Für den Oxford-Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier liegen die Dinge klar. Angela Merkel ist verantwortlich für die Flüchtlingskrise. „Wer sonst?“. Er weiß auch ganz genau, warum Deutschland so gehandelt hat: „Deutschland gefällt sich offensichtlich in der Retterrolle“. Es wäre leicht, dies als die Thesen eines argumentativ aus der Bahn geratenen Professors abzutun. Doch Collier ist Teil einer wachsenden Zahl an Beobachtern, welche die deutsche Flüchtlingspolitik als Moralspektakel deuten. In einem seiner letzten Interviews sagte Lord Weidenfeld, die Deutschen begeisterten sich für die Aufnahme von Flüchtlingen, „als könnte man damit die Schuld der Großeltern wieder tilgen. Hitler ausmerzen, indem die Deutschen endlich die Guten sind“. Der ungarische Premier Orbán warf der deutschen Regierung „moralischen Imperialismus“ vor.
Diese Lesart geht am Kern der deutschen Flüchtlingspolitik vorbei. Im Zentrum der Politik der Merkel-Regierung steht die Sorge um Europa. Lange hatte Deutschland die Sorgen Italiens und Griechenlands als Schengen-Außenstaaten ignoriert und sogar gegen eine gemeinsame EU-Asylpolitik interveniert. Doch früher als viele andere EU-Regierungschefs erkannte Merkel im letzten Jahr, dass die Flüchtlingsfrage Europa vor größere Herausforderungen stellt als die Eurokrise. Sie sah, wie unvorbereitet Europa war für den Zustrom von Flüchtlingen. Europa hatte zu wenig getan, um die Lebensbedingungen der syrischen Flüchtlinge in der Türkei, Libanon und Jordanien zu verbessern. Die Außengrenzen des Schengen-Raums waren weitgehend ungesichert, insbesondere in Griechenland. Das Dublin-System zur Aufnahme von Flüchtlingen stand vor dem Kollaps. Es fehlte europaweite Solidarität für die Verteilung von Flüchtlingen. Populistische Politiker wie Viktor Orbán verbreiteten anti-muslimische Parolen. Als sich die Lage im Spätsommer 2015 zuspitzte, hatte die deutsche Regierung die Gefahren für Europa im Blick: eine humanitäre Katastrophe mitten in Europa, wachsende Spannungen auf dem Balkan sowie ein drohendes Ende der Reisefreiheit innerhalb des Schengen-Raums. Merkel kam mit ihrem SPD-Regierungspartner zur Überzeugung, dass nur Deutschland willens und in der Lage war, Nothilfe zu leisten, indem es in großer Zahl Flüchtlinge aufnahm. Drei Faktoren ermöglichten die Entscheidung der Regierung Anfang September 2015, die von Ungarn nicht gewollten Flüchtlinge aufzunehmen. Erstens eine robuste wirtschaftliche Lage, welche Nährboden für das Narrativ bereitstellte, dass Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt absorbiert werden könnten. Zweitens ein flüchtlingsfreundliches Medienumfeld (inklusive der Springer-Medien wie BILD). Drittens das Fehlen einer effektiv organisierten rechtspopulistischen Partei.
Wiedergutmachung und das Streben nach moralischer Überlegenheit waren keine Faktoren für Merkels Politik.
Wiedergutmachung und das Streben nach moralischer Überlegenheit waren keine Faktoren für Merkels Politik. Deutschland öffnete die Türen für die in Ungarn ungewollten Flüchtlinge, weil es seine Rolle als einzig handlungsfähiger liberaler Hegemon in Europa akzeptierte. Nur Deutschland war willens und in der Lage, als temporärer „Schutzgeber der letzten Instanz“ für die Flüchtlinge zu agieren. Dies war eine unilaterale Maßnahme, um ein humanitäres Desaster abzuwenden und Europa Zeit zu kaufen, um sich zu einer multilateralen Antwort auf die Flüchtlingskrise zusammenzuraufen.
