Samuel P. Huntington war ein brillanter Politikwissenschaftler. Seine These vom Clash of Civilisations hat gleichwohl wenig belastbare Erkenntnisse gebracht. Vielmehr ist sie häufig ge- und missbraucht worden, um einen angeblich unvermeidlichen Konflikt zwischen Zivilisationen zu beschwören oder gar zu führen. Huntington selbst hat zu solchen Deutungen beigetragen, indem er Zivilisationen als stabil und gegeben darstellte und kulturelle Dynamiken, das Wechselspiel zwischen Sprache, Geschichte, Religion und Gesellschaft, einseitig zugunsten eines Kampfes des „Restes gegen den Westen“ auflöste.

Betrachtet man das Verhältnis von Sprache, Historie und Religion differenzierter, dann zeigt sich schnell, dass kulturelle Konflikte, die dem Zivilisationsnarrativ Huntingtons noch am nächsten kommen, zwischen 1950 und 2005 vorwiegend innerstaatlich aufgetreten sind. Diese waren zwar regelmäßig gewalttätiger als andere Konfliktformen, aber zur Ausprägung politisch wirksamer zivilisatorischer Identitäten taugen sie wenig. Auch lässt sich konstatieren, dass die religiöse Fraktionalisierung einer Gesellschaft – entgegen Huntingtons Vorstellung – keinen eindeutigen Einfluss auf die Konfliktanfälligkeit hat. Hingegen wirken die Anzahl bestimmter Bevölkerungsgruppen (insbesondere junger Männer) oder fehlende wirtschaftliche Entwicklungschancen stark auf gewalttätige Konflikte.

Der Konflikt mit ISIS in Syrien und im Irak ist kein Zivilisationskonflikt – auch wenn ISIS das gerne so darstellt. In erster Linie ist dies eine Auseinandersetzung mit einer transnationalen Rebellengruppe, die die bestehende staatliche Ordnung durch einen religiösen Kalifatsstaat fundamentalistischer Prägung ersetzen will. ISIS hat in der Vergangenheit wesentlich mehr gemäßigte Muslime anderer Konfessionen getötet als Angehörige anderer „Zivilisationen“. Die neugebildete Allianz gegen ISIS als „zivilisatorische Koalition der Willigen“ zu interpretieren, würde den unterschiedlichen Motiven der beteiligten Staaten nicht gerecht. Vielmehr zeigen die vielen interreligiösen Demonstrationen und die ernsten Debatten um Meinungsfreiheit, religiösen Respekt und Integration in vielen europäischen und außereuropäischen Gesellschaften, dass die Debattenlinien innerhalb von Gemeinwesen verlaufen. Das „kulturelle Selbstverständnis“ der Mehrheitsbevölkerungen entwickelt sich keineswegs nur in Richtung auf ein „Wir“ gegen „Sie“.

Der Konflikt mit ISIS in Syrien und im Irak ist kein Zivilisationskonflikt – auch wenn ISIS das gerne so darstellt.

Auch wäre es falsch, den Konflikt innerhalb der Ukraine und zwischen der ukrainischen Regierung und Russland sowie Russland und „dem Westen“ auf einen Zivilisationskonflikt zu reduzieren. Die suggestive Passage bei Huntington lautet: „the cultural division of Europe between Western Christianity, on the one hand, and Orthodox Christianity and Islam, on the other, has reemerged. The most significant dividing line […] cuts through Belarus and Ukraine separating the more Catholic western Ukraine from Orthodox eastern Ukraine”.

Regierungen, wie jene im autokratischen Kasachstan oder im Einparteienstaat China, schauen mit unverhohlenem Argwohn auf den russischen Anschluss der Krim, denn ihre Loyalität gilt nicht einer Zivilisation oder einer zivilisatorischen Koalition gegen den Westen, sondern ihrer nationalstaatlichen Souveränität. Entlässt man die ukrainischen Eliten (pro-westlicher und pro-russischer Couleur) frühzeitig aus der Verantwortung für die Ausplünderung des Landes und seiner Gesellschaft, wie das hierzulande allzu oft im Eifer der Solidaritätsbekundung für die eine oder andere Elitengruppe geschieht, dann geht man auch jenen auf den Leim, die kulturelle Identität benutzen, um ihre eigenen profaneren Motive zu verschleiern.

Auch ein nüchterner Blick auf Konflikte in Ostasien macht deutlich, wie ignorant die Analysen Huntingtons im Detail waren: So hieß es beispielsweise, Japan stelle die einzige ernsthafte wirtschaftliche Herausforderung für den Westen dar. Richtig ist vielmehr, dass in den jüngsten Inselstreitigkeiten die geschichtspolitische Legitimation einer zunehmend nationalistisch auftretenden KP in China auf eine neurotische, vom wirtschaftlichen Abstieg besessene, konservativ-nationalistische Regierung in Japan trifft und dieser für beide Seiten innenpolitisch hilfreiche Konflikt die gewinnbringenden Handels- und Investitionsbeziehungen untergräbt.

Unglücklicherweise verstellt Huntingtons Zivilisationsthese also (weiterhin) den Blick für differenziertere Ursachenanalysen. Sie nährt darüber hinaus eine menschliche Neigung, in Entscheidungssituationen das Verhalten eines fremden Gegenübers auf seine (unverrückbare) Andersartigkeit und weniger auf situative Faktoren oder auf das eigene Verhalten zurückzuführen. Die psychologische Forschung kennt ganz unterschiedliche Formen solcher Attributionsfehler. Das Problem mit dieser Art von Ignoranz ist, dass wenn sie politisch wirksam wird, die Chancen auf eine verständigungsorientierte und kooperative Zusammenarbeit verschwindend gering werden.