Die Prager Rede von Barack Obama über eine atomwaffenfreie Welt ist gerade mal sechs Jahre her – und doch scheint sie aus einer anderen Welt zu kommen. Noch vor einem Jahr endete jede Bestandsaufnahme der sicherheitspolitischen Lage mit der Feststellung, die Bundeswehr müsse sich nicht mehr auf Panzerangriffe aus dem Osten, sondern auf friedenserhaltende Einsätze außerhalb Europas einstellen. Jetzt werden Leopard-Panzer nach Polen geliefert und für die Bundeswehr reaktiviert. Statt von einer Friedensdividende ist nun von einer Erhöhung der Verteidigungshaushalte die Rede. Die NATO erhöht die Zahl ihrer Krisenreaktionskräfte von 13.000 auf 30.000 Mann und schafft sich eine sogenannte Speerspitze, eine superschnelle Eingreiftruppe von 5.000 Mann. Diese sogenannte Very High Readiness Joint Task Force (VJTF) soll bereits im Juni zu einer Übung nach Polen ausrücken.

Von Abrüstung, soviel ist klar, spricht heute niemand mehr. Seit Russlands völkerrechtswidriger Annexion der Krim und dem von ihm angezettelten Krieg in der Ostukraine sind die Grundlagen der europäischen Sicherheitsarchitektur in Frage gestellt. Russland droht nicht nur mit der Stationierung von Atomwaffen auf der Krim, es hat zum 11. März 2015 auch endgültig seinen Austritt aus der gemeinsamen Beratungsgruppe des KSE-Vertrages verkündet. Jedoch: Man könnte auch sagen, es hat eine Leiche, die seit über einem Jahrzehnt vor sich hin modert, endgültig begraben.

Nur ein stärker integriertes Europa wird sein Vorgehen in der Ukrainekrise, in der Energieaußenpolitik oder der erweiterte Nachbarschaft langfristig effizient koordinieren können.

Die Bundesregierung tröstet sich damit, dass der Vertrag zumindest unter den anderen Teilnehmerstaaten weiter gilt. Das ermöglicht etwa westliche Inspektionen von Militäranlagen in der Ukraine und in Georgien. Und immerhin hat Russland Gespräche über ein neues Rüstungskontrollabkommen für Europa angeboten. Hier sollte man Moskau beim Wort nehmen. Die nächste Überprüfungskonferenz des Abkommens ist 2016 und Deutschland übernimmt im selben Jahr den OSZE-Vorsitz. Vielleicht lässt sich bis dahin erkennen, wie es zwischen Russland und dem Westen mittelfristig weitergeht. Im günstigsten Fall kann es gelingen, zumindest die Verhandlungen über ein neues Abkommen aufzunehmen, das die verifizierbare Transparenz über moderne militärische Fähigkeiten in den Mittelpunkt stellt. Abrüstungspolitisch befindet sich Europa jedenfalls wieder auf dem Stand Ende der 1980er Jahre.

Auf diplomatischer Ebene herrscht zwischen dem Bündnis und Russland weitgehend Funkstille. Der NATO-Russland-Rat tagte zuletzt im Juni vergangenen Jahres. Deutschlands Versuche, das Gremium wieder einzuberufen, scheitern bislang am Widerstand der Osteuropäer. Sie pochen auf Fortschritte in der Ukraine-Krise und die Umsetzung von Minsk II. So muss es schon als Erfolg gelten, wenn die direkte Verbindung zwischen dem NATO-Oberkommando und dem russischen Generalstab reaktiviert wird. Vorbild ist das „Rote Telefon“, das die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion einrichteten, nachdem sie 1962 im Zuge der Kuba-Krise an den Rand eines Atomkrieges geraten waren.

Seit der Ukraine-Krise werden die Grundpfeiler der gemeinsamen Sicherheitsstruktur mit Russland sukzessive abgebaut und Drohungen mit Atomwaffen werden laut. So wird die Destabilisierung Europas zur realen Gefahr. Statt dem tatenlos zuzusehen, sollte Europa die Ukraine-Krise als Katalysator für weitere Integrationsschritte auf dem Weg zu einer vergemeinschafteten Sicherheitspolitik nutzen. Denn: Nur ein stärker integriertes Europa wird sein Vorgehen in der Ukrainekrise, in der Energieaußenpolitik oder der erweiterte Nachbarschaft langfristig effizient koordinieren können.

