In David Camerons Amtszeit in der Downing Street wurden zwei längst überfällige Dinge erreicht. Das eine mögen Großbritannien-Beobachter lediglich mit höflichem Interesse verfolgen, da es sich überwiegend innenpolitisch auswirkt: Cameron hat dem Mythos, die Konservative Partei verzichte zugunsten praktischer Machtpolitik auf Ideologie, den Todesstoß versetzt. Seine Torys stellen die ideologischsten Minister, die seit der Labour-Regierung 1945 im Amt waren; sie sind Theorie und Doktrin stärker verpflichtet als Margaret Thatcher.

Die zweite Errungenschaft dürfte für Beobachter außerhalb Großbritanniens interessanter sein, besonders für Europäer. Teils unbeabsichtigt, teils gezielt hat Cameron den diplomatischen und militärischen Einfluss Großbritanniens geschmälert und das EU-Profil des Landes geschwächt. Großbritannien ist im Nahen Osten ohne jede Bedeutung, wurde in der afghanischen Provinz Helmand besiegt, spielt in der Bewältigung der Ukraine-Krise keine Rolle und ist zum Spielball chinesischer Konzern- und Staatsinteressen geworden, kurz: Das Vereinigte Königreich ist keine treibende Kraft mehr, weder international noch regional.

Man mag das als Gegenreaktion auf die übertriebene Einmischung Tony Blairs im Irak und in Afghanistan deuten. Aber vergessen wir nicht, dass Cameron Chef der Torys ist, deren Aktivisten bis heute Winston Churchill verehren. Die historische Identität der Partei leitete sich stets aus einem »großen Britannien« ab.

Das Vereinigte Königreich ist keine treibende Kraft mehr, weder international noch regional.

An dieser Stelle sollten wir eine dritte Errungenschaft Camerons erwähnen, die Thema unseres jüngsten Buches ist. Gemeinsam mit seinem Schatzkanzler George Osborne ist dem Premierminister der ganz große Wurf gelungen, wir sprechen in unserem Buch sogar von einem coup, also Staatsstreich. Die beiden verwandelten die Bestürzung der Öffentlichkeit über die Finanzkrise 2007 /2008 und die sich anschließende Rezession in ein politisches Instrument, mit dem sie auf den Sozialstaat losgingen. Diese Attacke verlief überaus erfolgreich, denn seit 2010 haben sie den öffentlichen Dienst um fast eine halbe Million Arbeitsplätze reduziert, und im Falle einer Wiederwahl planen sie, den Staat im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt auf ein Volumen zu schrumpfen, das so klein ist wie Ende der 1950er Jahre (als Großbritannien viel weniger ältere Bürgerinnen und Bürger hatte, die tendenziell auf staatliche Hilfe angewiesen sind).

Der Begriff »Ideologie« verunsichert die politische Klasse in Großbritannien, die nicht einsehen will, dass Politik durch Ideen vorangetrieben wird. Es ist wahr, dass Cameron kein Intellektueller ist. Anders als Thatcher wedelt er seinen Ministern nicht mit einer zerlesenen Ausgabe von Friedrich von Hayeks Der Weg zur Knechtschaft vor der Nase herum; in diesem Buch aus dem Jahr 1944 grenzte sich der österreichische Ökonom von den Ordoliberalen ab und brandmarkte Renten- und Gesundheitssystem als erste Schritte in die Tyrannei des Staates.

Doch Cameron, der schon für die Torys arbeitete, als Thatcher noch in der Downing Street das Zepter schwang, vertritt unverkennbar neoliberale Ansichten, nach denen Märkte stets besser funktionieren als kollektive Vorsorge. Im Gegensatz zu Thatcher, die diesen Schritt nie wagte, machte er sich daran, den National Health Service als nationalen Gesundheitsdienst aufzubrechen und dem Wettbewerb zu unterwerfen. Unter Cameron wurden die Schulen in England der demokratischen Aufsicht durch gewählte kommunale Gremien entzogen. Vor allem aber haben seine Minister die Unterstützung für Niedrigverdiener zusammengestrichen, mit Ausnahme der Senioren, die anteilig mehr Wählerinnen und Wähler stellen als andere Altersgruppen.

In Europa gelten die Torys unter Cameron seit langem als politische Eigenbrötler – ein Beleg ist seine demonstrative Ablehnung der christdemokratischen Fraktion im Europaparlament. Im Inland hat er unterdessen einen einstigen Stützpfeiler der Tory-Identität zerschlagen.