Es war klar, dass damit innenpolitische Kosten für die Regierung verbunden sein würden. Nur wenige hatten Illusionen, dass die deutsche Bevölkerung in der Breite in Reaktion auf den massenhaften Zuzug von Muslimen viel tugendhafter reagieren würde als die in europäischen Nachbarländern. Aber Merkel und Gabriel waren bereit, ihr politisches Kapital einzusetzen, damit Deutschland seiner Rolle als liberaler Hegemon gerecht werden konnte.
Die Regierung Merkel verfolgte einen unsentimentalen realpolitischen Ansatz, um die Flüchtlingskrise unter Kontrolle zu bekommen. Dazu gehören Grenzsicherung und Massenlager („Hot Spots“) und Verabredungen mit der türkischen Regierung sowie fragwürdigen Regimen von Algerien bis Eritrea (wo Entwicklungshilfeminister Müller im Dezember mit der Regierung über die Wiederaufnahme der entwicklungspolitischen Förderung verhandelte). Gleichzeitig versucht die deutsche Regierung, den Druck auf unwillige EU-Staaten zu erhöhen, einen Beitrag zur gerechteren Verteilung von Flüchtlingen in Europa zu leisten. Zuletzt drohte etwa Norbert Röttgen damit, nur diejenigen Staaten in einem neuen „Mini-Schengen“ zu berücksichtigen, die sich solidarisch in der Flüchtlingsfrage zeigen. Doch die Früchte der Bemühungen der Regierung sind bislang höchst bescheiden. Viele EU-Staaten können sich der Schadenfreude ob der wachsenden Probleme Deutschland mit der Flüchtlingsfrage nicht erwehren – eine Retourkutsche für den Mangel an Solidarität Deutschlands in anderen Fragen. Sie sehen die Flüchtlingsfrage als vornehmlich deutsches, nicht als europäisches Problem.
Viele EU-Staaten können sich der Schadenfreude ob der wachsenden Probleme Deutschland mit der Flüchtlingsfrage nicht erwehren – eine Retourkutsche für den Mangel an Solidarität Deutschlands in anderen Fragen.
Derweil steigen die politischen Kosten für die Regierung daheim. 80 Prozent der Deutschen glauben, die Regierung habe die Lage nicht im Griff. Die AfD erreicht in Umfragen bundesweit mit 12% den dritten Platz und wird aller Voraussicht nach am 13. März in drei Landtage einziehen.
Wie jeder liberale Hegemon fragt sich die deutsche Regierung, ob die Kosten weiterhin im Verhältnis zum Nutzen stehen. Vielleicht wäre es besser, die bayerische Grenze zu schließen und Flüchtlinge an der Grenze zurückzuweisen, wie es Deutschland im Rahmen der weiterhin gültigen Dublin-Regularien zustünde. Dafür gibt es historische Parallelen. Die USA garantierten nach dem Zweiten Weltkrieg jahrelang die Währungsstabilität durch eine feste Dollar-Goldbindung. Als die Kosten für die US-Regierung durch Spekulation in die Höhe schossen, entschloss sich Präsident Nixon im Sommer 1971 plötzlich zur Aufhebung des Systems fester Wechselkurse. Für den Rest der Welt war dies der „Nixon-Schock“. Es ist höchste Zeit für den Rest Europas, sich für einen „Merkel-Schock“ zu rüsten. Das Schließen der deutschen Grenzen und das Ende Schengens wäre für alle mit extrem hohen Kosten verbunden, nicht zuletzt für Deutschland. Es wäre gleichzeitig ein rüdes Erwachen gerade für diejenigen, welche die Flüchtlingskrise für ein deutsches, kein europäisches Problem halten und darauf vertrauen, dass die deutsche Regierung aus moralischer Selbstverliebtheit um jeden Preis bei der Politik der offenen Grenzen gegenüber Flüchtlingen bleibt.
