Samuel Huntington gilt zu Recht als einer der bedeutendsten Politikwissenschaftler in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts. Seine Beiträge zur Modernisierungstheorie und zur Ausbreitung der Demokratie – wiewohl nie unumstritten – prägten das Fach. Seine Publikationen zeichneten sich zumeist durch das äußerst lebendige Zusammenspiel von Imagination und systematischen empirischen Beobachtungen aus. Einige seiner Thesen haben daher noch immer Bestand. In seinem Alterswerk „Der Kampf der Kulturen“ erfolgte jedoch eine Vereinseitigung zugunsten der Imagination. Wohlbegründete empirische Einwände wurden überhört, schließlich sollte die These steil bleiben. Die Vereinseitigung war jedoch weniger den medialen Vorgaben an einen Weltbestseller geschuldet, als der persönlichen Haltung eines alten Mannes mit großer Lebenserfahrung. Dies durfte ich selbst miterleben, als Huntington eine frühe Fassung seines berühmten Essays einer internationalen Gruppe von Harvard-Fellows bei Wein und Häppchen zur Diskussion stellte: Vorgetragene Einwände junger und unerfahrener Forscherinnen und Forscher hörte er zwar freundlich an, jedoch gedachte er nicht wirklich, diese in das eigene Denken einzubinden.

Stark war sein Aufsatz und das später folgende Buch auf der Seite der Imagination. Die liberale Zuversicht, die sich nach dem Fall des Sowjetimperiums breit machte, behagte ihm nicht. Für ihn, einen konservativen Skeptiker, erschienen die liberalen Hoffnungen auf eine Welt demokratischer Rechtsstaaten realitätsfern und gefährlich. Es lag ihm daran, die schlummernden Konfliktpotentiale einer nach wie vor unübersichtlichen und gefährlichen Welt offenzulegen und damit dem optimistischen Zeitgeist zu trotzen. Er verwies auf den Fortbestand unterschiedlicher Vorstellungen über eine gute politische Ordnung – insbesondere über die Rolle der Religion und des Individuums in der Gesellschaft. Und damit lag er sehr richtig. Als im Jahre 2001 eine islamische Terrororganisation die symbolgeladenen Twin Towers zum Einsturz brachte, ein amerikanischer Präsident bei der Bekämpfung dieser Terrororganisation drastisch und offen sichtbar Kernprinzipien des westlichen Skriptes verletzte und ein hochrangiger Investmentbanker von Goldman Sachs die ökonomische Zukunft der Welt in die Länder des neu gefundenen Akronyms „BRIC“ verlegte, wurde klar, dass die liberale Ordnung nach wie vor Gegner hatte. Alternative Ordnungsvorstellungen konsolidierten sich neu und das westliche Ordnungsmodell sah sich wieder grundlegenden Herausforderungen gegenüber.

Falsch lag Huntington, weil sein „Kampf der Zivilisationen“ dem alten, vom Ost-West-Gegensatz geprägten Weltbild entsprang. Er band die konkurrierenden Weltvorstellungen an Religionen und Kulturkreise und damit auch an territorial definierte Einheiten. Damit naturalisierte er gleichsam Kulturen und Religionen und versuchte ihnen mit der Zuweisung von Territorien eine materielle Gestalt zu geben. Wir wissen heute, dass die Infragestellung der westlichen Ordnung und generell der Kampf der Ordnungsvorstellungen nur partiell religiös motiviert ist und nicht zwischen abgrenzbaren Kulturkreisen, sondern vor allem innerhalb der Kulturkreise stattfindet, deren Grenzen freilich immer mehr in Auflösung begriffen sind. Die selbsternannten Kämpfer des Islams sind nicht in Grabenkämpfe mit westlichen Armeen an der Grenze zwischen zwei Kulturkreisen verwickelt – sie kämpfen vielmehr im Westen, in Nordafrika und in Asien. Die Revolutionswelle in Nordafrika zeigte, dass westliche Werte dabei nicht ausschließlich in der Defensive sind. Der aufkommende Rechtspopulismus in Westeuropa macht deutlich, dass es auch innere Gefahren für den Liberalismus gibt. Dass es aber auch gute Gründe geben mag, dem Liberalismus Grenzen zu setzten, zeigte die Finanzkrise unmissverständlich.

Falsch lag Huntington, weil sein „Kampf der Zivilisationen“ dem alten, vom Ost-West-Gegensatz geprägten Weltbild entsprang.

Wir leben in einer Welt, die im Zuge der Globalisierung von einer neuen sozialen Konfliktlinie geprägt ist. Man kann sie als eine Auseinandersetzung zwischen kosmopolitischen und kommunitaristischen Ideologemen sehen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die für Individualrechte, für Globalisierung und Freihandel, für Migration und offene Gesellschaften, für internationale Regulierung und manchmal auch für internationale Solidarität sind. Auf der anderen Seite stehen all jene, die der zugehörigen Kultur und der Gemeinschaft Vorrang vor überbordendem Individualismus einräumen und die eigene Nation vor der Globalisierung schützen wollen. Dass beide normativ prinzipiell begründungsfähige Positionen durchaus so verkürzt werden, dass sie ein hässliches Gesicht bekommen können, demonstrieren einerseits gierige Investmentbanker, andererseits Rechtspopulisten und im Extremfall der IS. Eine Welt, in der diese Konfliktlinie zunehmend sowohl in den nationalen politischen Systemen als auch auf der internationalen Ebene auftritt, ist aber eine gänzlich andere als die der religiös geprägten Kulturkreise von Samuel Huntington.

Insofern lag Huntington empirisch falsch. Politisch und damit wahrlich falsch wurde seine Position dadurch, dass er den westlichen Kulturkreis vor einer Verschwörung des Bösen schützen wollte und damit „the West against the rest“ stellte. Damit ebnete er – gewollt oder ungewollt – den intellektuellen Boden für eine Politik, die bei der „Verteidigung“ des Westens bereit ist, zu Mitteln zu greifen, die den eigenen Prinzipien und Wertvorstellungen widersprechen. Und damit befeuerte er ganz erheblich die dem Konflikt ursächlichen Differenzen, vor denen er eigentlich warnen wollte.