Die amerikanische Demokratie blickt auf 250 Jahre zurück, in denen sie sich erfolgreich gegen die Vereinnahmung ganz unterschiedlicher Interessenvertreter einschließlich des Präsidenten zu verteidigen wusste. Auch der 45. Präsident der Vereinigten Staaten wird von „Checks and Balances“ eingehegt.

Trumps Parole „America first“ klingt unangenehm und protektionistisch, wurde jedoch auch vor ihm schon von anderen Präsidenten gedacht. Seine Amtszeit oder seine Amtszeiten werden sich ohne Zweifel in die Länge ziehen, aber nicht das „Ende des Westens“ bedeuten. Trump verstärkt den Prozess der transatlantischen Entfremdung, er begründet ihn aber nicht.

Die jüngst durch das Manifest „Trotz alledem: Amerika“ begonnene Debatte zur Zukunft des transatlantischen Verhältnisses begrüße ich sehr, nehme sie aber in Teilen als zu monothematisch wahr. Es liegt mir fern, die Bedeutung der Außen- und Sicherheitspolitik in Abrede stellen zu wollen. Die weitgehende Beschränkung der Debatte auf dieses Thema gibt mir jedoch zu denken. Sie vernachlässigt in meinen Augen die Tatsache, dass Globalisierung, Automatisierung und Digitalisierung die Innen- und Außenpolitik haben zusammenrücken lassen. Trump hat wie kein Präsident vor ihm verstanden, denen nach dem Mund zu reden, die von der neuen Weltordnung nicht profitieren. Diese Menschen waren es schließlich, die ihn ins Amt brachten. Und sie sind es nun, die mittelbar auf die Zukunft der westlichen Weltordnung Einfluss nehmen. Ganz neu ist diese Entwicklung nicht. Und sie findet auch nicht nur in den USA statt.

Ist das transatlantische Verhältnis also zerrüttet? Nein. Trumps politischer Egoismus, seine Verachtung nationaler und internationaler Institutionen und sein Desinteresse für die europäische Idee sollten wir als Gelegenheit nutzen, das transatlantische Verhältnis wiederzubeleben und gleichzeitig neu zu definieren. Wir müssen jetzt unsere Hausaufgaben erledigen, um noch während Trumps Amtszeit – und vor allem danach – von dieser Arbeit profitieren zu können.

Die USA und Deutschland zeichnet ein gemeinsamer Erfahrungshorizont aus, der schicksalhaft mit dem Zweiten Weltkrieg seinen Anfang genommen hatte. Ein Grund für eine schleichende Entfremdung hat nichts mit der jetzigen US-Administration zu tun, es ist der Generationenwechsel in der Politik. Hans Ulrich Klose etwa hatte den Grundstein seiner tiefen Verbundenheit mit den USA bei einem Schüleraustausch in den fünfziger Jahren gelegt, nur wenige Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Oder Franz Müntefering: Der fast 78-Jährige leitet seine Sehnsucht nach dem Westen bis heute aus den Tagen ab, in denen ihm amerikanische Soldaten nach dem Krieg Schokoladenrationen zusteckten. Wer diese Prägungen als Anekdoten abtut, verkennt die Macht guter Geschichten. Je mehr die Augenzeugen von damals in den Hintergrund treten, die von der Befreiung berichten können, desto schwieriger fällt es einer jüngeren Generation, diese Lücke emotional zu schließen.

Was wir deshalb brauchen sind neue Geschichten, die das transatlantische Verhältnis beleben. Sie handeln nicht mehr von militärischer Befreiung, sondern davon, was liberale Demokratien wie die USA und Deutschland im Kern so erfolgreich macht: gemeinsame Werte. Um dieser Gemeinschaft anzugehören müssen unsere Länder nicht einmal ihre Interessen teilen – was sie auch tatsächlich nicht immer tun. 

Es genügt zunächst, offene und faire Wahlen zu ermöglichen. All jenen, die an der Kraft der Demokratie unter Trump zweifeln, seien die letzten Gouverneurswahlen in New Jersey und Virginia sowie die Senatsnachwahl in Alabama in Erinnerung gerufen. Die Ergebnisse illustrieren, dass die liberale Tradition lebt – und wir gut daran tun, unseren typisch deutschen Pessimismus abzulegen. Es wird eine Zeit nach Trump geben – und darauf sollten wir vorbereitet sein.

Was müssen wir also tun, um das transatlantische Verhältnis zu beleben und neu zu definieren? In Trumps Jahren ist es unsere Aufgabe, all jene Menschen zu erreichen, die unterhalb der Regierungsebene ihren Einfluss geltend machen können. Dazu gehören gewählte Abgeordnete im Kongress, Wissenschaftler, Lokalpolitiker und alle Menschen, für die Multilateralismus eine Selbstverständlichkeit ist. Kalifornien macht es im Klimaschutz vor, wie eine vernünftige Umweltpolitik auch ohne das Pariser Klimaschutzabkommen gelingen kann.

Themen gibt es zur Genüge, an denen wir unsere gemeinsamen Werte schärfen können: Was bedeutet die Digitalisierung für die Wirtschaft, wie wird sie die Arbeitswelt in unseren Ländern verändern und welche Antworten müssen wir dafür bereithalten? Unsere Reaktion auf die vierte industrielle Revolution muss sich in der liberalen Tradition stark von den Lösungen unterscheiden, die autoritäre Regime wie Russland oder China finden – nur wie genau kann das auf einem globalen Markt funktionieren? Wie gelingt uns eine gerechte Steuer- und Handelspolitik? Was bedeutet die Regulierung des Internet?

Auf meinen Reisen durch die USA, die mich oft in die Provinz führen, erlebe ich eine amerikanische Gesellschaft in der Tradition von Woodrow Wilson: Die Menschen wünschen sich nicht nur ein besseres Amerika, sondern eine bessere Welt. Die Wertegemeinschaft des Westens war im Kern immer von einem Menschenbild geprägt, das Freiheit und Würde in sich trägt.

Wer durch die industriellen Brachen im Ohio-Valley und dem vom Strukturwandel der letzten Jahrzehnte hart getroffenen Ruhrgebiet fährt erkennt auf den ersten Blick, dass es eine gemeinsame Aufgabe liberaler westlicher Demokratien ist, die Perspektivlosigkeit der Rationalisierungsverlierer politisch zu bekämpfen. Hier berühren sich Außen- und Innenpolitik: Ohne die Perspektivlosigkeit des ehemaligen Kohle-Kumpel in West-Virginia wäre ein Wahlerfolg Donald Trumps nicht denkbar – und auch keine Wende in der westlichen Bündnispolitik.

Politiker meiner Generation müssen die kommenden Jahre dazu nutzen, verlässliche Kontakte zu knüpfen und die Themen unserer Zeit auch außerhalb der Politik zu adressieren. Trumps Präsidentschaft ist in ihrer Ichbezogenheit auch ein lebendiges Mahnmal, die gemeinsamen Werte dies- und jenseits des Atlantiks immer wieder zu erkunden, zu pflegen und weiterzuentwickeln. Je mehr wir übereinander wissen, desto weniger ist der Commander in Chief in der Lage, seiner Interpretation Gehör zu verschaffen. Das transatlantische Verhältnis gehört nicht dem Präsidenten in Washington, sondern den Menschen, die es mit Leben füllen.