Si tacuisses! Vor der Veröffentlichung seines Aufsatzes „The Clash of Civilizations?“ war er ein angesehenes Mitglied der internationalen Strategic Community, der durch seine intellektuelle Unabhängigkeit und die Bereitschaft zu unorthodoxen Thesen auffiel. Nach der Veröffentlichung wurde er ein berühmter Mann, kurz darauf auch ein wohlhabender. Denn das gleichnamige Buch wurde – allerdings nun ohne Fragezeichen – ein internationaler Bestseller.

Doch so sehr er auch versicherte, sein Gedankenmodell sei der beste Kompass für die Zukunft, stellte sich doch rasch heraus, dass sein Modell löchrig, sein Kompass ohne Nadel war. Wurde er zunächst als genialer Weltenerklärer herumgereicht, steht er heute nicht mehr als wissenschaftliche Koryphäe, sondern als ein bloßer Publizist da, der sich so sehr in seine These verliebte, dass er sein Urteil darüber verlor.

Huntington wollte, wie so mancher damals, die Welt nach dem Kalten Krieg deuten und neue Gefahren identifizieren. Er wollte sich nicht damit abfinden, dass die Quelle neuer Konflikte dieselbe war wie vor dem Kalten Krieg, sich nämlich aus Nationalismus, Kolonialismus, Machthunger, Gier und sozialen Verwerfungen speist. Nein, er wollte sie in der Unvereinbarkeit von sogenannten „Zivilisationen“ ausmachen, die er jeweils großen Kulturkreisen – China, der islamischen Welt, dem Westen usw. – zuordnete.

Geradezu scharlatanisch  liest sich heute Huntingtons Prophezeiung, ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sei unwahrscheinlich…

Doch die Gebilde kultureller Zugehörigkeit, die er zu entdecken glaubte, waren in der Realität immer zu vage und pluralistisch, um deshalb in Konflikt mit anderen „Zivilisationen“ zu geraten. Ganz zu schweigen davon, in ihrem Innern Konflikte ausschalten zu können. Geradezu scharlatanisch liest sich heute Huntingtons Prophezeiung, ein Konflikt zwischen Russland und der Ukraine sei unwahrscheinlich, weil beide durch eine gemeinsame Zivilisation verbunden seien. Auch seine Konstruktion einer „konfuzianisch-islamischen“ Allianz gegen den Westen liest sich heute abenteuerlich. In seinem Buch entwirft er gar das Szenario eines neuen Weltkrieges, in dem eine chinesisch-iranische Rakete von Algerien aus eine Atombombe auf Marseille feuert.

Der entscheidende Denk- und Recherchefehler des Harvard-Professors liegt in dem Umstand, dass Konflikte sich weniger zwischen als vielmehr innerhalb kulturell verwandter Einheiten entzünden. Vor einigen Jahren machten einige Wissenschaftler die Probe. Sie untersuchten Kriege vor, während und nach dem Kalten Krieg. Ihr Fazit: Die Konflikte entflammten zumeist innerhalb derselben Kulturgemeinschaften. Ihr Anlass war eher die Folge politischer Veränderung als die zivilisatorischer Unvereinbarkeit. Also nicht Westen gegen Islam, sondern Muslime gegen Muslime im Nahen Osten, Ruanda gegen Burundi in Afrika, Katholiken gegen Protestanten in Nordirland.

 

Das alles war schon zu erkennen, als Huntington mit seinem Foreign Affairs Aufsatz und dem nachgelegten Buch Furore machte. Die eigentliche Frage heute ist daher nicht mehr, warum Huntington schief lag, sondern warum so viele Leute ihm immer noch glauben. Die Antwort ist unangenehm: Weil er aus der Konstruktion von „Zivilisationen“ eine unüberbrückbare Unvereinbarkeit zwischen dem Islam und dem Westen ableitete. Der arme Sam Huntington machte sich zum Kronzeugen für das große Vorurteil unserer Zeit. Zum 20. Jahrestag seiner Veröffentlichung wurden drei muslimische Studentinnen in der amerikanischen Universitätsstadt Chapel Hill ermordet. Der Mörder hatte nichts gegen den Islam. Die Frauen hatten ihre Autos nur immer auf seinem Parkplatz abgestellt.