In den vergangenen Jahrzehnten erblickten immer wieder kompakte Theorien zur Erklärung der Welt das Licht der Welt. „Die amerikanische Herausforderung“ von Servan-Schreiber, 1968 auf Deutsch erschienen, war ein frühes Beispiel. Es folgte 1995 „Das Ende der Arbeit“ von Jeremy Rifkin und die Ende der Neunzigerjahre in die Welt gesetzte These von der „New Economy“. Dann kam 1993 auch noch Huntington mit der These vom „Clash of Civilizations“. Gemeinsam ist allen diesen Thesen, dass sie sich wunderbar verkaufen lassen und eine modische Karriere durchliefen. Huntingtons These hatte zudem einen agitatorischen Charakter. Sie half, ein neues Feindbild aufzubauen und die Reihen zu schließen.

Die genannten Theorien haben sich wahrscheinlich auch deshalb besonders gut verkaufen lassen, weil man sie im Small Talk nutzen konnte, ohne viel nachzudenken. Kommunikation über diese Themen und Thesen war möglich, ohne ihren Sinn und auch ihr Verständnis richtig zu befragen und zu hinterfragen.

Was ist denn die westliche Zivilisation? Der Sozialstaat? Oder das „Jeder ist seines Glückes Schmied“ der neoliberalen Ideologie und der damit verbundene Aufbau des „besten Niedriglohnsektors“ der Welt?

Was ist denn die westliche Zivilisation? Der Sozialstaat Europas? Oder das „Jeder ist seines Glückes Schmied“ der neoliberalen Ideologie und der damit verbundene Aufbau des „besten Niedriglohnsektors“ der Welt? Aktive Beschäftigungspolitik in Erinnerung an die Weltwirtschaftskrise? Oder das, was wir zur Zeit in Griechenland anstellen? Ist das unsere Zivilisation? Die Sorge um ein bisschen mehr soziale Gerechtigkeit und eine diesem Ziel entsprechende Einkommens- und Vermögensumverteilung mithilfe von Steuern und öffentlichen und sozialen Leistungen, so mühsam das auch immer war? Oder das massive Auseinanderdrücken der Einkommensverteilung und dann auch noch die Steuerentlastung für die oberen Einkommen und die Unternehmen ab Ende der Neunzigerjahre? Was ist unsere westliche Zivilisation?

Auge um Auge, Zahn um Zahn? Oder das Gebot der Bergpredigt? Konkret und von tödlicher Bedeutung heute: Die Eskalation des Konflikts zwischen dem sogenannten Westen und den Russen? Waffenlieferungen und Sanktionen oder Abrüstung und vertrauensbildende Maßnahmen? Kalter Krieg oder Entspannungspolitik? Wer steht für unsere Zivilisation – Angela Merkel, Ursula von der Leyen und Joachim Gauck oder Helmut Schmidt und Helmut Kohl?

Anlässlich seines Todes wurde Richard von Weizsäcker gefeiert. Zu welcher Zivilisation gehörte er? Immerhin hat er in seiner viel zitierten Rede am 8. Mai 1985 gesagt:

„Hitler hat stets damit gearbeitet, Vorurteile, Feindschaften und Hass zu schüren. Die Bitte an die jungen Menschen lautet: Lassen Sie sich nicht hineintreiben in Feindschaft und Hass gegen andere Menschen, gegen Russen oder Amerikaner, gegen Juden oder Türken, gegen Alternative oder Konservative, gegen Schwarz oder Weiß. Lernen Sie, miteinander zu leben, nicht gegeneinander.“

Die Kultur des Richard von Weizsäcker wie auch die von Gustav Heinemann und Johannes Rau gilt für die heute führenden Kräfte des Westens nicht. Sie haben eine gänzlich andere Kultur: Die des Egoismus, der Gewalt, der Konflikte und ihrer Eskalation. Den Kampf der „Kulturen“ müssen wir offensichtlich zunächst einmal intern führen. Legen wir zum Einstieg Huntingtons Propagandaformel zu den Akten.