Warum erscheint 2019 in Deutschland ein Band, der kürzere Arbeiten des Altmeisters der amerikanischen Independent-Comix-Szene versammelt, die im Original bereits zwischen 1969 und 1991 erschienen sind? Vermutlich liegt das an der bedrohlichen Omnipräsenz eines Donald Trump. Der Band enthält unter anderem eine bitterböse Trump-Geschichte aus den 1980er Jahren, als dieser zum ersten Mal öffentlich mit dem Gedanken spielte, für die Präsidentschaft zu kandidieren. Hier erfährt Trump die ausgleichende Gerechtigkeit, die im Englischen so schön „poetic justice“ – dichterische Gerechtigkeit – heißt, während er der juristischen Gerechtigkeit wohl wieder einmal entkommt, weil Sonderermittler Robert Mueller sich nicht zu einer klaren Aussage durchringen konnte. Doch dazu später mehr.

Auch jenseits der Trump-Geschichte enthalten die kurzen Arbeiten eine ganze Reihe von unangenehmen und bedenkenswerten Einsichten, präsentiert von einem prinzipiell fortschrittsfeindlichen, hochgradig neurotischen Misanthropen. Einem, der die meisten seiner Mitmenschen für blödsinnig hält, dem man aber all dies und auch seine offen zur Schau gestellten sexuellen Obsessionen und Fantasien verzeihen kann, weil er sich selbst nicht von seinem bissigen Blick ausnimmt, ganz im Gegenteil, und weil er sich immer wieder als hellsichtiger Menschenkenner und Zeitdiagnostiker erweist. Ästhetisch hat Robert Crumb die Kunst des Underground-Comix nur wenig entwickelt, seine von Schraffuren geprägten Zeichnungen und seine meist eher konventionellen Layouts sind aber auf eine strenge Weise durchaus elegant. Sein eigentlicher Beitrag ist überwiegend inhaltlicher Natur; er entwickelte den in den 1970er Jahren neuen autobiographischen Ansatz mit und setzte neue Themen und Herangehensweisen. Dazu passt der auch zeichnerisch unerbittliche Blick auf sich selbst, seine Mitmenschen und die Welt.

In den im Band versammelten kurzen Geschichten und Skizzen hadert Crumb mit Modernisierung, technischen Fortschritt, mit linker Pseudointellektualität und linkem Sektierertum genauso wie mit Polizeigewalt und autoritärem und militaristischem Gehabe auf konservativ-reaktionärer Seite. Er knöpft sich die Gewissen- und Geistlosigkeit der Eliten vor, die Geldgier der Kapitalisten, den amerikanischen Konsumismus, die daraus folgende Vermüllung der Welt, aber auch das Recyceln. Eskapismus ist ihm ein Graus. Hollywood und die blinde Vergötterung von Stars prangert er genauso an wie Esoterik und die Anbetung von Gurus, die mörderische Konsequenzen haben kann.

Am Ende werden ohnehin einfach alle gesellschaftlichen Gruppen beleidigt; niemand wird verschont.

Immer wieder geht es auch um die angespannten Beziehungen zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen. Hier geht Crumbs drastischer Sarkasmus an die Grenze und vielleicht auch über sie hinaus, denn er spielt auch mit vorgeblicher Frauen- und Judenfeindlichkeit sowie mit Rassismus. Zwei Beiträge reihen gnadenlos alle Klischees, Beleidigungen und Schimpfwörter auf, die für Afro-Amerikaner und jüdische Amerikaner gängig sind – in der drastischen Übertreibung wird der Kern der Botschaft aber deutlich (sonst wäre es nicht zu ertragen). Am Ende werden ohnehin einfach alle gesellschaftlichen Gruppen beleidigt; niemand wird verschont. Zwischendurch wird auch reichlich geblödelt; dabei wird klar, dass nicht alle Beiträge gleich gut gealtert sind. Doch machen u.a. die vielen populärkulturellen Referenzen (Popeye, Doonesbury, Buck Rogers etc.) immer wieder großen Spaß. Einmal zeigt Crumb ohne Worte eine Gruppe von Rechtsextremisten, die es nicht schaffen, ein Hakenkreuz an die Wand zu sprayen, und sich deswegen gegenseitig verspotten und massakrieren – der Letzte gibt sich selbst mit dem Baseballschläger den Rest. Wirkliche Lösungen, das gibt er unumwunden zu, hat Crumb für die Probleme der USA nicht anzubieten. Zitat: „Als erstes würde ich die Straßenbahnen wieder einführen“ – tatsächlich bauen manche Städte heute sogenannte „light rail“-Netze auf, um von der suburbanen Zersiedelung wegzukommen.

