Die Gefahr von Atomwaffen ist in unseren Breiten weitgehend aus dem kollektiven Bewusstsein verschwunden. Wenn überhaupt, werden sie im Zusammenhang mit Iran oder Nordkorea diskutiert. Doch viele Experten warnen derzeit eindringlich davor, dass die Gefahr, die von Nuklearwaffen ausgeht, wächst. So veröffentlichte das Institut Future of Humanity und die Global Challenges Foundation der Universität Oxford kürzlich eine Liste der 12 größten Menschheitsbedrohungen. Auf den zweiten Platz, hinter dem Klimawandel und noch vor der Gefahr einer weltweiten Pandemie, wurde die Gefahr eines Atomkriegs gereiht.

Auch der russische Präsident Putin trägt dazu bei, dass dem Thema mehr Aufmerksamkeit gewidmet wird. Erst kürzlich wurde bekannt, dass Putin, in den Tagen der Invasion der Halbinsel Krim bereit gewesen war, das russische Nuklearwaffenarsenal in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen. Die russische Führung, so erklärte Putin „hätte sich der schlimmsten Wendung gestellt, welche die Ereignisse hätten nehmen können".

So vielversprechend die von US-Präsident Obama 2009 in Prag formulierte Perspektive einer Welt ohne Atomwaffen auch war, so wenig scheint davon übrig zu sein. Heute wird wieder offen der Wert von Kernwaffen für die Erhaltung der Stabilität betont. Alle Kernwaffenstaaten modernisieren ihre Arsenale. Stehen wir also wieder am Beginn eines Kalten Krieges und müssen wir quasi unweigerlich in dieselbe „Logik“ zurückfallen, wonach die nukleare Abschreckung unerlässlich ist, um eine Konfrontation „kalt“ halten zu können? Die Diskussion in den Atomwaffenstaaten, wie auch innerhalb der NATO, scheint darauf hinzudeuten. Die Reflexe des Kalten Kriegs sind schnell wieder da und die passenden Denkmuster wieder rasch aktiviert.

Muss die Umsetzung der völkerrechtlichen Abrüstungsverpflichtung des Atomwaffensperrvertrags also wieder in den Hintergrund treten und dem „Pragmatismus“ der sogenannten „Realisten“, der Verfechter der nuklearen Abschreckungstheorie, weichen? Die Antwort auf diese rhetorische Frage sollte ein emphatisches Nein sein.

In den vergangenen Jahren hat sich, durchaus inspiriert von Obamas Prager Rede, ein der Abschreckungstheorie diametral entgegen gesetzter Diskurs zu Atomwaffen etabliert. Drei internationale Konferenzen in Norwegen, Mexiko und zuletzt im Dezember 2014 in Wien widmeten sich dem Thema Nuklearwaffen nicht vom traditionellen Blickwinkel militärischer Sicherheitskonzepte, sondern behandelten die humanitären Auswirkungen, die Risiken und auch die völkerrechtliche und moralische Dimension dieser Waffen auf der Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse.

 

Weit schlimmer als gedacht

So wurden Studien präsentiert, die verdeutlichen, dass die Auswirkungen von Nuklearwaffenexplosionen wesentlich gravierender und komplexer wären als bislang weitläufig bekannt war. Bei der Konferenz in Wien wurden etwa die Auswirkungen der Explosion einer einzelnen 200 Kilotonnen Atombombe über der NATO-Basis in Aviano in Norditalien präsentiert. Neben der unmittelbaren humanitären Katastrophe ergibt sich auch, je nach Wind, innerhalb weniger Stunden eine grenzüberschreitende radioaktive Todes- oder Evakuierungszone die über weite Teile Österreichs, bis über Tschechien hinaus reicht. Neueste Klimastudien zeigen auch, dass die langfristigen Auswirkungen von Nuklearwaffenexplosionen über die auf die 1980er Jahre zurückgehenden Annahmen eines „nuklearen Winters“ hinausgehen. Selbst ein sogenannter „limitierter Atomkrieg“, wie er etwa für ein hypothetisches Szenario zwischen Indien und Pakistan berechnet wurde, ergibt die Gefahr eines dramatischen globalen Temperaturabfalls mit schwerwiegenden Einbrüchen der Nahrungsmittelproduktion. Weltweite Hungernöte, Flüchtlingsbewegungen, der Zusammenbruch der globalen Wirtschaft und der sozialen Ordnung wären die Folge. Humanitären Organisationen, wie die Vereinten Nationen und die Rotkreuzbewegung bestätigen, dass es keine Kapazitäten gibt, in solchen Szenarien adäquate Hilfe zu leisten.

