1940, im von den Japanern besetzten Schanghai, war Olga Georges-Picot auf die Welt gekommen. Es heißt, sie war wunderschön, aber real etwas zu melancholisch für das Filmbusiness. Sie studierte beim berühmten Lee Strasberg in New York. Aber nur einmal stand sie mit einem Star wie Woody Allen vor der Kamera, in einem Film, den fast niemand mehr kennt: 1981 gab es Sex auf den Seychellen als Florence in „Goodbye Emmanuelle“ (Musik: Serge Gainsbourg). Olga Georges-Picot war einmal kurz verheiratet.

Was gibt es sonst noch Wissenswertes zu berichten? Vielleicht wäre da noch die Verwandtschaft zu Großonkel François, einem Diplomaten im Dienst der Dritten Republik. Der hatte 1916 gemeinsam mit einem Briten namens Mark Sykes einen Plan zur Aufteilung des Nahen Ostens zwischen den Entente-Mächten gezeichnet, den man schon wenig später wieder verwarf.

Fragt sich also, warum man sich den Namen von Onkel François heute eher merken muss als den der schönen Olga. Das Sykes-Picot-Abkommen, das sich am 16. Mai 2016 zum 100. Mal jährte, gilt heute vor dem Hintergrund scheiternder Staat im Nahen Osten mehr denn je als historischer Scheidepunkt. Als Ursünde gewissermaßen, auf die sich sämtliches Ungemach, das über die Region hereingebrochen ist, zurückführen lässt.

 

Was auch immer die Europäer sagen – in ihren Hinterzimmern haben sie längst andere Pläne ausbaldowert.

Vor allem aber dramaturgisch passt es so vortrefflich in die Geschichte von den Westmächten, die die Araber fortwährend verrieten und betrogen. Die Namen Sykes und Picot stehen in der Meinung vieler für eine verlässliche Konstante: Was auch immer die Europäer sagen – in ihren Hinterzimmern haben sie längst andere Pläne ausbaldowert. Es inspiriert Verschwörungstheorien und führt dazu, dass man heute europäischen „Außenpolitikern“, wie der Unterhäusler Sykes einer war, oder hochnäsigen Diplomaten vom Schlage eines Picot, wie es sie auch heute noch in Frankreich gibt, mehr Macht zuschreibt als sie in modernen Politikbetrieben tatsächlich haben.

Die Tendenz, die Zeitgeschichte des Nahen Ostens in ein Vor-und-Nach-Sykes-Picot zu teilen, ist übrigens nicht nur in der arabischen Welt verbreitet, sondern auch in Europa oder den USA. Von „künstlichen“ Grenzen ist die Rede, welche die „natürliche“ und kulturelle Geografie des Nahen Ostens außer Acht ließen – und damit die Saat der Zwietracht säten.

Dieser Vorwurf ist oft zu hören, wenn es um die Trennung Palästinas vom historischen „Großsyrien“ geht, aber auch im – aktuellen Kontext – von Syrien und Irak. Die Grenze, die das Zweistromland trennte und die der selbst ernannte „Islamische Staat“ kürzlich aufhob, um damit Sykes-Picot für „beendet“ zu erklären, taucht im Sykes-Picot-Abkommen allerdings nicht auf, ebenso wenig die Grenze zwischen Libanon und der heutigen Syrisch-Arabischen Republik.

 

Die Grenzen des Nahen Ostens „wie wir ihn kennen“ sind nicht allein das Resultat von Sykes-Picot.

Die Grenzen des Nahen Ostens „wie wir ihn kennen“ sind eben nicht allein das Resultat von Sykes-Picot. Man könnte sogar lang darüber diskutieren, wie nachhaltig Letzteres die politische Geografie der Region überhaupt prägte. Weil das Osmanische Reich nach dem Ersten Weltkrieg unterging, haben viele vergessen, wie sehr osmanische Verwaltung und Bevölkerungspolitik den Nahen Osten gestaltete. Die Wilayate und Sandschaks, wie die Provinzen und Distrikte der Osmanen hießen, gibt es zwar heute nicht mehr, aber auch sie haben regionale und historische Identitäten geprägt. Viel schwerwiegender ist allemal das Erbe des Konfessionalismus, den die europäischen Kolonialmächte gewiss nicht erfunden haben, auch wenn sie ihn manchmal machtpolitisch für sich nutzten. Dieser Konfessionalismus verband sich einerseits mit der islamischen Herrschaftsideologie der Osmanen, diente aber auch verwaltungsökonomischen Interessen. Seine Spuren sind ohne Zweifel tiefer als die von Sykes-Picot.

Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reiches gab es noch eine Vielzahl von Abkommen und Entscheidungen über die Zukunft der Region: etwa die Vergabe der Völkerbundmandate an Frankreich und Großbritannien auf der Konferenz von San Remo 1920 oder die Pariser Vorortverträge, in denen unter anderem die Grenzen der Türkei bestimmt wurden oder die Gründung des Libanons.

