Gemeinhin wird das Demokratiedefizit der Europäischen Union mit zu geringen Kompetenzen des Europäischen Parlaments erklärt und als Lösung dieses Problems die Umwandlung der EU in ein parlamentarisches System nach staatlichem Muster gefordert. Sie argumentieren, dass dies nicht nur nichts helfen, sondern die Lage sogar noch verschlechtern würde. Warum?
Es gibt mehrere Gründe. Der erste Grund liegt darin, dass im Europäischen Parlament der Wählerwillen nicht genügend Ausdruck findet. Das hängt wiederum mit dem europäischen Wahlrecht zusammen. Das europäische Wahlrecht ist nicht europäisiert. Wir wählen nach nationalem Wahlrecht. Wir wählen nationale Kontingente, die aber nicht der Größe der Bevölkerungen entsprechen. Wir können nur nationale Parteien wählen. Die nationalen Parteien machen mit nationalen Themen Wahlkampf, weil sie ja ihre Stimmen im Land bekommen wollen. Wenn das Ergebnis feststeht, wird es meistens unter dem Gesichtspunkt betrachtet: Wenn es die Bundestagswahl gewesen wäre, wer hätte gewonnen, die Regierung oder die Opposition?
Außerdem spielen die nationalen Parteien, die wir wählen, im Europäischen Parlament gar keine Rolle. Die 200 Parteien, die ins Europäische Parlament einziehen, schließen sich vielmehr nach der Wahl zu wenigen Fraktionen zusammen, die ihrerseits aber in keiner Gesellschaft verwurzelt sind. Die Fraktionen beherrschen den Parlamentsbetrieb. Es entsteht also eine paradoxe Situation: Die Parteien, die man wählen kann, haben im Parlament nichts zu sagen. Die Fraktionen, die etwas zu sagen haben, kann man nicht wählen. Damit ist der Legitimationsstrang vom Wähler zum Parlament abgeknickt. Der Wähler hat keine Chance, über europapolitische Programme abzustimmen, denn die Europäisierung findet erst nach der Wahl statt.
Also braucht man ein europäisches Wahlrecht und europäische Parteien?
Ja, aber selbst durch ein einheitliches europäisches Wahlrecht und genuin europäische Parteien wäre das Demokratiedefizit nicht behoben. Mit einer Wahl alle fünf Jahre ist es ja nicht getan. Das gewählte Parlament kann seine Vermittlungsrolle zwischen den Wählern und der EU während der fünf Jahre ja nur erfüllen, wenn es in einen dauernden Austauschprozess mit der Gesellschaft eingebettet ist. Das setzt einen ständigen europäischen Diskurs voraus, der von europäischen Medien aufrechterhalten wird. Die Voraussetzungen dafür sind aber in Europa schlecht. Wir kommunizieren in unseren jeweiligen Sprachen und in nationalen Kommunikationsräumen gemäß den nationalen Kommunikationsgewohnheiten und mithilfe nationaler Medien. In der EU gibt es keinen europaweiten europäischen Diskurs, sondern 28 oder vielleicht bald 27 nationale Diskurse über Europa. Daran wird sich so schnell auch nichts ändern, denn das Entstehen der Voraussetzungen kann man nicht anordnen, sie müssen wachsen. Das Europäische Parlament ist daher von seinen Wählern weiter entfernt als jedes nationale Parlament.
Das ist aber noch nicht alles. Man kann ja das Parlament nicht aufwerten, ohne zugleich andere Organe abzuwerten. Den Preis soll der Rat zahlen. Er soll in eine Zweite Kammer des Europäischen Parlaments umgewandelt werden. Der Rat ist aber das einzige Organ der EU, in dem die Mitgliedstaaten vertreten sind, die ja die EU tragen. Mit seiner Degradierung würde auch der Legitimationsstrom gekappt, der der EU vor den demokratisch gewählten und verantwortlichen Regierungen der Mitgliedstaaten zufließt. Die ganze demokratische Legitimationslast müsste also vom Europäischen Parlament getragen werden. Wie soll es das schaffen unter den Bedingungen, die ich gerade beschrieben habe?
Die Rechtsprechung des EuGH hat dazu geführt, dass die demokratisch legitimierten Institutionen Rat und Parlament an wichtige politische Entscheidungen gar nicht herankommen.