Nun sind ja genau diese inakzeptablen Auswirkungen die Basis der nuklearen Abschreckung. Deren Androhung soll bekanntlich sicherstellen, dass alle an einem potentiellen Konflikt Beteiligten rational agieren. Doch diese Annahme kann auf Grund der Erkenntnisse zu den Risiken, die alleine die Existenz von Nuklearwaffen mit sich bringt, kaum länger aufrecht erhalten werden. Die Zahl der bekannt gewordenen und näher untersuchten fast-Unfälle, Irrtümer, Fehleinschätzungen, technischer Probleme usw. zeigt, dass schon in der Vergangenheit oft eher Glück als rationales Handeln Nuklearkatastrophen verhindert hat.

Die Zahl der bekannt gewordenen fast-Unfälle, Irrtümer, Fehleinschätzungen, technischer Probleme usw. zeigt, dass oft eher Glück als rationales Handeln Nuklearkatastrophen verhindert hat.

Dazu kommen heute Gefahren wie Cyber-Sicherheit, oder Risiken durch die nukleare Verbreitung und Terrorismus. Nuklearwaffen und ihre Infrastruktur sind letztlich nichts anderes als komplexe Maschinen und Systeme. Sie sind, wie alles von Menschen erschaffene, inhärent fehleranfällig. Diese Risiken können verringert, aber nicht eliminiert werden. Die offensichtliche Schlussfolgerung der Risikoforscher: Je länger dieses Risikoverhalten weitergeführt wird, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das Risiko verwirklicht. Das Nichteintreten des Risikos bisher kann nicht mit dem Nichtvorliegen des Risikos gleichgesetzt werden. Es erscheint absurd, dass wir in fast allen Lebensbereichen auf Risikoanalyse vertrauen, dieselbe jedoch bei der existentiellsten Bedrohung nicht wahrhaben wollen.

Die Schlussfolgerungen des humanitären Diskurses sollten zu einer tiefgreifenden Überprüfung der Abschreckungstheorie führen. Die Annahme über den Sicherheitsgewinn, den die Existenz von Atomwaffen mit sich zu bringen behauptet, kann angesichts der Erkenntnisse über die schwerwiegenderen Auswirkungen und die größeren Risiken kaum aufrecht erhalten werden. Das Beharren auf Nuklearwaffen ist ein letztlich unverantwortliches Glücksspiel, das auf einer Illusion von Sicherheit aufbaut. Das Vertrauen der „Abschreckungs-Realisten“ auf diese Illusion ist daher die eigentliche „Utopie“, während ein klarer Fokus auf Prävention und nukleare Abrüstung als die einzig nachhaltige und „realpolitisch“ vernünftige Konklusion gelten muss.

Nuklearwaffen unterliegen, im Unterschied zu den anderen Massenvernichtungswaffen, wie Biologie- und Chemiewaffen, keinem umfassenden völkerrechtlichen Verbot. Die inakzeptablen humanitären Auswirkungen, etwa von Chemiewaffen im 1. Weltkrieg, haben zu einer Ächtung dieser Waffen geführt. Auch der jüngste Einsatz von Chemiewaffen in Syrien löste weltweite Empörung aus. Doch deren Wirkung ist vergleichsweise minimal im Vergleich zu dem humanitären Leid, den der Einsatz – ob gewollt oder ungewollt – von Atomwaffen mich sich brächte. Die Bilder aus Hiroshima und Nagasaki geben uns, angesichts der größeren Zerstörungskraft der modernen Nuklearwaffen, nur eine unvollständige Vorstellung.