Weitgehend vergessen sind die Errichtung von Drusen- und Alawiten-Staaten auf dem Territorium des heutigen Syriens unter französischem Mandat oder aber die Abspaltung des mehrheitlich von „Syrern“ bewohnten Sandschaks Alexandrette (Iskenderun) im Jahr 1936. Aus Sorge um die Freundschaft Ankaras schanzten die Entente-Mächte das Gebiet der Türkei zu. Auch wenn es sich für die Propaganda des syrischen Regimes oder islamistischer Bewegungen nicht so gut eignet: Die „Sanschak-Frage“ bedeutet vielen Syrern genauso viel – oder wenig – wie der Verlust der Golan-Höhen an Israel.

Was der Wille der Bevölkerung, was „nationale Selbstbestimmung“ ist, ließ sich im frühen 20. Jahrhundert wohl noch weniger klar bestimmen als in heutiger Zeit.

Es dient keineswegs der Ehrenrettung, sondern der historischen Verortung jenes Sykes-Picot-Abkommens, wenn man sich schließlich fragt, was geschehen wäre, wenn die Entente-Mächte die Araber nicht „verraten“ hätten. Bekannt ist ja, dass Großbritannien, unter anderem mithilfe des Offiziers T.E. Lawrence „von Arabien“, den Scherifen von Mekka – selbst ein osmanischer Funktionsträger – bei einem Aufstand gegen die Osmanen unterstützte.

Manche britische Beamte sahen diesen Aufstand sogar als kriegsentscheidend für das Empire an, weshalb man dem Clan dieses Scherifen ein arabisches Königreich im großsyrischen „Bilad al-Sham“ in Aussicht stellte. Perfides Albion, das davon später nichts mehr wissen wollte! Nun gab es im Gefolge des Scherifen zwar aufrechte arabische Nationalisten und einige fähige Männer, denen die Nationenwerdung der Araber tatsächlich am Herzen lag. Aber war der Anspruch des Scherifen-Clans auf Syrien wirklich so viel legitimer als jener der Osmanen oder der europäischen Kolonialmächte, etwa, weil es sich um einen Araber und Muslim handelte? Arabische Muslime mochten zwar lange Zeit über das Land geherrscht haben, aber die Levante hat eben noch andere kulturelle und historische Identitäten.

Was der Wille der Bevölkerung, was „nationale Selbstbestimmung“ ist, ließ sich im frühen 20. Jahrhundert wohl noch weniger klar bestimmen als in heutiger Zeit. Und man muss kein Apologet des Kolonialismus oder Revisionist sein, um festzustellen, dass die Begriffe von Souveränität und Selbstbestimmung – insbesondere in der Nahost-Region – heute so schal und abgestanden sind, weil sie vor allem despotischen Regimen als Legitimationsmaschinen dienen.

Die Idee eines souveränen Staates hat nur dann einen Wert, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird und nicht bloß in Widerstandsrhetorik schwelgt.

Was heute Staaten im Nahen Osten sind (und was keine), wird sich in Zukunft nicht daran entscheiden, welche Grenzen auf den Landkarten gezogen werden, sondern daran, was Regierende bereit sind, für ihre „Staatsbürger“ zu tun. Die Idee eines souveränen Staates hat nur dann einen Wert, wenn sie mit Inhalten gefüllt wird und nicht bloß in Widerstandsrhetorik schwelgt. Und wenn ein Staat sich das Recht herausnehmen will, einer zu sein, soll er zeigen, dass er dessen würdig ist.

Sykes hin und Picot her: Die Interessen der europäischen Mächte im Nahen Ostens sind – vom Partikularinteresse der Allianz mit Israel einmal abgesehen – viel zu groß, zu unspezifisch und zugleich zu widersprüchlich um Politik im Stil von damals zu betreiben. Es geht nicht mehr um Ölquellen, Tabakmonopole, Banknoten-Emissionsrechte oder das Privileg, die Heiligen Stätten der Christenheit zu protegieren. Es geht um Sicherheit, „Stabilität“ und Flüchtlinge.

Allerdings bleibt der Nahe Osten nicht nur Nachbar, sondern natürliche Einflusszone für die Europäer, was im Übrigen auch umgekehrt der Fall ist. Der Nahe Osten liegt heute nicht mehr an der Arterie eines weltumspannenden Imperiums, sondern er ist ein stetig wachsendes Problemkind der Globalisierung.

Die Europäer sollten also keinen Sykes-Picot-Komplex ausleben und sich selbst einreden: Wir haben uns einmal an der Region versündigt, also halten wir uns fortan heraus. Es wäre wünschenswert, dass sie nicht in den Hinterzimmern von Whitehall, sondern ganz öffentlich Pläne schmieden. Sie sollten Szenarien zu Ende denken und erklären, wie sie sich die Zukunft des Nahen Ostens vorstellen und welchen Preis sie bereit sind, für die Verwirklichung der Pläne zu zahlen. Sie sollten zudem deutlich machen, nach welchen Kriterien sie künftig ihre Verbündeten auswählen wollen und welche „Grenzen“ sie bereit sind zu ziehen.

Bleibt zu erwähnen, dass die schöne Olga Georges-Picot, die sich vor ungefähr 20 Jahren das Leben nahm, noch in einem anderen Film mitspielte. Der hieß „Children of Rage“ (Regie: Arthur Allan Seidelmann), hatte 1975 Premiere, spielte unter anderem in einem palästinensischen Flüchtlingslager und drehte sich um Gewalterfahrungen im Nahost-Konflikt. Kritiker fanden den Film langweilig. An der Kinokasse floppte er gehörig.