Zum ersten Mal seit September 2015 steigt der Ölpreis dieser Tage wieder auf über 50 US-Dollar. Waldbrände in Kanada sowie interne Konflikte in Nigeria und Libyen haben jüngst das Angebot auf dem Weltmarkt reduziert. Gute Nachrichten also für die Organisation erdölexportierender Länder (OPEC) vor ihrem Treffen am 2. Juni 2016 in Wien? Mitnichten. Das historisch mächtige Ölkartell befindet sich in einem geopolitischen Dilemma. Seine Krise wird langfristig anhalten, auch wenn der leicht gestiegene Ölpreis ein Einfrieren der Produktionsniveaus begünstigen könnte.

Der Ölpreis auf dem Weltmarkt ist seit Mitte 2014 um bis zu 70 Prozent eingebrochen. Lange Zeit lag er bei 100 Dollar pro Barrel (159 Liter) und darüber. Seit Beginn des Einbruchs schwankt die Preisentwicklung zwischen 25 und 60 US-Dollar. Der Preissturz hing sowohl mit dem wirtschaftlichen Rückgang in China zusammen als auch mit der Rückkehr Irans, Iraks und Libyens an den Weltmarkt. In besonderem Maße hatte er allerdings mit einer massiven Ausweitung des Angebots durch die USA zu tun. „Hydraulic Fracturing“, kurz Fracking, heißt das Stichwort. Die umstrittene Technik von Tiefbohrungen und Aufbrechen von Gestein zur Freisetzung von Schieferöl und -gas hat im letzten Jahrzehnt einen Boom in den USA ausgelöst, die sich damit auf den Weg gemacht haben, der weltweit größte Ölproduzent zu werden. 

Die dadurch entstandene Ausweitung des Angebots auf dem Weltmarkt geht vor allem zu Lasten der 13 OPEC-Mitglieder (Algerien, Angola, Ecuador, Indonesien, Iran, Irak, Katar, Kuwait, Libyen, Nigeria, Saudi-Arabien, Venezuela und Vereinigte Arabische Emirate). Deren Anteil an der weltweiten Ölproduktion liegt nur noch bei einem Drittel, obwohl sie über gut 70 Prozent der Reserven verfügen. Der Preisfall hat zu einer Spaltung innerhalb des Ölkartells geführt. Auf der einen Seite stehen Staaten, die auf das altbewährte Rezept einer Produktionsbegrenzung unter Einbindung von externen Partnern drängen. Dazu gehört allen voran das wirtschaftlich schwer angeschlagene Venezuela, gefolgt von Algerien, Nigeria und Ecuador. Ihnen gegenüber stehen die Golfstaaten Saudi-Arabien, Kuwait und Katar, die eine Begrenzung der Produktion ablehnen. Das hat damit zu tun, dass sie im Vergleich zur ersten Gruppe über wesentlich höhere Devisenreserven verfügen und damit Phasen niedrigerer Preise leichter abfedern können. Im Kern liegt die Ursache jedoch im langfristigen Blick auf Anteile am Weltmarkt.

Der größte und einflussreichste OPEC-Produzent, Saudi-Arabien, will den Ölpreis so niedrig halten, dass größere Teile der US-amerikanischen Schieferölindustrie bankrottgehen.

Der größte und einflussreichste OPEC-Produzent, Saudi-Arabien, will den Ölpreis so niedrig halten, dass größere Teile der US-amerikanischen Schieferölindustrie, deren Rentabilität auf einem Ölpreis zwischen 60 und 100 Dollar beruht, bankrottgehen, wie beispielsweise das Unternehmen Samson Resources 2015. Gleichzeitig hat Saudi-Arabiens neuer Vize-Kronprinz Mohammed bin Salman einen Modernisierungsplan 2030 vorgelegt, der eine radikale Reduzierung der Ölabhängigkeit seines Landes vorsieht, einschließlich erstmaliger Veräußerungen von Anteilen des staatseigenen Ölkonzerns Saudi Aramco an der Börse für geschätzte Einnahmen in Höhe von zwei Billionen Dollar. Experten bezeichnen die saudische Strategie, den OPEC-Staaten verlorengegangene Marktanteile langfristig zurückzugewinnen, als „Long Game“.

Je länger die Auseinandersetzung zwischen Saudi-Arabien und der Schieferölindustrie in North Dakota, Oklahoma und Texas andauert, desto mehr unter Druck geraten jedoch wiederum die wirtschaftlichen Krisenländer der OPEC, die aufgrund geringer Devisenreserven auf einen hohen Ölpreis angewiesen sind. Venezuela, dessen Präsident im Januar den wirtschaftlichen Notstand ausgerufen hat, droht der Staatsbankrott, wenn die Ölpreise nicht wesentlich ansteigen. Das Land hat sich daher 2015 intensiv um die Einbindung des Nicht-OPEC-Staates Russland in die OPEC-Absprachen bemüht, um größeren Druck auf Saudi-Arabien auszuüben. Russland hat ebenfalls Interesse an einem hohen Preis für Öl (und Gas) und traditionell ein angespanntes Verhältnis zu Saudi-Arabien, das sich aus Russlands Nähe zum Iran und Saudi-Arabiens Nähe zu den USA speist. 