 

 

Abrüstung in der Krise

Nicht nur Europa, sondern auch die globale Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung ist in der Krise. Es wird wieder aufgerüstet. Zwar ist die Zahl der weltweit stationierten Atomsprengköpfe in den vergangenen fünf Jahren um mehr als ein Viertel gesunken (von 22.600 im Jahr 2010 auf nunmehr 16.200) und die USA und Russland haben – wie im „New START“-Abkommen von 2010 vereinbart – ihre Arsenale um zusammen knapp 1.000 Sprengköpfe abgebaut. Doch beide Staaten verfügen nach wie vor über 93 Prozent aller Nuklearwaffen. Zudem haben Russland und die USA ihre vertraglichen Verpflichtungen bislang vor allem durch die Reduktion und Verschrottung von veraltetem Material erfüllt.

Eine Welt ohne Atomwaffen ist weiterhin nicht in Sicht. Im Gegenteil: Alle fünf „offiziellen“ Atommächte sind dabei, neue Systeme für den Einsatz von Kernwaffen zu entwickeln oder haben entsprechende Programme angekündigt. Allein die USA planen im nächsten Jahrzehnt 350 Milliarden US-Dollar in die Modernisierung ihrer Atomwaffen zu investieren, u.a. für ein neues System von Interkontinentalraketen, eine neue Atombomber- und eine neue Atom-U-Boot-Flotte. Auch Russland tauscht derzeit sein Arsenal veralteter Interkontinentalraketen durch fünf verschiedene neue Versionen des Typs SS-27 aus und ersetzt die atomaren U-Boote aus Sowjetzeiten durch eine neue Flotte mit erweiterter Träger-Kapazität für Interkontinentalraketen mit Mehrfachsprengköpfen.

Und auch Indien und Pakistan setzen die Entwicklung von ballistischen Raketen und Marschflugkörpern für Atomwaffen fort und bauen ihre Kapazität zur Herstellung von spaltbarem Material stetig weiter aus. Beide Länder verfügen derzeit über ein mutmaßliches Arsenal von jeweils 90–120 atomaren Sprengköpfen und sind zusammen mit China (mit ca. 250 Atomsprengköpfen) diejenigen Nuklearmächte, die ihr Arsenal auch zahlenmäßig aufrüsten. Nordkorea ist 2003 aus dem Atomwaffensperrvertrag ausgetreten und macht seitdem immer wieder mit Atomtests auf sich aufmerksam. Israel (mit vermutlich 80 Atomsprengköpfen) scheint im Hinblick auf seine atomare Bewaffnung derzeit abzuwarten, wie sich die Situation im Iran entwickelt.

Auch bei den multilateralen nuklearen Abrüstungsthemen gibt es keinerlei Fort­schritte: Weder ist das Inkrafttreten des Umfassenden Nuklearen Teststoppabkom­mens (CTBT) in Sicht, da es u.a. die USA, aber auch China, Indien und Pakistan nicht ratifiziert haben, noch wird über den Stopp der Produktion spaltbaren Materials für Waf­fenzwecke (Cut-Off Treaty) verhandelt. Denn die Genfer Abrüstungs­konferenz ist nicht in der Lage, eine entsprechende Tagesord­nung zu beschließen. Die alle paar Jahre per Konsens erneuerten Aktionspläne des Nichtverbreitungsvertrages werden ebenso wenig umgesetzt. Zudem werfen die USA Russland vor, gegen den INF-Vertrag von 1987 zur Abschaffung der Kernwaffen mittlerer Reichweite zu ver­stoßen. Das einzig positi­ve Signal könnte von einer Eini­gung im Konflikt um das iranische Atom­programm Ende März 2015 ausgehen.

Die wenigen konkreten abrüstungspolitischen Fortschritte lassen sich an einer Hand abzählen. Dazu gehören die Ratifizierung des Arms Trade Treaty im Dezember 2014, der Beitritt Syriens zum Chemiewaffen-Übereinkommen im Oktober 2013 und die Zerstörung seiner chemischen Kampfstoffe und Produktionsanlagen unter internationaler Aufsicht. Deutschland hat dazu einen wesentlichen Beitrag geleistet und 360 Tonnen Senfgas aus syrischen Chemiewaffenbeständen vernichtet. Die LINKE hat sich dieser Abrüstungsmaßnahme im Übrigen im Bundestag verweigert. Allerdings bestehen begründete Zweifel, ob Damaskus tatsächlich sein gesamtes C-Waffen-Potenzial offengelegt hat.