Crumbs Instinkte nötigen also bis heute Respekt ab; vieles ist so gekommen wie er es in seinen Geschichten skizziert und veralbert hat, manches sogar schlimmer. Die alternativen Comix seit den 1960er Jahren haben den Mainstream nicht nur der Superhelden-Comics, sondern der amerikanischen Kultur und Gesellschaft insgesamt, subversiv herausgefordert, ästhetisch wie inhaltlich. Doch es ist gerade das Geheimnis der amerikanischen politischen Kultur, aus der die USA auch außenpolitisch ihre „soft power“ ziehen, dass die subversive Kritik der Counterculture sie nicht schwächt, sondern im Gegenteil signifikant stärkt. Tatsächlich sind Kernbestandteile des  amerikanischen Credos auch unter den alternativen Künstlern verbreitet; oft fordern sie mit ihrer Subversion vor allem ein, dass die wahren amerikanischen Ideale verwirklicht werden. Die Verheißung der Freiheit meint eben nicht nur die Freiheit, sein Glück zu suchen und reich zu werden, sondern auch Meinungs-, Kunst- und Versammlungsfreiheit.

Diese subversive Kraft, welche zentrale Werte der Gesellschaft stärkt, ist ungeheuer wichtig in einer Gegenwart, in der der politische Diskurs immer stärker von der Dehumanisierung des politischen Gegners geprägt ist – auch und gerade in der Populärkultur; in der politische Akteure immer kompromissloser werden; und in der Russland, der geopolitische Herausforderer, welcher über keinerlei kulturell begründete „soft power“ verfügt, sich auf Betrug, Propaganda und Desinformation verlegt. Per Social Media werden die niederen Instinkte der amerikanischen (und zunehmend auch der europäischen) Gesellschaft befördert, oft genug mit rechtspopulistischer Hilfe, in den USA nicht zuletzt von Präsident Trump.

Der Leser braucht halt „Gerechtigkeit! Vergeltung! Blut!!“

Wird die amerikanische politische Kultur diesen Ansturm überstehen? Einfach wird es nicht. Im Band findet sich, wie erwähnt, auch eine Geschichte über Trump, die aus dem Jahr 1989 stammt. Wie Garry Trudeau in seinem Comic-Strip „Doonesbury“ gibt Crumb den Immobilien-Tycoon Donald Trump der Lächerlichkeit preis, er entlarvt ihn als pompösen Angeber. Doch im Unterschied zu Trudeau erkennt Crumb die Magie an, die von dem selbstbewussten, wohlhabenden Windbeutel ausgehen kann. Trump gelingt es, die zwei jungen Frauen, welche ihn zu Crumb gelockt haben, mit seinem öligen Charme und der Verlockung von teuren Partys und Geschenken auf seine Seite zu ziehen. Crumb steht als gedemütigter Verlierer da, während Trump mit den beiden Frauen im Arm abzieht. Aber nicht so schnell, der Comic-Zeichner hat noch ein Ass im Ärmel. Er schreibt einfach ein alternatives Ende, das wenig glimpflich für Trump ausgeht. So bekommt „Amerikas heißester junger Milliardär“ dann eine verdiente Abkühlung – in einer Toilettenschüssel. Der Leser braucht halt „Gerechtigkeit! Vergeltung! Blut!!“

Die Schattenseite auch dieser Subversion ist – ganz genau wie bei den vielen anderen, überwiegend kritischen Auseinandersetzungen mit Trumps Charakter – dass sie Trump wohl mehr genützt als geschadet haben. Er wurde auch durch die teils vernichtende Kritik zu einem Star, den jeder kennt. Die kostenlose Publicity half ihm sogar ins Weiße Haus. Die sogenannten sozialen Medien haben daran einen großen Anteil, weil Pseudo-Ereignisse, die dort „viral“ werden und über die dann auch in den traditionellen Medien berichtet wird, eine Berichterstattungskette erzeugen, die auch jenseits irgendeines Nachrichtenwerts des ursprünglichen Ereignisses politische Konsequenzen hat. Sie sorgt für Bekanntheit und Präsenz fragwürdiger Akteure. Comics und Comix wie die von Robert Crumb erreichen viel weniger Menschen als die sozialen Netzwerke, aber auch sie tragen zum Diskurs bei.

Und um gegen den Verfall der amerikanischen politischen Kultur zu steuern, bedarf es heute gewissermaßen eines zivilisatorischen Schubs im politischen Diskurs.