Warum, so fragen sich viele politische Beobachter (und sozialdemokratische Strategen) verwirrt, haben rechte Parteien ausgerechnet bei Arbeitern so einen großen Erfolg, obwohl diese damit gegen ihre eigenen Interessen stimmen? Der Soziologe Didier Eribon, 1953 in eine kommunistische Familie hineingeboren, ist dieser Frage erstmals 2009 nachgegangen. Damals erschien sein Buch „Retour à Reims“ (Rückkehr nach Reims), in dem er beschreibt, wie er nach Jahren nach dem Tod des Vaters erstmals wieder auf Mutter und Brüder trifft und feststellen muss, dass sie inzwischen zu Wählern des rechtsextremen Front National geworden sind.

Inzwischen ist diese Abkehr der Arbeiterschaft von der Linken auch in anderen Ländern manifest, etwa in Großbritannien. Ein wichtiger Grund dafür, so erklärt Eribon nun in einem langen Interview mit „ZEIT online“, liege in der weitgehenden Deindustrialisierung ganzer Regionen, die „das Leben dieser Leute vollkommen zerstört hat. Diese Leute haben nicht nur Geld verloren, sondern auch ihre Hoffnungen, ihr soziales Umfeld, ihr ganzes Leben.“ Und die Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen: Wer keine Arbeit habe, könne nicht streiken, und Demonstrationen hätten keinerlei Effekt. „Die Leute, die in diesen Tagen auf die Straße gehen, haben die aktuelle Regierung gewählt, bekommen aber nun zu hören, dass ihre Meinung keine Rolle spielt. Was bleibt ihnen also anderes übrig, als nächstes Mal in Frankreich FN zu wählen, in Österreich FPÖ, in Großbritannien Brexit und in Deutschland AfD?“

Hinzu komme, dass sich auch die neuen Bewegungen wie Nuit Debout in Frankreich und Podemos in Spanien zumindest rhetorisch der Rechten angenähert und deren Begriffe auch in der Linken populär gemacht haben. Jetzt bringen sie die „Nation“ gegen die „Oligarchie“, die „Heimat“ gegen die „Finanzelite“ und das „Volk“ gegen „die da oben“ in Stellung: „Sie wollen verloren geglaubte solidarische Räume wieder herstellen: das Dorf, die Gemeinde, das Café. Ich mag Dörfer und Cafés wie jeder andere auch, aber doch nicht als politisches oder intellektuelles Programm.“ Ohnehin haben sich Eribon zufolge nicht nur die Regierungen von den Arbeitern entfremdet, sondern auch die neuen Bewegungen selbst. Die jungen Studierenden und Postdocs von Nuit Debout, die sich in Paris allabendlich versammelten, glaubten, sie seien das Volk und gehörten zusammen mit den Arbeitern zu den unterdrückten „99 Prozent“. Das sei eine Illusion: „Später sind sie in die Kleinstädte und Vororte gegangen, um dort Reden zu halten, aber sie wurden ignoriert und ausgebuht.“

Wie Lynsey Hanley im „Guardian“ anmerkt, klaffen Selbstwahrnehmung und objektiv messbarer sozialer Status auch in Großbritannien vielfach weit auseinander – bei einer Umfrage bezeichneten sich zuletzt rund 60 Prozent der Briten als „Arbeiter“, egal wie hoch ihr Einkommen ist und welcher Tätigkeit sie nachgehen. Ihre Zugehörigkeit zur Arbeiterklasse machen sie an sozial-konservativen Einstellungen in Fragen der Einwanderung, Moral, Sexualität und den Strafen für Kapitalverbrechen fest. „Jemand, der also objektiv gut verdient, ein schönes Haus, ein großes Vermögen und einen hohen sozialen Status hat, kann sozial-konservative Einstellungen vertreten, weil er glaubt, ‚der einfache Mann‘ sehe das genauso.“

Im Eifer der national verstandenen Globalisierungskritik lasse man traditionelle linke Werte wie den Internationalismus hinter sich.

Didier Eribon beobachtet mit Sorge, dass sich diese sozial-konservativen Haltungen auch in den neuen linken Bewegungen verbreiten und die Denkfigur des „Nebenwiderspruchs“ zurückkehrt: „Die LGBT-Bewegung wird als Erfindung des Neoliberalismus abgetan, von der Frauenbewegung heißt es, sie lenke vom eigentlichen Kampf ab – dem Klassenkampf.“ Im Eifer der national verstandenen Globalisierungskritik lasse man traditionelle linke Werte wie den Internationalismus hinter sich: Wer die Nation als wichtigste Bastion gegen die „Oligarchie“ der internationalen Konzerne in Stellung bringe, dem fehle es schnell auch an Mitgefühl für Menschen, die eben nicht zu dieser Nation gehören – wie etwa den Flüchtenden, die auf dem Weg nach Europa im Mittelmeer ertrinken.

Auf einen Problembereich, den die „Postdocs“ von Nuit Debout ausblenden, weil er sie nicht betrifft, macht David H. Freeman in „The Atlantic“ aufmerksam: die rasante Automatisierung, die immer mehr Arbeitsplätze vernichte. „Viele Jobs, für die man heute einen College-Abschluss braucht – vom Abteilungsleiter im Kaufhaus bis zum Verwaltungsassistenten – sind eigentlich gar nicht komplizierter geworden, die weniger gut Ausgebildeten wären dazu immer noch befähigt. Gleichzeitig verschwinden immer mehr Jobs, für die man keinen College-Abschluss braucht. Die Liste der Fabrik- oder Dienstleistungsjobs, die jetzt oder demnächst von Robotern, Online-Services und Apps übernommen werden, wächst täglich.“ Allein im Paketgeschäft und in der Restaurantbranche seien auf diese Weise 15 Millionen Jobs gefährdet.

Freeman interpretiert diese Entwicklung als Zangenangriff der Gutausgebildeten auf die Geringqualifizierten, als bewusst geführten „Krieg gegen die Dummen“. Bildungsgegenoffensiven – um im Bild zu bleiben – hält er vor diesem Hintergrund für Symptombekämpfung, zumal die frühkindliche Bildung als effektivste Maßnahme seit Jahrzehnten systematisch vernachlässigt werde. Notwendig sei ein viel grundlegender Wandel: „Wir müssen aufhören, die Intelligenz zu glorifizieren und unsere Gesellschaft als einen Spielplatz für die clevere Minderheit zu betrachten. Wir sollten stattdessen unsere Wirtschaft, unsere Schule und sogar unsere Kultur mit einem Blick für die Möglichkeiten und die Bedürfnisse der Mehrheit gestalten und für das volle Spektrum der menschlichen Leistungsfähigkeit.“ Ob sein Vorschlag praktikabel ist, Prämien an Unternehmen zu zahlen, die ihre Produktion nicht fortwährend automatisieren, um Arbeitsplätze für „the less brainy“ zu erhalten, sei dahin gestellt – er ist jedenfalls allemal bedenkenswerter als die Idee eines Autors der Tageszeitung „Die Welt“, der kürzlich vorschlug, Reiche zu ermutigen, „Dumme als Domestiken einzustellen – auch wenn ihre Aufgaben natürlich genauso gut von Haushaltsrobotern erledigt werden könnten“.