Als die Welt auseinander brach, das sowjetische Imperium implodierte und eine Welle von Transformationsprozessen durch Europas Osten, Asien, Lateinamerika und selbst das subsaharische Afrika rollte, wurden mit den moribunden diktatorischen Regimen auch alte Gewissheiten hinweggefegt. Das kurze 20. Jahrhundert fand sein abruptes Ende. Als intellektuelle Begleitmusik gingen zwei Essays um die Welt, die in der neuen Unübersichtlichkeit neue Gewissheit versprachen. Versprachen sie? Nein, sie prophezeiten!
Francis Fukuyama schrieb vom „Ende der Geschichte“. In einer ebenso kühnen wie rabulistischen Vereinfachung der Hegelschen Geschichtsphilosophie erklärte er den Wettlauf der Systeme für beendet. Liberaler Kapitalismus und liberale Demokratie hätten Planwirtschaft und diktatorische Herrschaft endgültig besiegt. Die Geschichte sei in ihrem höchsten Stadium nunmehr zu sich selbst gekommen. Rund 25 Jahre später wissen wir, dass diese Prophezeiung in violenten Grauzonenregimen zerrieben wurde. Der Kapitalismus dagegen hat sich global durchgesetzt, nicht immer in seiner liberalen Form, wie China, Russland oder die Ukraine zeigen.
Ließen wir unsere Prinzipien unter dem Druck des wohlfeilen Vorwurfs des postkolonialen Ethnozentrismus fallen, dann würden unsere Überzeugungen in einer normativ taub gewordenen Gemengelage multikultureller Indifferenz verschwinden.
Wenige Jahre später erschien aus der Feder eines der weltweit namhaftesten Politikwissenschaftler ein weiterer, wahrhaft prophetischer Essay: „The Pattern of Conflict“, berühmt geworden als „Clash of Civilizations“. Sein Kern ist bekannt: Die großen „Bruchlinien der Menschheit“ werden nicht mehr entlang von Nationalstaaten verlaufen. Die „dominierende Konfliktlinie wird kulturell“ sein. Zivilisationen begreift Huntington als die höchste und weiteste Form der individuellen kulturellen Identität. Sprache, Geschichte, Religion, Tradition, Sitten und die subjektive Selbstzuordnung definieren sie. Allerdings sind auch für Huntington Identitäten nicht determiniert. Sie sind dem Wandel der Zeitläufte unterworfen. Es sind die Menschen selbst, die Grenzlinien ziehen, verändern und neu definieren. Diese konstruktivistische Einschränkung wird in der Kritik oft übersehen. Gleichwohl macht Huntington etwas hoch Problematisches. Er vermeint weltweit acht große Zivilisationen zu erkennen: die westliche, konfuzianische, japanische, hinduistische, islamische, slawisch orthodoxe, lateinamerikanische und „möglicherweise eine afrikanische Zivilisation“.
Dies wurde von Ethnologen, Soziologen, Politologen und in manchen akademischen Seminaren kritisiert. Zu Recht, aber auch geschenkt. Huntington vermischt religiöse, regionale, ethnische und nationale Klassifikationskriterien in einer einzigen Typologie. Zugleich vernachlässigt er die Binnendifferenzierung innerhalb der einzelnen „Zivilisationen“. Naiv allerdings wäre anzunehmen, ein Politikwissenschaftler seines Kalibers wäre sich dessen nicht bewusst gewesen. Ihm ging es nicht um methodische Fingerübungen, sondern um die normativen, aber vor allem auch realpolitischen Unvereinbarkeiten zwischen einzelnen „Zivilisationen“.
Aus dieser doppelten Inkompatibilität entstünden die Konflikte der Zukunft: von Bosnien und Kosovo auf dem Balkan in den 1990er Jahren, zu den anhaltenden Konflikten in Nigeria, im Sudan, in Mali, im Kaukasus, auf den Philippinen, in Thailand bis hin zu 9/11, Madrid, London und Paris. Der realpolitische Clash zwischen der islamischen Welt und dem Rest zeigt sich auch nach Huntington mit mörderischer Evidenz. Übersehen hat Huntington freilich, dass sich die religiös-fundamentalistische Intransigenz längst auch innerhalb der „islamischen Zivilisation“ abspielt: zwischen Sunniten und Schiiten, dem Iran und Saudi-Arabien, in Libyen, Syrien, im Irak und im Jemen oder zwischen den palästinensischen „Brüdern“ Hamas und Fatah. „Die“ islamische Welt ist nicht homogen. Sie ist selbst von religiösen Bruchlinien zerfurcht, wie es der Okzident der christlichen Religionskriege war.
