Es gibt sie einfach nicht: Obdachlose, Slums oder Käfigwohnungen. Betonschluchten, an deren Fassaden gigantische Knäuel aus Elektrodraht baumeln, in denen die Wäscheleinen überbevölkerter Wohnungen kaum noch den Himmel sehen lassen. Daran erinnern sich nur noch Singapurs Senioren.  Dem Inselstaat ist es mit einer eigenwilligen Wohnpolitik gelungen mit all dem aufzuräumen, worunter die meisten Einwohner von Asiens Megalopolen ächzen und keuchen. Das Ergebnis kann sich heute selbst im Weltmaßstab sehen lassen: Dreiviertel aller Wohnungen im 5,6 Millionen Einwohner zählenden Singapur wurden vom Behördeneigenen Housing & Development Board (HDB) erbaut, finanziert durch die Einlagen der staatlichen Rentenkasse. 90 Prozent der Singapurer besitzen heute ihre Wohnimmobilie. Damit ist Singapur Spitze unter führenden Marktökonomien.

Dabei war der Ministaat noch in den 1960er Jahren keineswegs eine Insel der Glückseeligen. Im Gegenteil. Die Hafenstadt, die erst 1959 die Unabhängigkeit von Großbritannien erlangte, litt unter horrender Wohnungsnot und mangelnder Hygiene. Zerstörungen während der japanischen Besatzungszeit während des zweiten Weltkrieges, eine nur schleppend initiierte Wohnungsbaupolitik der britischen Verwalter und hohe Geburtenraten addierten sich insbesondere für die armen Bevölkerungsschichten zur Notlage. Die noch heute regierende Peoples Action Party (PAP) errang denn auch 1959 ihren ersten Wahlsieg mit dem Versprechen, schnelle Abhilfe bei der Wohnungsnot zu schaffen.

Der Ausbau in die Höhe und erschwingliche Miet- und schnell auch Kaufpreise sind Programm. Um die Finanzierung vollständig zu kontrollieren kaufte die Singapurer Regierung systematisch Land auf. Auch der Bau blieb unter staatlicher Aufsicht.

Gesagt, getan, wie die Singapurer es seit damals von der PAP und ihrem legendären Premier Lee Kuan Yew gewohnt sind: Bis 1965 errichtete die neu gegründete Behörde, der Housing and Development Board (HDB), knapp 55 000 erschwingliche Wohnungen für sozial schwache Familien. Bereits die allerersten Konzepte sahen eine Verdichtung der Stadt vor, da Singapur als Insel nur über wenig Hinterland verfügt. Träume uferloser Eigenheim-Siedlungen wurden gar nicht erst geträumt. Der Ausbau in die Höhe und erschwingliche Miet- und schnell auch Kaufpreise sind seitdem Programm. Um die Finanzierung vollständig zu kontrollieren kaufte die Singapurer Regierung systematisch Land auf. Auch der Bau blieb unter staatlicher Aufsicht. Heute besitzt die Regierung 90 Prozent des Singapurer Bodens und vergibt die Bauaufträge ganzer Stadtteile an private Baufirmen, die sich ganz auf den Staat als Kunden eingestellt haben.   

Später, in den 1990er Jahren, als die ersten „HDBs“ genannten Sozialwohnungen in die Jahre gekommen waren, lernte die Regierung auch mit den Erfordernissen kostengünstiger Instandhaltung umzugehen.

Singapurs bemerkenswerteste Leistung ist es, unter staatlicher Ägide einen attraktiven Immobilienmarkt für die Massen kreiert zu haben: Familien, die ihre HDB-Wohnung per Mietkauf, auf Basis ihrer Einlagen aus der Arbeitgeber ko-finanzierten Rentenkasse oder per staatlichem zinsgünstigem Kredit erworben haben, können diese seit den 1990er Jahren zu kontrollierten, aber attraktiven Marktpreisen gewinnbringend verkaufen.

Seit ihrer Erfindung hat die Singapurer Wohnungsbaupolitik zahlreiche Anpassungen und Nachbesserungen erfahren. Die Regierung scheut nicht davor zurück, ihre Standard-Baumodelle dem wachsenden Wohlstand der Hafenmetropole anzupassen. Von einfachen, aber gepflegten Miet-Wohnungen bis hin zu Designer-Appartments und „executive condominiums“ für finanzstarke Käufer hat HDB alles im Angebot. Die Preiskontrolle erfordert natürlich zahlreiche und komplexe Regelungen. „Zu viele Paragraphen“ bemängeln die einen. Die anderen loben die Transparenz der Behörde, die alle erdenklichen Informationen und Preistabellen, bis hin zum gezahlten Quadratmeterpreis für Malerarbeiten, auf ihrer Website veröffentlicht.

Wer sich unter sozialem Wohungsbau graue Betonburgen und verwahrloste Spielplätze vorstellt, liegt damit am Äquator völlig daneben.

Das Prinzip jedoch blieb unverändert. Der Staat kontrolliert die Stadtentwicklung und das Erscheinungsbild Singapurs. Bürger und Bürgerinnen erhalten, via HDB, subventionierten Mietraum oder Wohneigentum in den bis dato 23 intelligent designten, sich selbst versorgenden neuen Kleinstädten. Wohnen ist eine Art der Umverteilung im ansonsten kapitalistischen Handelsimperium der stramm regierenden PAP.