Die Torys waren früher eine »unionistische« Partei, die für sich in Anspruch nahm, mit ihren Werten dem gesamten Land zu nützen. Cameron dagegen betrieb eine Politik (vor allem im Wohnungsbau und in der Sozialhilfe), von der er wusste, dass sie die Spannungen zwischen Nord und Süd, zwischen Schottland und dem Rest Großbritanniens verstärken würde. Man stelle sich vor, dass Angela Merkel mit politischen Maßnahmen ein einzelnes Bundesland gezielt benachteiligen würde. Der knappe Ausgang der Volksabstimmung zur schottischen Unabhängigkeit im letzten September lässt sich unmittelbar auf Camerons neoliberale Überzeugungen zurückführen, die stärker sind als seine Verpflichtung gegenüber den einstigen Zielen der Konservativen Partei.

Gleichwohl sollten wir nicht so tun, als verfolgte Cameron eine klare Linie, als sei er nicht den normalen Wechselfällen der Politik ausgesetzt. Schatzkanzler Osborne betreibt einen wirtschaftspolitischen Stotterkurs und hat es nicht geschafft, typisch britische Probleme zu lösen, etwa das geringe Produktivitätsniveau, die mangelhafte berufliche Ausbildung, regionale Ungleichgewichte und Verzerrungen zugunsten des Finanzsektors. Das eindrucksvolle Wachstum, das Großbritannien seit 2013 erlebt, beruht auf einer Entwicklung der Verbraucherschulden, die der vor dem Crash 2007 /2008 verdächtig ähnelt.

Neoliberale dürfte es freuen, dass infolge der starken Ausweitung des Niedriglohnsektors immer mehr Migranten nach Großbritannien strömen. Befördert haben diese Entwicklung die Konservativen, indem sie Gewerkschaften gängelten und Arbeitnehmerrechte beschnitten. Dabei waren die Torys traditionell die Partei der Einwanderungskontrolle. Nun kann die UK Independence Party zu ihrer Rechten aus der Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Einwanderungspolitik Kapital schlagen. Hier hat Cameron auf ganzer Linie versagt. Im Jahr 2010 versprach er, die Nettoimmigration auf eine fünfstellige Zahl zu reduzieren (also auf unter 100 000 Zuwanderer). Die jüngste Jahresabrechnung weist aber eine Nettoeinwanderung von 278 000 aus.

Freuen dürften sich Neoliberale auch darüber, dass Ausgabenkürzungen vor dem Verteidigungsbudget nicht Halt machen. Dabei fühlten sich die Torys traditionell für die Verteidigung zuständig. Nun verantworten sie den Bau zweier Flugzeugträger, die womöglich nie vom Stapel laufen werden, weil das Budget nicht für die nötigen Begleit- und Versorgungsschiffe reicht. Und Wladimir Putins Bomber können ungehindert in den britischen Luftraum vordringen, weil der Royal Air Force das Gerät für Patrouillenflüge fehlt.

Gelitten hat auch die britische Identität. Das Land fällt auseinander.

Die Torys gehen also in die Parlamentswahl 2015, nachdem sie den Wohlfahrtsstaat der Nachkriegszeit zurückgefahren haben, und zwar auf Kosten ihrer eigenen politischen Identität. Gelitten hat auch die britische Identität. Das Land fällt auseinander. Wird Cameron wiedergewählt, werden die Schotten eine weitere Volksabstimmung fordern, die nach heutigem Stand mit dem Austritt enden wird. Im Umgang mit internationalen Krisen – von Russland bis hin zum Fundamentalismus – ist Großbritannien kein verlässlicher Partner mehr. Das Land ist gespalten.

Camerons politischer Weggefährte Osborne hat einmal gesagt, in der Wirtschaftskrise säßen »wir alle in einem Boot«. Das ist ein schlechter Scherz. Die Armut nimmt zu, regionale Unterschiede wachsen, politische Entscheidungen laufen den Interessen der Alten und der Jungen zuwider. Das nicht reformierte unfaire Unterhauswahlsystem könnte dafür sorgen, dass Cameron mit der Unterstützung eines knappen Drittels der Wählerinnen und Wähler an der Macht bleibt. Fünf weitere Jahre aber wären eine Strapaze für das, was von der Einheit des Landes noch geblieben ist.