Im Februar 2016 kamen Saudi-Arabien, Russland, Venezuela und Katar überraschend zu einer Einigung: einer Einfrierung der nationalen Ölproduktion auf dem Stand vom Januar. Die Vereinbarung sieht das Einfrieren der Produktionsniveaus aber nur dann vor, wenn sich alle OPEC-Länder in gleicher Weise beteiligen. Der große Verlierer einer solchen Übereinkunft wäre der Iran. Nachdem es 2015 zu einer Einigung mit dem Westen für die Aufhebung der Sanktionen kam, drängt der Iran nun darauf, wieder größere Marktanteile für den Ölexport zu bekommen. Ein Produktionslimit auf derzeitigem Stand würde dem einen Strich durch die Rechnung machen, weshalb das Land in der Preispolitik die Seiten gewechselt hat.

Russland und noch mehr Venezuela sind im Gegensatz zum Iran und zu Saudi-Arabien aufgrund massiver Wirtschaftskrisen in ihren Ländern mehr denn je auf einen hohen Ölpreis angewiesen. Beide Staaten bemühten sich nach der Einigung vom Februar vergeblich, den Iran mit ins Boot zu holen. Die Achse Russland-Iran-Venezuela positionierte sich im letzten Jahrzehnt als politisches Gegengewicht zu den USA. Unter den Präsidenten Hugo Chávez und Mahmud Ahmadinedschad schmiedeten Venezuela und der Iran eine politische und wirtschaftliche Allianz anti-amerikanischer Prägung. Venezuela hat sich stets gegen die Verhängung von Sanktionen gegenüber dem Iran ausgesprochen und der Iran unterstützte die venezolanische Politik der Preismaximierung innerhalb der OPEC gegen Saudi-Arabien. 

Saudi-Arabien wird aber, wie beim Treffen in Doha im April, weiter auf seiner Forderung beharren, einem Einfrieren der Produktion nur unter Beteiligung des Irans zuzustimmen. Seine Strategie richtet sich nicht nur gegen die US-Schieferölindustrie, sondern auch gegen seinen politischen Erzrivalen in der Region. Es versucht, einen Keil zu treiben zwischen den Iran auf der einen Seite sowie Russland und Venezuela auf der anderen Seite. Neben der Auseinandersetzung um die Produktionsbegrenzung (Saudi-Arabien vs. Venezuela) ergibt sich eine zweite Konfliktlinie im Kampf um Marktanteile (Saudi-Arabien vs. Iran), was zu einem Preiskrieg zwischen beiden Ländern führen könnte – auf Kosten von Russland, Venezuela, Algerien, Nigeria und anderen.

In der OPEC sind drei Fronten entstanden, deren Interessen mittelfristig nicht miteinander vereinbar sind.

In der OPEC sind damit drei Fronten entstanden, deren Interessen mittelfristig nicht miteinander vereinbar sind. Das in der Vergangenheit erfolgreiche Instrument der Produktionsbegrenzung wird über den aktuellen Konflikt hinaus solange an seine Grenzen stoßen, wie es ein Überangebot am Markt gibt. Insofern wird sogar infrage gestellt, ob das Einfrieren derzeitiger Produktionsniveaus der OPEC plus Russland überhaupt einen nennenswerten Effekt auf den Ölpreis hätte. Denn zum ersten Mal in der Geschichte der Ölförderung gibt es derzeit echten Wettbewerb am Markt. Solange das so ist, hat das Ölkartell selbst in Kooperation mit Russland nur begrenzten Einfluss auf die Preisbildung.

Saudi-Arabien hat dies erkannt und stellt sich längerfristig darauf ein, nimmt aber keinerlei Rücksicht auf die wirtschaftlichen Krisensituationen anderer OPEC-Mitglieder. Ob es Saudi-Arabien gelingen kann, sich mit Verzicht auf Preisbegrenzung dauerhaft gegen die US-Schieferölindustrie durchzusetzen, ist derzeit offen. In der Zwischenzeit drohen allerdings den Staaten um Russland und Venezuela harte Konsequenzen aus dem „Long Game“, selbst bei einem Ölpreis von 50 US-Dollar. Ihre Regierungen haben den Zeitenwandel verschlafen und sehen sich nun dazu gezwungen, aus wirtschaftlicher Not weiter auf Produktionsdrosselung durch die OPEC zu setzen. Damit wollen sie über möglichst hohe Preise das Maximum aus der laufenden Ölproduktion herausholen.

Aus einer Perspektive nachhaltiger Entwicklung ist zu hoffen, dass die durch den Erfolg bei den Klimaverhandlungen in Paris im Dezember 2015 (COP-21) untermauerte globale Transformation des Energiesektors den Druck auf die OPEC-Staaten auf lange Sicht weiter erhöht, ihre auf dem fossilen Rohstoff Öl beruhenden Rentenökonomien zu diversifizieren, und dass die weltweite Abhängigkeit vom Preiskartell abnimmt. Ob diese notwendige Diversifizierung aber tatsächlich zu einer Veränderung der Energiematrix zugunsten erneuerbarer Energien im Sinne ökologischer Nachhaltigkeit führen wird, bleibt abzuwarten. Das einst mächtige Ölkartell der OPEC dürfte in jedem Fall aber den Höhepunkt seiner Macht, seinen Peak, überschritten haben.