 

Schlechte Aussichten für die Überprüfungskonferenz 2015 des Atomwaffensperrvertrages

Vor 45 Jahren trat der Atomwaffensperrvertrag in Kraft. In ihm ist festgelegt, dass der Club der Nuklearmächte auf die fünf ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates begrenzt bleiben soll. Im Gegenzug verpflichteten sich diese, ihr eigenes Arsenal abzurüsten und die atomaren „Habenichtsen“ bei der zivilen Nutzung der Kernenergie mit Know-how und Technik zu unterstützen. Der Atomwaffensperrvertrag ist bis heute eine Erfolgsgeschichte. Er half bei der freiwilligen nuklearen Abrüstung atomarer Schwellenländer wie Südafrika und Brasilien ebenso wie später bei der „nuklearen Entsorgung“ der sowjetischen Nachfolgestaaten Kasachstan und der Ukraine.

Es wird oft vergessen, dass die Ukraine nach ihrer Unabhängigkeit 1991 vorübergehend zur drittgrößten Atommacht der Welt wurde. Im Abkommen von Budapest regelten 1994 die Ukraine und Russland die Rückgabe von mehr als 1.000 russischen Atomwaffen. Als Garantiemächte standen die USA, Großbritannien und Russland für die territoriale Integrität der Ukraine ein. Dafür wurden dem jungen Staat – auch von Moskau – seine Souveränität und seine territoriale Integrität garantiert. Jetzt ist diese Garantie das Papier nicht mehr wert, auf dem sie einst so feierlich besiegelt wurde. Hätte Putin es gewagt, die Krim zu besetzen, wenn die Ukraine noch ihre Atomwaffen besessen hätte? Ihr Schicksal wird die Atommächte dieser Welt jedenfalls nicht dazu ermuntern, ihre Nuklearsprengköpfe zu verschrotten – und die Zahl der Atommachtaspiranten nicht verkleinern. Denn welche Lehre werden der Iran und seine regionale Rivalen Saudi-Arabien, die Golfemirate, die Türkei aus dem Krieg in der Ukraine ziehen? Nicht auszuschließen, dass sie zu der Schlussfolgerung kommen werden, dass Atomwaffen Stärke, Unantastbarkeit und Einfluss bedeuten, während der Verzicht auf Atomwaffen ein Land die Existenz kosten kann.

Seit der letzten Überprüfungskonferenz 2010 hat sich der Graben zwischen Kernwaffenstaaten und nuklearen Abrüstungsbefürwortern weiter vertieft Die Aussichten auf ein gemeinsames Schlussdokument bei der vom 28. April bis 22. Mai 2015 in New York stattfindenden neunten Überprü­fungskonferenz des Atomwaffensperrvertrages sind deshalb schlecht. Im Gegensatz zur Überprüfungskon­ferenz 2010, bei der die Obama-Administ­ration von Beginn an den Willen zeigte, ein gemeinsames Schlussdokument zu ermög­lichen. Sie konnte dabei auf das kurz zuvor un­terschriebene „New START“-Ab­kommen mit Russland verweisen. Diesmal kommen die USA und Russland mit leeren Händen nach New York. Ba­rack Obama kann lediglich darauf verwei­sen, dass er 2013 guten Willen unter Be­weis stellte, indem er Reduzierungen bei den stationierten strategischen nuklearen Sprengköpfen um bis zu einem Drittel vorschlug. Doch stieß er in Russland auf taube Ohren.

Ein weiterer Streitpunkt auf der Überprüfungskonferenz wird die geplante Konferenz über eine Massenvernichtungswaffenfreie Zone im Nahen und Mittleren Osten sein. Diese sollte laut dem Aktionsplan der letzten Überprüfungskonferenz eigentlich spätestens 2012 abgehalten werden. Aber noch immer hat man sich nicht auf eine Tagesordnung und einen Termin geeinigt. Das werden insbesondere die arabischen Staaten in New York kritisieren. Ob mit oder ohne Abschlussdokument: der Druck auf die Atomwaffenstaaten wird weiter zunehmen.

 

Die wachsende Bedeutung von Atomwaffen

Der Stillstand der nuklearen Abrüstungs­agenda ist zum Teil dadurch zu erklären, dass die Bedeutung der Atomwaffen für die USA, Russland und auch China tendenzi­ell zunimmt. Während des Kalten Krieges war die US-Militärstrategie wegen ihrer konventionellen Unterlegenheit gegenüber der Sowjetunion zwangsläufig stark nuklearlastig. Nach 1990 nahm der Wert von Kernwaffen für Washington hingegen aufgrund mehrerer Modernisierungsschübe bei den konventionel­len Systemen ständig ab. Im Zuge des erneuten Konflikts mit Russland und der wachsenden Herausforderung durch China wächst von Seiten der amerikanischer Partner die Nachfrage nach verlässlicher, erweiter­ter nuklearer Abschreckung im Rahmen der NATO oder im Kontext bilateraler Ab­kommen.