14 Leserbriefe
Den "Merkel Schock" erleben wir gerade mit immensen Kosten für den politischen Konsens zwischen Regierung und Wahlvolk, der lange Dekaden die Stabilität in unserem Land sicherte und politische Polarisierungen ausschloss. Eine Kursänderung kann nur von der CDU selbst aufgezwungen werden. Die SPD ist dank ihrer Oppermanns und Stegners nicht in der Lage eine realpolitische Grenze aufzuzeigen- sie sollte sich ein Beispiel an Österreich und Schweden nehmen.
Hoffentlich fördert ein ev. "Merkel-Schock" endlich die Suche nach der "europäischen Lösung".
Vielmehr stehen wir in unserer Idiotie, unterschiedslos jeden willkommen zu heißen, vollkommen allein. Der von der Regierung gewählte Alleingang hat uns im Gegenteil komplett in der EU isoliert und ein sich populistisch zerteilenden Europa zu verantworten.
Eigentlich müsste doch langsam mal der Zeitpunkt dafür da sein, zur Besinnung zu kommen. Doch das geht bei vielen vollkommen fehl, wie die Mär von billigen Arbeitskräften und, dass die Grenzschließung mit extrem hohen Kosten (?) verbunden wäre, verrät.
Statt ihrem Amtseid zu folgen, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden, riskiert die Regierung lieber die Grundfeste unserer Gesellschaft.
Insofern ist die AFD wohl weniger das Problem, als die Lösung.
Und nein, das ist nicht sarkastisch gemeint.
Der Artikel ist weitgehend richtig. Grenzschließungen lösen kein Problem.
Die Südländer sind schon aus geographischen Gründen nicht in der Lage einen geordneten Zugang nach Europa zu gewährleisten und werden darüber hinaus ungenügend unterstützt. Deutschland hat seine Grenzbeamten eingespart. GR, IT und ES sollen es richten und gleichzeitg eine Schuldenbremse durchsetzen. Wirtschaftsstärkung ist etwas anderes!
Als Lösung werden Lager in der Türkei und anderswo vorgeschlagen. Was wird das anderes als neue Palästinenserlager? Brutstätten für neuen Terror!
Eine unbewältigte Kolonialpolitik mit den westlichen Interessen entsprungenen Staatengründungen und die Nutzung als billige Rohstofflieferanten zeigt ihre Folgen. Lehren?
Mancher scheint gerne bereit zu helfen, solange es nichts kostet und er nicht mit dem Problem behelligt wird. Moral tut man, wie in der Flüchtlingsfrage, gerne als eine Sache des persönlichen Geschmacks ab, den man in diesem Falle nicht teilt.
Um das Problem ein besser in seiner Dimension zu erfassen, sollte man sich vor Augen halten, dass 1 Million Flüchtlinge immerhin 0,2% der EU Bevölkerung entsprechen. Deutschland integrierte nach dem Krieg 12 Millionen Flüchtlinge innert kurzer Zeit.
Merkel weiss, dass wir dies schaffen können, wenn wir wollen. Viele wollen nicht. Moral?
3 Gruende, angebliche Gruende fuehrt er an:
- dass Flüchtlinge vom Arbeitsmarkt absorbiert werden könnten. Bei rund 10 Millionen im Land, die von Sozialleistungen leben muessen!
- zweitens ein flüchtlingsfreundliches Medienumfeld (inklusive der Springer-Medien wie BILD). Wie haben die frueher gehetzt, vergessen, Alles?
- drittens das Fehlen einer effektiv organisierten rechtspopulistischen Partei. Nun hat man sie sich gemeinsam geschaffen! Nachhaltig ...?
Statt, wenn ich erkenne Grenzen sind nicht gesichert, diese einfach zu sichern und meine Schulden bei den Hilfsorganisationen zu leisten, mit allen anderen Staaten, Ursachenbekaempfung zu betreiben, einschliesslich einer Entwicklungshilfe die den Namen verdient! Selten so VORBEI am Thema und den Problemen!
Liebe Leser, bitte informiert euch eingehend, bevor Ihr das Verhalten der ungarischen Regierung verherrlicht. Ich weiß, wovon ich rede, ich lebe hier.