Die amerikanische Demokratie befindet sich in einem rasenden Verfallsprozess. Wenn diesem Trend kein Einhalt geboten wird, wird das Land, das der Welt so gerne erklärt, wie man Wahlen abhält, um die Legitimität seiner eigenen Wahlen fürchten müssen. Die grundlegendsten Elemente dieses Verfalls wiegen am schwersten.

Bei den jüngsten Reichstagswahlen in Schweden 2014 gaben 83 Prozent der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Bei den Bundestagswahlen in Deutschland im Jahr 2013 waren es 72 Prozent aller Wahlberechtigten. Für die US-Kongresswahlen verweisen Hochrechnungen auf eine Wahlbeteiligung von nur rund 36 Prozent – das ist noch weniger als bei den trostlosen Wahlen des Jahres 2010, bei denen die Republikaner die Mehrheit im US-Repräsentantenhaus erhielten, ihren Einfluss im US-Senat dramatisch stärkten und in bedeutenden Bundesstaaten die Regierung übernahmen.

Selbst in den wichtigen Präsidentschaftswahlen, die in den USA alle vier Jahre abgehalten werden, fiel die Wahlbeteiligung im Jahr 2012 auf nur 53 Prozent. In den 1960er Jahren hatte sie noch bei 63 Prozent gelegen.

Diese Zahlen zeigen, dass die USA in Hinblick auf die politische Teilhabe und das Engagement der Wähler mittlerweile weit abgeschlagen sind. Früher lagen die Vereinigten Staaten mit vergleichbaren Ländern gleichauf. Heute weisen die meisten Vergleichsstaaten eine deutlich höhere Wahlbeteiligung auf, als sie in den USA selbst in den wichtigen Kongress- und Präsidentschaftswahlen erreicht werden.

 

Die USA: Fast eine Demokratie?

Nach dem „Demokratieindex“ des Economist liegen die Vereinigten Staaten heute nur noch auf Platz 21. Besonders niedrig sind die Werte für politische Teilhabe. Auf einer Skala von 1 bis 10 erreichen die USA die Note 8,1 und liegen damit nur einen Zehntelpunkt über der Linie, die Beobachter zwischen vollständigen Demokratien und unvollständigen Demokratien mit beträchtlicher Fehlfunktion ziehen.

Diese Fehlfunktion weitet sich infolge systematischer Defizite aus. Zum Teil sind sie bis zur Gründung der Republik zurückzuverfolgen, doch überwiegend sind sie in den vergangenen Jahren entstanden. Um diese Defizite müssen sich die USA kümmern, wenn sie einen weiteren Niedergang ihrer Demokratie verhindern wollen. Denn dass sich die Amerikaner in Scharen von der Politik abwenden, hat handfeste Gründe:

Die Regierung orientiert sich heute mehr als je zuvor in der modernen US-Geschichte an reichen Eliten statt an der großen Masse der Bürgerinnen und Bürger. Amerikanische Wahlkämpfe werden überwiegend privat finanziert, und Konzerne und reiche Einzelspender, von denen der Großteil dieser Gelder stammt, haben ihren Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten mit wachsendem Nachdruck ausgeweitet. Jede neue Wahlperiode geht mit neuen Spendenrekorden für die Wahlkämpfe einher, die ihren Schwerpunkt in virulent negativen 30-Sekunden-Fernsehspots auf privaten TV-Sendern haben. Im Präsidentschaftswahlkampf 2012 wurden von den verschiedenen Wahlkämpfern und ihren Verbündeten mehr als 10 Milliarden Dollar eingesammelt und ausgegeben. Die Spendensammlung für 2016 ist bereits angelaufen. Umfragen zufolge haben die Wählerinnen und Wähler zunehmend Zweifel daran, dass die Gewählten den Volkswillen repräsentieren können oder wollen. Sie haben völlig Recht. Sie gehen mittlerweile davon aus, dass die Wahlpolitik eine moderne „Game-of-Thrones“-Variante ist, bei der mächtige Interessenvertreter die Kandidaten auswählen, die Wahlkampfthemen festlegen und die Bandbreite der Möglichkeiten, mit denen auf gesellschaftliche Veränderungen reagiert werden kann, einschränken.

Die Regierung orientiert sich heute mehr als je zuvor in der modernen US-Geschichte an reichen Eliten statt an der großen Masse der Bürgerinnen und Bürger.

Mehrere Urteile des Obersten Gerichtshofs haben bewährte Regelungen zur Beschaffung und Verwendung von Wahlkampfspenden gekippt. Hier ist insbesondere das berühmt-berüchtigte Verdikt im Fall Citizens United gegen die Bundeswahlkommission zu erwähnen, nach dem Spenden als Meinungsäußerung zu verstehen und zu akzeptieren sind. Seitdem sind die traditionellen Wege zu einer Reform des politischen Prozesses blockiert.

Konzerne und reiche Einzelpersonen können heute unbegrenzte Summen spenden, um die Diskussion zu steuern und die Wahlkampfstrategie zu beeinflussen. Damit haben Eliten einen wachsenden Einfluss auf Rahmen und Charakter des öffentlichen Diskurses. Geldeliten können auf propagandistische Weise „Themen“ generieren, die ihren Interessen entgegenkommen: Etwa eine Austeritätspolitik, mit der Steuern gesenkt und die Privatisierung von Bildung, Dienstleistungen und Sozialprogrammen gefördert wird. Gleichzeitig können sie eine sinnvolle Reaktion auf berechtigte Anliegen wie Reaktion auf Klimawandel, Ungleichheit und Diskriminierung gegen Frauen am Arbeitsplatz verhindern.