Wir erleben in einigen Religionen, namentlich den monotheistischen, eine Fundamentalisierung, die vom US bible belt über das ultraorthodoxe Judentum in Israel bis in die islamische Welt reicht. „The unsecularization of the world is one of the dominant social facts of life in the late 20 twentieth century” zitiert Huntington George Weigel. Es ist „la revanche de dieu“” wie Gil Keppel sie beschreibt. Die Revanche aber wird im Westen konstitutionell gebändigt. Die weitgehende Trennung von Staat und Kirche „privatisiert“ den religiösen Fundamentalismus in den USA und zwingt ihn in Israel unter die Kuratel rechtsstaatlich gesetzter Normen.
Fehlende Aufklärung
Im Islam gab es keine Renaissance, in der schon Machiavelli das Konzept der göttlichen Ordnung zugunsten der menschlichen Selbstregierung revidiert hatte. Auch gab es keine vertragstheoretische philosophische Tradition, die Herrschaft an Zustimmung knüpft. Es gab keine Aufklärung, die der Religion die Vernunft gegenübergestellt hätte. Skepsis und Selbstironie sind ihm fremd geblieben. Satire wird bisweilen mit mörderischen Fatwas belegt. Die religiöse Weltdeutung wurde nie entzaubert, das theozentrische nicht durch ein anthropozentrisches Weltbild ersetzt.
Besonders problematisch für die Demokratieverträglichkeit ist die Verschmelzung von Religion und Gesetz. Religiöse Normen mit universellem Wahrheitsanspruch begrenzen das Prinzip der Volkssouveränität in einer Weise, die mit der Idee der demokratischen Selbstregierung unvereinbar ist. Religiöse und staatliche Ordnung verschmelzen. Die Supervision übernehmen religiöse Schriftdeuter. Sie regeln das Familien- und Erbrecht, geben Kleider- und Essensvorschriften und unterwerfen die individuelle Sexualität rigiden Regeln. Apostasie, Homosexualität oder Ehebruch (der Frauen) werden in den traditionalistischen und fundamentalistischen Gesellschaften der islamischen Zivilisation mit schwersten Sanktionen belegt.
Huntingtons These des Zusammenpralls der gegenwärtigen westlichen und islamischen Zivilisationen ist auf der empirischen wie normativen Ebene evident. Sie lässt sich nicht mit dem Hinweis auf die methodischen und begrifflichen Schwächen seiner Argumentation desavouieren. Noch weniger lässt sie sich mit der logisch unsinnigen, dafür aber politisch korrekten Redeweise vom Tisch wischen, es gäbe gar keinen Zusammenprall der Zivilisationen (Seins-Aussage), wir müssten vielmehr einen „Dialog zwischen den Kulturen“ (Sollens-Aussage) führen.
Letzteres ist sicherlich unabweisbar. Aber einen Dialog können wir nur führen, wenn wir uns unserer eigenen normativen Referenzen versichern. Wir müssen uns über die unverhandelbaren Prinzipien und Werte unserer Zivilisation klar werden. Dazu gehören sexuelle Selbstbestimmung, Gleichheit der Geschlechter, Pressefreiheit, Religionskritik ebenso wie die freie Religionswahl. Ließen wir diese Prinzipien unter dem Druck des wohlfeilen Vorwurfs des postkolonialen Ethnozentrismus fallen, dann würden unsere Überzeugungen in einer normativ taub gewordenen Gemengelage multikultureller Indifferenz verschwinden.
5 Leserbriefe
Herr Merkel,
dieser Satz ist ein Zeichen unfassbarer Ignoranz. Tatsächlich finden sich mehrere arabisch-muslimische Philosophen des Mittelalters, das sich für die arabische Hochkultur der damaligen Zeit vollständig verschieden darstellt als die Entwicklungen der Epoche des Mittelalters in Europa, die sich ebendieser Problematik widmeten und beispielsweise auf der iberischen Halbinsel bis zum Erstarken der Almohaden dieser und anderen philosophischen und theologischen Fragestellungen nachgingen, die enormen Einfluss auf die spätere Entwicklung des "christlichen Europas" von substantieller Bedeutung nahmen. Diese Philosophen sind es auch, die die Werke des Philosophie der Antike für die Nachwelt erhielten, übersetzten und umfassend kommentierten!