Wie schon vor zwanzig Jahren hält Huntingtons Vision der Weltpolitik einer gründlichen empirischen Analyse nicht Stand. Der spektakulärste „Quasi-Clash“ findet innerhalb der vorwiegend von Muslimen bewohnten Staaten statt. Dort steht ein radikaler, gewaltbereiter und revolutionärer salafistischer Sunnismus gegen alle übrigen Spielarten des Islam. Der blutige Konflikt findet seine allermeisten Opfer unter Muslimen. Seine Auswirkungen im „Westen“ kommen einerseits dadurch zustande, dass westliche Staaten muslimische Führungen unterstützen, die den Extremisten als Abtrünnige gelten. Andererseits besteht in den westlichen Gesellschaften für hier sozialisierte, aber mit Integrations- und Identitätsproblemen belastete junge Muslime eine Verwerfung. Diese Muslime versuchen durch den Sprung in den radikalen Islamismus und den Kampf gegen ihre gesellschaftliche Umgebung und deren Staaten den eigenen Problemen zu entgehen. Diese sind jedoch zugleich genuine Probleme der westlichen Gesellschaften. Tatsächlich haben sie mit der zivilisatorischen „Bruchlinie“ Christentum/Islam historisch wenig zu tun.

Der schematische Blick auf die Welt hat die fatale Folge, sich selbst erfüllende Prophezeiungen zu schaffen.

Gleiches gilt für die Wurzeln der Islamophobie, die ihrerseits die gesellschaftlichen Konflikte anheizt. Hier erleben wir einmal mehr ein bekanntes Phänomen: Menschen, die den sozialen Abstieg fürchten und mit dem rapiden Wandel der eigenen Gesellschaften nicht zurechtkommen, projizieren ihre Probleme auf als bedrohliche Außenseiter etikettierte Gruppen: Antisemitismus und Islamophobie sind zwei Seiten derselben Medaille. Auch bei „Pegida“ geht es um soziopolitische Verwerfungen im Westen, nicht um einen Zivilisationskrieg. Der bleibt eine Fiktion der verunsicherten „Pegida“-Anhänger.

Für die Weltpolitik hatte Huntington eine neue Bipolarisierung vorausgesagt, die „den Islam“ und „den Konfuzianismus“ (d.h. China) gegen „den Westen“, „die Orthodoxie“ (d.h. Russland) und „den Hinduismus“ stellt. Tatsächlich sind die Frontgrenzen nach wie vor verschwommen. China (Sinkiang) und Russland (Tschetschenien) tragen eigene Konflikte mit radidalem Islamismus aus, während die große Mehrheit der muslimischen Mehrheitsstaaten westliche Unterstützung gegen die radikal-islamische Bedrohung im eigenen Land oder gegen territoriale Ansprüche Chinas (Malaysia, Indonesien) sucht. Die Frontlinie, die – anders als in Huntingtons Prognose – das noch ungefestigte und prekäre „strategische Bündnis China-Russland“ vom Westen und von Indien trennt, ähnelt eher den klassischen Staatenrivalitäten als einem Zivilisationskampf. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass die Westukraine, die wie Russland mehrheitlich orthodox ist, das Bündnis mit dem Westen und eben nicht mit Moskau sucht.

Der „Kampf der Kulturen“ bleibt eine optische Täuschung, ausgelöst durch analytische Kurzsichtigkeit. Der schematische Blick auf die Welt hat die fatale Folge, sich selbst erfüllende Prophezeiungen zu schaffen: Konfliktlinien, die in ganz anderen Ursachenbündeln wurzeln, werden in die Verpackung vom „Clash of Civilizations“ gepresst. Damit verstärken sie Vorurteilsstrukturen, die die Verbreitung des Verpackungsmaterials erst möglich machen. Das süße Gift der Vereinfachung verschärft so Friktionen in unserer Gesellschaft, die niemand braucht. Die These vom „Kampf der Kulturen“ ist das Gegenteil der gesellschaftlichen Aufgabe, die aufgeklärter Wissenschaft gestellt ist.