Und nun ein letzter Grund: Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat dazu geführt, dass die demokratisch legitimierten Institutionen Rat und Parlament an wichtige politische Entscheidungen gar nicht herankommen. Das muss etwas näher erläutert werden. Die EU ist kein Staat. Ihre Rechtsgrundlage besteht nicht aus einer Verfassung, sondern aus den Römischen Verträgen, deren 60-jähriges Jubiläum wir im März feiern. Durch frühe Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sind diese Verträge aber, wie man sagt, konstitutionalisiert worden. Sie haben sozusagen die Funktion übernommen, die im nationalen Staat Verfassungen haben. Verfassungen entziehen bestimmte grundlegende Prinzipien der Mehrheitsentscheidung und bestimmen im Übrigen die Organe der politischen Einheit, ihre Kompetenzen und das Verfahren, in dem politische Entscheidungen gefällt werden. Die Entscheidungen selbst überlassen sie aber der Politik auf der Basis der Wählerpräferenzen.
Die europäischen Verträge, die vom EuGH konstitutionalisiert worden sind, beschränken sich aber nicht auf solche Bestimmungen. Sie sind voll von dem, was in den Mitgliedstaaten einfaches Gesetzesrecht wäre. Deswegen sind sie so dick. Man muss sich das so vorstellen, als ob das gesamte Handelsgesetzbuch oder das gesamte Kartellgesetz im Grundgesetz stünden! Damit sind sie aber dem Einfluss der Politik entzogen. Wenn es um ihre Auslegung und Anwendung geht, sind die Vollzugs- und Gerichtsorgane der EU, also Kommission und EuGH, unter sich. Rat und Parlament sind jedoch nicht nur ausgeschlossen. Sie haben auch keine Chance, etwas zu ändern, wenn sie meinen, die Rechtsprechung habe nichts mit ihren Absichten beim Abschluss der Verträge zu tun oder habe schädliche Folgen.
Die einzige Einflussmöglichkeit besteht in der Änderung der Verträge, aber die setzt Einstimmigkeit aller Mitgliedstaaten und Ratifizierung durch alle Parlamente oder gar durch Referenden voraus und ist deswegen für solche Zwecke unerreichbar. Die daraus resultierende Verselbständigung von Kommission und EuGH von den demokratischen Prozessen und dem Wahlausgang bildet das eigentliche Demokratieproblem Europas. Es ist leicht einzusehen, dass eine Ausweitung der Kompetenzen des Europäischen Parlaments an diesem Problem völlig vorbeiginge. Das sind die Gründe dafür, dass eine Parlamentarisierung ein Irrweg wäre.
Müsste man dann nicht beim EuGH ansetzen und ihm Kompetenzen entziehen?
Nein, er hat genau die Kompetenzen, die er haben muss. Er interpretiert das europäische Recht, wenn Zweifel oder Konflikte über seine Bedeutung auftreten, und entscheidet über Kompetenzstreitigkeiten zwischen der EU und den Mitgliedstaaten. Das Problem ist nicht, dass er zu viele Kompetenzen hat, sondern das Problem ist die Konstitutionalisierung der Verträge. Sie verhindert, was in jedem demokratischen Staat selbstverständlich ist, nämlich dass das Parlament das Recht ändern darf, wenn es die Rechtsprechung nicht für gut hält. Deswegen liegt der Schlüssel bei der Konstitutionalisierung.
Was wäre Ihr Vorschlag?
Machen wir das Europäische Parlament repräsentativer für die Unionsbürger, indem wir das Wahlrecht europäisieren. Und lassen wir europäische Parteien statt nationaler kandidieren. Dann ist der Legitimationsknick beseitigt. Das wäre ein wesentlicher Schritt, das Parlament näher an die Bedürfnisse der Wähler heranzurücken.
Man müsste alles aus den EU-Verträgen herausnehmen, was nicht seiner Natur nach Verfassungsrecht ist.
Sodann: Wenn die Verträge in der Europäischen Union schon mit der Wirkung von Verfassungen ausgestattet worden sind, dann sollte man sie auch wie Verfassungen ausgestalten. Man müsste alles herausnehmen, was nicht seiner Natur nach Verfassungsrecht ist. Was bliebe dann in den Verträgen? Es blieben: die Ziele der Europäischen Union, ihre Organe, ihre Kompetenzen, das Verfahren der Kompetenzausübung und die Grundrechte-Charta. Alles andere ginge nicht verloren, sondern würde nur auf die Ebene von Gesetzesrecht herabgestuft. Damit können die politischen, von Wahlen abhängigen Organe, also der Rat und das Europäische Parlament, wieder ins Spiel kommen. Wenn ihnen nicht passt, was der Europäische Gerichtshof macht, ändern sie das Gesetz. Das ist völlige demokratische Normalität.
Wie realistisch ist das?
