Ob ein Standardwerk wie das von Huntington eine schwache Erklärung bietet und möglicherweise sogar schlecht recherchiert sei, ist nicht die Frage. Es ist ein Konzept, das zunehmend an Relevanz gewonnen hat, weil es den entscheidenden Fragen von Kulturkampf und der Politisierung von Kultur nicht ausweicht.

Der Westen befindet sich in einem relativen Abstieg. Seine Ausstrahlungskraft hat nachgelassen. Die Welt gerät aus den Fugen und in einen Kreislauf von Gewalt, Nationalismus, Populismus und Protektionismus. Die weltweiten Konflikte nehmen deutlich zu. Viele Länder haben mit Separatismus und Terrorismus zu tun. Islamistische Bewegungen und antijüdische Gewaltakteure setzen eine Spirale von Gewalt und Gegengewalt in Gang – und in der Folge zugleich einen Rückzug in der westlichen Welt.

Für die Mehrheit der Menschen des globalen Südens bleibt Wohlstand dabei unerreichbar. Das Ansehen des westlichen Wertekanons bleibt gering. Der Kampf von Boko Haram ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass Nigerias Institutionen einen großen Teil der Bevölkerung von jedem Fortschritt ausgeklammert haben. Schon vor 30 bis 40 Jahren haben sich erstere radikale Bewegungen gegen den nigerianischen Staat etabliert. Dies gilt ähnlich auch für den Jemen, Syrien, den Irak, Libyen, Mali oder Niger. Dass der Zerfall des traditionellen moderaten Islams neben der Fragilität von Staaten eine Ursache für einen Kulturkampf von radikalen Gewaltakteuren ist, ist ein höchst wichtiger Aspekt in Huntingtons Thesen.

Die heutigen radikalen Kräfte sprechen nicht von ungefähr selbst von einem Kulturkampf. Warum sollte man das nicht ernst nehmen?

Bruchlinien existieren auch innerhalb der Kulturen. Und wenn diese dann noch durch politische Eliten angefeuert werden, wie dies sich deutlich durch die Aktivitäten Saudi Arabiens (Wahhabismus) manifestiert, kann sich das Konzept vom Kulturkampf durchaus als nützliches „Tool“ erweisen. Vor allem innerhalb von Kulturräumen kommt es dann zu bewaffneten Aktionen zwischen Radikalen und Moderaten, zwischen Reformgegnern und Reformern. Es entstehen „Bruchlinienkriege“. Obwohl die Frontlinien im Kulturkampf meist im Innern von Kulturräumen auftreten, greifen sie durchaus auf die Nachbarschaften über – und schließlich auch in die westlichen Demokratien.

Insofern kann man Huntington zustimmen, dass der Fundamentalismus keine Erscheinung vergangener Zeiten ist, sondern ein modernes Phänomen, das erst im Zuge der Kolonisierung begann. Die Geschichte des Kolonialismus ist ja nicht nur eine Eroberungs- und Unterwerfungsgeschichte, sondern auch eine des Widerstands, der Rebellion und der Befreiung. Messianistische oder islamistische Gegenbewegungen formierten sich gegen alles „Westliche“. Die heutigen radikalen Kräfte sprechen nicht von ungefähr selbst von einem Kulturkampf. Warum sollte man das nicht ernst nehmen? Den Zugang zur Modernisierung sehen sie als versperrt an. Der Rückzug auf die erfundenen eigenen kulturellen Werte findet eine breite Anhängerschaft.