Moskaus konventio­nelle Fähigkeiten sind weiterhin schwach. Konsequenterweise weitete es darum in seinen Militärdoktrinen die Rolle von Kernwaffen kontinuierlich aus.

Auch Russland sieht seine Nuklearwaffen, die ständig modernisiert werden, als Garantie für seinen Großmachtstatus, die sich auch für po­litische Drohungen verwenden lassen. Zu­dem sind Moskaus konventio­nelle Fähigkeiten weiterhin schwach. Konsequenterweise weitete es darum in seinen Militärdoktrinen die Rolle von Kernwaffen kontinuierlich aus.

Parallel zum Bedeutungszuwachs der Atomwaffen wachsen Unmut und Unge­duld bei den Nicht-Atomwaffenstaaten und den NGOs, die sich seit 2013 im Rahmen der „Humanitären Initia­tive“ engagieren. Deren Hauptanliegen ist es, Atomwaffen die Legitimationsbasis zu entziehen. Ziel ist die Verabschiedung einer „Kernwaffenkonventi­on“, die diese Waffen verbietet. Sie soll ggf. nach dem Vorbild der „Ottawa-Konvention zum Ver­bot von Landminen“ auch ohne Zustim­mung der Atommächte vorangetrieben werden. Dar­über hinaus fordern Abrüstungsunterstützer rechtlich verbindliche Instrumente mit klaren Zeitplänen für die atomare Abrüs­tung. Es spricht darum vieles dafür, dass sich der Streit um die nukleare Abrüstung weiter zuspitzen wird.

 

Die Reform des Auswärtigen Amtes – eine Schwächung der Abrüstung?

Das Auswärtige Amt ist nicht für die Krise der Rüstungskontrolle verantwortlich – aber es reagiert auf sie. Die Strukturreform des Amtes ist eine Folge der veränderten außenpolitischen Rahmenbedingungen, in der die Krise der Normalzustand ist. Um künftig also „früher, entschiedener und substantieller“ insbesondere in den Bereichen Krisenprävention, -bewältigung und -nachsorge handeln zu können, wird das Ressort an einigen Stellen umgebaut. Dies ist nicht nur eine organisatorische, sondern auch eine politische Entscheidung.

So wird eine neue „Abteilung für Krisenprävention, Stabilisierung und Konfliktnachsorge“ geschaffen. In ihr werden Referate unterschiedlicher Abteilungen gebündelt. Hintergrund ist, dass der Krisenmodus einzelne Stellen des Hauses an die Belastungsgrenze geführt hat, vor allem die Politische Abteilung, die neben den Atomverhandlungen mit dem Iran auch für die Ukraine-Krise zuständig ist. Die Abteilungen Vereinte Nationen und die Abteilung für Abrüstung und Rüstungskontrolle werden zur „Abteilung für Internationale Ordnungsfragen, Vereinte Nationen und Rüstungskontrolle“ zusammengelegt. Grund dafür ist, dass Abrüstungsfragen heute kein separates Ost-West-Thema mehr, sondern eine multilaterale Angelegenheit sind.

Dass in der Abrüstungspolitik über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte der Stillstand bzw. die Blockade verwaltet wird, liegt jedenfalls nicht an Deutschland. Im Gegenteil: Berlin bemüht sich unermüdlich um Abrüstung und Rüstungskontrolle. Deshalb sind die latent beleidigten Kommentare von Teilen der Friedensforschung über den „Bedeutungsverlust der Abrüstung“ und das „mangelnde friedenspolitische Engagement“ auch wohlfeil, zumal sich die Anzahl der Referate in der neuen Abteilung nicht verringert hat und die neue Abteilungsleiterin als „Beauftragte der Bundesregierung für Fragen der Abrüstung und Rüstungskontrolle“ fungiert. 

Abrüstung wird nicht durch eine Strukturreform des Auswärtigen Amtes in Frage gestellt, sondern durch die Atomwaffenstaaten und deren Nachahmer. Wenn das internationale Umfeld nicht stimmt, nutzen hehre Absichtserklärungen über eine atomwaffenfreie Welt nur wenig. Wir müssen versuchen, das, was von der Rüstungskontrollarchitektur noch übrig ist, zu retten. Fortschritte sind dabei letztlich vom Verhältnis USA-Russland abhängig. Dazu bedarf es Beharrlichkeit und neuer Ideen – auch aus der Friedensforschung. Gerade in Zeiten von Krisen und Konflikten brauchen wir Rüstungskontrolle, Vertrauensbildung und Abrüstung nötiger denn je.