Die Europäisierung der Europa-Wahlen ist bereits in den Verträgen vorgesehen. Der Auftrag müsste verwirklicht werden. Die meisten Mitgliedstaaten haben jedoch kein Interesse daran.
Die Entkonstitutionalisierung und damit Repolitisierung großer Teile der Verträge ist juristisch ganz einfach. Ein einziger Paragraph genügt, der aber im Weg der Vertragsänderung, also einstimmig, beschlossen werden müsste. Meine Hoffnungen, dass es dazu kommt, sind jedoch gering, solange die meisten noch nicht einmal das Problem erkannt haben.
Können Sie Beispiele nennen, wo die Auslegung des Gerichtshofs oder der Richter stark in nationales Recht hineingreift?
Der Gerichtshof interpretiert zum Beispiel das Verbot von Einfuhrzöllen und -quoten sowie gleichzuhaltenden Maßnahmen in den Verträgen nicht nur als Diskriminierungsverbot ausländischer Wettbewerber, sondern weiter als Regulierungsverbot. Mit dieser entgrenzten Interpretation hat er es in der Hand, jeden nationalen Schutzstandard, im Konsumentenschutz, im Arbeitsschutz usw., außer Kraft zu setzen, wenn er darin ein Marktzugangshindernis sieht.
Die Mitgliedstaaten können nicht mehr entscheiden, was sie dem Markt überlassen und was sie in staatliche Regie nehmen wollen.
Der EuGH bezieht das Verbot marktbegrenzender staatlicher Beihilfen an Unternehmen nicht nur auf privatwirtschaftliche, sondern auch auf öffentliche Unternehmen der Daseinsvorsorge. Das ist einer der Gründe für die Privatisierungswelle, die wir erlebt haben. Auch hier ist die Vorschrift in den Verträgen durch Interpretation entgrenzt worden. Die Mitgliedstaaten können nicht mehr entscheiden, was sie dem Markt überlassen und was sie in staatliche Regie nehmen wollen.
Ein weiteres Beispiel sind die Grundrechte. Wir haben viele Grundrechtskataloge. Das Grundgesetz enthält einen Grundrechtskatalog. In den Landesverfassungen gibt es Grundrechte. Die Europäische Menschenrechtskonvention gewährleistet Grundrechte. Und seit dem Vertrag von Lissabon hat auch die Europäische Union einen Grundrechtskatalog. Da kommt natürlich die Frage auf: Wie verhalten sie sich zueinander? Die Grundrechte-Charta sagt dazu, die Unionsgrundrechte gelten für die Organe der EU, für die Mitgliedstaaten dagegen nur, wenn diese Unionsrecht anwenden. Der EuGH weitet aber auch hier die europäischen Grundrechte aus und drängt die nationalen zurück, indem er zur Anwendung europäischen Rechts auch die Anwendung nationalen Rechts zählt, wenn dieses irgendeinen Bezug zum Unionsrecht hat.
Das wäre nun kein Problem, wenn das Verständnis der Grundrechte im Staat und in der EU einigermaßen gleich wäre. Indessen hat der Europäische Gerichtshof eine deutliche Präferenz für die wirtschaftlichen Freiheiten, während die personalen und die kommunikativen Grundrechte zurücktreten. In den Staaten ist es genau umgekehrt. Die wirtschaftlichen Grundrechte sind dort die schwächsten Grundrechte, personale und kommunikative sind die stärksten. Da lauert viel Konfliktpotenzial.
Gesetzt den Fall, man würde das durchsetzen, was Sie vorgeschlagen haben: Würde das an dem allgemeinen Gefühl der Bürgerinnen und Bürger, dass die EU über ihren Kopf hinweg bestimmt, etwas ändern?
Durchaus. Denn wenn der EuGH durch Gesetzesänderung umprogrammiert werden kann, dann sind ja die demokratisch legitimierten und verantwortlichen Organe wieder im Spiel, der Rat, in dem die demokratisch gewählten nationalen Regierungen sitzen, und das demokratisch gewählte Europäische Parlament. Beide kann man aber in der Wahl zur Verantwortung ziehen, auch für Nichtstun. Der Europäische Gerichtshof muss sich aus gutem Grund keiner Wahl und keiner Vertrauensabstimmung stellen. Rat und Parlament müssen es und sind deswegen gezwungen, viel stärker auf die Stimme des Volkes zu achten. Das wäre schon ein Gewinn.
Die Fragen stellte <link ipg autorinnen-und-autoren autor ipg-author detail author anja-papenfuss>Anja Papenfuß.