Die Wahlkampfberichterstattung wird lückenhaft und bedeutungslos, wenn sich in Not geratene private Medien (Zeitungen mit einer schrumpfenden Leserschaft und sinkenden Werbeeinnahmen, Fernsehsender mit einem schrumpfenden Publikum und wachsender Konkurrenz von Seiten der Kabelmedien und der digitalen Medien) auf Unterhaltung statt auf Substanz konzentrieren.

Den historisch unterfinanzierten öffentlich-rechtlichen Medien fehlen Mittel und Einfluss, mit ihrer Wahlkampfberichterstattung die Wählerinnen und Wähler vernünftig zu informieren. Zeitungen stellen den Betrieb ein oder entlassen Journalisten. Fernsehstationen fahren die Wahlkampfberichterstattung zurück, und das Radio wird zunehmend von landesweiten Konsortien beherrscht. Und die unterstützen konservative und konzernfreundliche Kandidaten und Ideen. Mittlerweile liegen die Wachhunde nicht nur an der Kette – mancherorts wurden sie bereits eingeschläfert. Und weil die digitalen Medien keine ausreichenden Einkünfte generieren können, um landesweit, in den Bundesstaaten oder in den Kommunen sinnvollen Journalismus zu betreiben, wird auch ein Großteil der Wahlkampf-„Informationen“, die potenzielle Wählerinnen und Wähler im Netz erhalten, von denselben Interessengruppen manipuliert und gesteuert, die auch die Fernsehwerbung bezahlen.

Hinzu kommt, dass die meisten Wahlen keine echten Wahlen mehr sind, weil Politiker die Wahlkreisgrenzen so gezogen haben, dass der Sieg einer bestimmten Partei garantiert ist. Amtierende Kandidaten werden selten geschlagen, und oft fordern die Oppositionsparteien sie nicht einmal ernsthaft heraus. Die einseitige Wahlkreisverschiebung, das sogenannte gerrymandering, wirkt sich so stark aus, dass die Demokraten im Jahr 2012 im Rennen um die Sitze im US-Repräsentantenhaus einen Vorsprung von 1,4 Millionen Wählerstimmen hatten und die Republikaner dennoch die Kontrolle der Kammer „errangen“.

 

Volkswille? Nebensache!

Selbst wenn sich Wählerinnen und Wähler beteiligen und ihre Stimme abgeben, wird der Volkswille oft von den undurchsichtigen Wahlgesetzen durchkreuzt, die ihn eher behindern als widerspiegeln. Bekanntlich erhielt der Demokrat Al Gore im Jahr 2000 US-weit 540 000 Stimmen mehr als der Republikaner George W. Bush. Dennoch wurde Bush Präsident: Unterstützt durch ein Urteil des Obersten Gerichtshofs, das die Bush-freundliche Zählung im Staat Florida für rechtens erklärte, erhielt er vom Wahlmännergremium, das die wenigsten Amerikaner gutheißen oder auch nur verstehen, die meisten Stimmen.

Amerika steht als Demokratie an einer Wegkreuzung.

Amerika steht als Demokratie an einer Wegkreuzung. Der Niedergang und die Fehlfunktion der Demokratie beschleunigen sich und ziehen die gesamte Politik in Mitleidenschaft, von den Wahlen bis hin zur Staatsführung. Die Krise ist so schwer, dass führende US-Wissenschaftler wie Lawrence Lessig mittlerweile das Amerikanische Versprechen als gescheitert betrachten. Politiker beider Parteien stehen bereit, am System herumzubasteln ‒ nicht aber die Bürgerinnen und Bürger. Es entstehen Massenbewegungen, die radikale Veränderungen in der US-Verfassung fordern. Mehr als 600 amerikanische Kommunen und 16 Bundesstaaten haben beantragt, dass der Kongress einen Prozess zur Überarbeitung der US-Verfassung in Gang bringt, damit die antidemokratischen Urteile des Obersten Gerichtshofs in Sachen Geld und Politik, Konzernmacht und Wählerrechten gekippt werden können. Forderungen, das Geld der Konzerne aus der Politik herauszuhalten, das Wahlmännersystem abzuschaffen, dem gerrymandering ein Ende zu bereiten und die öffentlich-rechtlichen Medien zu finanzieren, sind heute lauter als je zuvor in der modernen Zeit. Vor gut einem Jahrhundert, im so genannten „Gilded Age“, als die USA im Griff der sogenannten „Räuberbarone“ waren, läuteten Progressives und Populists ein Zeitalter der Reform ein: Frauen erhielten das Wahlrecht, der Senat wurde nicht mehr ernannt, sondern gewählt, und man schuf Instrumente für die Besteuerung und Regulierung mächtiger Interessengruppen. Innerhalb von zehn Jahren wurde die Verfassung dreimal geändert, um die Demokratie zu stärken. Das war nicht leicht, aber notwendig. Heute ist wieder eine radikale Reform vonnöten. Auch sie wird nicht einfach sein. Doch sie ist unumgänglich, damit sich die Bürgerinnen und Bürger wieder in die Demokratie einbringen können und damit die Regierung den Volkswillen umsetzt, anstatt die Forderungen von Unternehmens- und Geldeliten.