eine Welt ohne Grenzen wäre eine Welt mit einer einzigen globalen Regierung. Es ist nur schwer vorstellbar, dass eine solche Weltordnung demokratisch wäre.
Zentral für die Bewältigung dieser Herausforderung ist Umverteilung, eine Grundidee der Linken. Es ist die Aufgabe einer globalen Migrationssteuerung und der Migrationspolitik auf nationaler und lokaler Ebene, die riesigen humanen, ökonomischen und sozialen Vorteile, die Migration hervorbringt, neu zu verteilen und um damit die ungleich entstandenen Kosten der Migration abzudecken.
Auch ist es wichtig, sich gleich zu Beginn bewusst zu machen, dass Grenzen zwischen Staaten eine wichtige Funktion haben. Grenzen dienen als demokratische Abgrenzungen; sie markieren geografische Begrenzungen (wenn auch keine absoluten) der Macht und der Verantwortlichkeiten von Staaten und Regierungen. Eine Welt ohne Grenzen wäre eine Welt mit einer einzigen globalen Regierung. Es ist nur schwer vorstellbar, dass eine solche Weltordnung demokratisch wäre, denn es wäre sehr schwierig, globale Herrscher zur Verantwortung zu ziehen. Statt einer „Welt ohne Grenzen“ sollte die Vision der Linken eine Welt sein, in der die Grenzen so offen wie möglich sind, aber gleichzeitig so geschlossen wie notwendig. Die Linken sollten offen für mehr offene, mehr durchlässige Grenzen sein.
Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Textes, der in der kommenden Woche im Sammelband Flucht, Migration und die Linke in Europa erscheint.