Das tropische Modell wird zusammengehalten von einer höchst effektiven Verwaltung, komplexen Finanzierungsmodellen und effektivem Bodenmanagement. Eine Strategie, die sich für den kleinen Tiger Singapur selbst bei der Erstellung von Industrie- und Gewerbeimmobilien bewährt.    

Ist also etwas zu lernen vom Modell Singapur? Abhas Jha, Manager eines der größten Infrastruktur-Portfolios der Weltbank, hatte da seine Zweifel. Als Jha in Lateinamerika zu Wohnungsbau arbeitete, sagte er seinen Kunden stets, dass es keine gute Idee sei, wenn der Staat Wohnungen selber baut und anbietet. „Wir sagten, dass es die Aufgabe von Regierungen sei, einen Markt zu schaffen, der Wohnungsbau kann,“ schreibt Jah in einem aktuellen Blog. „Und dann haben unsere Kunden immer gefragt: ‚Aber was ist mit Singapur?‘ – und wir haben immer geantwortet: ‚Das ist kein kopierbares Modell‘.“

Seitdem Abhas Jha nun selbst seit über zwei Jahren in Singapur lebt, sieht der Weltbanker die Sache anders. Heute schreibt der Ökonom darüber, was die Welt von Singapur lernen kann. Kurz zusammengefasst sind es folgende Thesen, die er, aber auch zahlreiche andere Stadtforscher in ihren Blogs und Aufsätzen aufführen:

Neben der vorbildlichen und Nachhaltigkeit fördernden Verdichtung, sei es die an Dorfstrukturen orientierte Planung der Singapurer HDBs, die diese so lebbar mache. Wer sich unter sozialem Wohungsbau graue Betonburgen und verwahrloste Spielplätze vorstelle, liege damit am Äquator völlig daneben. Singapurs Wohnsiedlungen tragen Namen wie englische Landsitze („The Lakeside Estates“) und sind umgeben von parkähnlichen Grünanlagen mit gepflegten Sportanlagen.

Jede neue Trabantenstadt ergebe für sich genommen eine voll funktionsfähige Stadt, mit effektiver Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, ausreichend Kindergarten- und Schulplätzen in erstklassigen Einrichtungen, Betreuungseinrichtungen für Senioren und Gesundheitszentren. Jede Hochhausetage biete zudem genug Terrassenraum für Begegnungen und soziale Interaktion. Sobald der HDB einen neuen Stadtteil fertig gestellt hat, wird dieser in die Selbstverwaltung eines Stadtrates (Town Councils) übergeben. Dieser sorgt seinerseits für eine strikt inklusive und ausgewogene Wohnungsvergabe, bei der sozial Schwache wie auch Mittelschichtsfamilien berücksichtigt werden. Auch die ethnische Durchmischung wird nicht dem Zufall überlassen. Gemäß ihrem Prozentanteil an der Singapurer Bevölkerung erhalten Familien verschiedener Ethnien Wohnungen pro Block. So will Singapur verhindern, dass mono-ethnische Nachbarschaften entstehen und es zu Spannungen im Vielvölkerstaat kommt.  

Was Jha als Voraussetzung erfolgreicher Wohnungspolitik aufführt, ist zudem die zuverlässige und klar kommunizierte Rolle der Politik. „Das allgemeine und politische Bekenntnis zur öffentlichen Wohnungsbaupolitik (in Singapur) ist stark und stabil. Das bedeutet ein hohes Maß an öffentlichen Subventionen.” Allein in 2017 betrugen diese rund 1,19 Milliarden Singapur Dollar, umgerechnet rund 757 Millionen Euro. Sprich: Singapur leistet sich ein teures Programm. Dies aber, so das Experten-Urteil, liefere zuverlässige Dividende, nämlich zufriedene Stadbewohner.

Doch nicht alle Singapurer Wählenden scheinen, im Angesicht rasant steigender Lebenshaltungskosten, zu dankbar zu sein. Und nicht jede Trabantenstadt wird von der PAP-Regierung gleich gut bedacht. Kritiker der Oppositionspartei „Workers Party“ weisen immer wieder darauf hin, dass die Renovierungsrate der HDBs in Stadtteilen, in denen die Regierungspartei PAP bei Wahlen ihren Gegenern unterliegt, deutlich niedriger ist als in Regierungshochburgen.

Schon die nahe Zukunft wird große Herausforderungen für die ehrgeizigen Planer Singapurs zeitigen. Wie vielen westlichen Industriegesellschaften droht auch dem Stadtstaat schon bald die Überalterung. Das Singapurer Parlament hat bereits mit der Debatte begonnen, was das für die Baupolitik bedeuten wird. Traditionell verkaufen Singapurer im Alter ihre (größeren) Wohnungen um sich damit ihr Altenteil zu finanzieren. Denn der Staat zahlt an Rente nur soviel aus, wie vom Bürger eingezahlt wurde. Dies könnte, so befürchten Sozialpolitiker, in Zukunft eine Finanzkrise auf dem kontrollierten Immobilienmarkt der Insel auslösen. Nämlich dann, wenn Millionen Rentner sich gezwungen sehen, ihre Wohnungen zu verkaufen.