Die Verhinderung einer humanitären Katastrophe steht auch beim Atomwaffensperrvertrag im Vordergrund, dessen Präambel beginnt mit den Worten: „In Anbetracht der Verwüstung, die ein Atomkrieg über die ganze Menschheit bringen würde, und angesichts der hieraus folgenden Notwendigkeit, alle Anstrengungen zur Abwendung der Gefahr eines solchen Krieges zu unternehmen (…)“. Gleichzeitig enthält der Vertrag jedoch nur eine vage formulierte Verpflichtung zu Verhandlungen zur Abrüstung, die bislang nur ungenügend umgesetzt wurde. Betrachtet man jedoch die Konsequenzen, die Nuklearwaffen verursachen würden, so wird klar, dass ein völkerrechtskonformer Einsatz dieser Waffen kaum vorstellbar ist. Mit der Ausnahme von gänzlich hypothetischen Szenarien, wäre der Einsatz von Nuklearwaffen schon auf Grund des heute geltenden humanitären Völkerrechts, der Menschenrechte, aber auch aus umwelt- und gesundheitsrechtlichen Normen verboten.

 

Illegitime nukleare Abschreckung

In Anbetracht der wesentlich gravierenderen und inakzeptablen Konsequenzen, der beträchtlichen und nicht eliminierbaren Risiken und der de facto Unmöglichkeit diese Waffen rechtskonform einsetzen zu können, muss man daher die Frage nach der Legitimität des nuklearen Abschreckungskonzepts stellen. Inwieweit ist es im 21. Jahrhundert noch vertretbar, für ein globales Sicherheitssystem zu argumentieren, das auf extremen Risiken für das Überleben der gesamten Menschheit aufbaut? Das theoretische Gebäudekonstrukt der Sicherheit durch nukleare Abschreckung mag attraktiv sein, ist jedoch vielleicht nicht mehr als eine Schimäre.

Vor einigen Wochen stellte das Bulletin of Atomic Scientists – Erfinder und Hüter der berühmten sogenannten „Weltuntergangsuhr“ – die Zeiger auf drei Minuten vor Mitternacht. Diesen Stand hatte die Uhr zuletzt 1983 zu einem der gefährlichsten Höhepunkte des Kalten Krieges. Die Autoren erklärten, dass „die globalen Führer es verabsäumt [hätten], mit Dringlichkeit und in dem Ausmaß auf die potentielle von Nuklearwaffen ausgehende Gefahr einer Katastrophe zu reagieren. Dieses Versagen bedrohe alle Menschen auf dieser Erde.“

Die politische Schlussfolgerung, die sich aus den Erkenntnissen des humanitären Diskurses aufdrängt, sollte daher, gerade angesichts wachsender geopolitischer Spannungen, ein wesentlich stärkerer Fokus auf nukleare Abrüstung und Prävention sein. In seiner bei der Wiener Konferenz veröffentlichten Neupositionierung zu Nuklearwaffen hat es der Vatikan in folgenden Worten ausgedrückt: „Der Zeitpunkt ist gekommen, nicht nur die Unmoral der Verwendung von Nuklearwaffen zu betonen, sondern auch die Unmoral ihres Besitzes, um damit den Weg zur Abschaffung von Nuklearwaffen zu eben.“ Es ist Zeit, die rechtliche Lücke, zu schließen und eine völlige Abkehr von Nuklearwaffen zu initiieren, bevor wir unser Glück früher oder später überstrapaziert haben werden.