Es stärkt Polen und Europa, wenn die Politik der neuen polnischen Regierung auch von der europäischen Öffentlichkeit genau beobachtet und bewertet wird, zumal Polen die Entwicklung der Europäischen Union, und damit auch das Leben aller EU-Europäer, maßgeblich mitbeeinflusst. Insofern wundert es mich nicht, wenn in Brüssel oder Europas Hauptstädten präzise Fragen über die Entwicklung an der Weichsel gestellt werden. Es ist ein Zeichen, dass Polen ernst genommen wird.

Wenig konstruktiv sind jedoch oberflächliche Urteile voller Stereotypen, wie jene Stimmen, die Putins Russland und Polen in einen Topf werfen und die EU-Osterweiterung von 2004 für einen politischen Fehler halten. Sie verleihen antieuropäischen Nationalisten nur Glaubwürdigkeit.

Polen ist nicht Putins Russland, ein Land, das Nachbarländer überfällt und die nach 1989 entstandene europäische Ordnung in Frage stellt.

Polen ist nicht Putins Russland, ein Land, das Nachbarländer überfällt und die nach 1989 entstandene europäische Ordnung in Frage stellt. Die polnische Zivilgesellschaft ist im Gegensatz zur heutigen russischen stark. Sie ist aus der breiten antikommunistischen Solidarność-Bewegung entstanden, die das Land seit 1980 von unten demokratisiert hat. Die liberale Demokratie hat Polen nicht importiert, sondern durch eigene gesellschaftliche Innovation über Jahrzehnte aufgebaut. Die Wirtschaftsstruktur des Landes stellt mit ihrer Vielfalt an kleinen und mittelständischen Betrieben ein wichtiges Rückgrat dieser Bürgergesellschaft dar. Polen hat keine oligarchischen Strukturen. Die Verwaltung ist effektiv, Korruption ist weitgehend verschwunden. Die Bilanz der Demokratisierung der vergangenen 25 Jahre ist positiv, diese Dynamik zurückzudrehen ist nicht einfach.

Dem demokratischen Diskurs in Europa schaden ebenso jene Stimmen, die heute behaupten, dass der EU-Beitritt Polens 2004 ein historischer Fehler gewesen sei. Wir sollten nicht vergessen, wie stark vor allem Deutsche und Polen in den letzten 25 Jahren voneinander profitiert haben: Ohne die Solidarność-Revolution wäre die Ordnung von Jalta in Europa nicht zusammengebrochen und die Einigung Deutschlands nicht möglich gewesen. Polen wiederum konnte sich aus der Moskauer Einflusssphäre dank des Bündnisses mit dem demokratischen Deutschland befreien. Beide Staaten haben auch ökonomisch vom deutsch-polnischen Bündnis profitiert. Beide Nationen waren und sind aufeinander angewiesen. Statt mit Sanktionen zu drohen und antideutsche Vorurteile zu pflegen, sollte man aufeinander zugehen und sich vor Ort ein Bild machen, das der Komplexität beider Gesellschaften gerecht wird. Der Besuch des deutschen Außenministers Frank-Walter Steinmeier am 21. Januar 2016 in Warschau war ein sehr gutes Signal.

Sachbezogene Kritik von außen nützt der demokratischen Streitkultur, Vorurteile hingegen polarisieren nur und schaffen Solidarität innerhalb des nationalkonservativen Regierungslagers.

Sachbezogene Kritik von außen nützt der demokratischen Streitkultur, Vorurteile hingegen polarisieren nur und schaffen Solidarität innerhalb des nationalkonservativen Regierungslagers. Wir sollten nicht vergessen, dass weder die Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS) noch ihre Wählerschaft einen homogenen Block bilden. Vor vielen Jahren ist der interessante Vergleich gemacht worden, dass die PiS sehr an die CSU erinnere, also ein breites politisches Spektrum von der politischen Mitte bis nach ganz rechts abdeckt. Die PiS kann trotz ihrer absoluten Parlamentsmehrheit in Polen nicht gegen die politische Mitte, gegen die polnische Zivilgesellschaft regieren. Die PiS ist vor allem an die Macht gekommen, da sie das bisher vernachlässigte Thema der sozialen Ungerechtigkeit in Folge der Transformation thematisiert hat. Damit hat sie viele Wähler aus der Mitte der Gesellschaft angesprochen.

Nicht ein Systemwechsel ist angekündigt worden, sondern ein „guter Wechsel“ vor allem in der Sozial-, Familien- und Gesundheitspolitik. Das war auch für viele junge Polen attraktiv, die sich fragen, warum sie heute so viel weniger verdienen als ihre ähnlich gut ausgebildeten Altersgenossen in Deutschland, obwohl die Preise und Lebenshaltungskosten in beiden Ländern fast auf dem gleichen Niveau sind. Symbolisch ausgedrückt: Der Cappuccino kostet in Berlin genauso viel wie in Warschau, die Einkommen sind aber weit voneinander entfernt. Diese ökonomische Realität in der Mitte Europas verstehen viele Menschen nicht. Dieses Unbehagen hat der PiS geholfen, die Wahlen zu gewinnen. Nachdem die PiS-Regierung die Rhetorik des sozialen Konsenses verlassen hat und wieder die Sprache des Kulturkampfs gegen die bisherigen politischen Eliten verwendet, hat die Regierung innerhalb kurzer Zeit schon einen Teil ihrer Wählerschaft verloren. Der Konflikt mit dem Verfassungsgericht und die personellen Veränderungen in den öffentlichen Medien haben zehntausende Menschen mobilisiert, die gegen diese Politik auf die Straße gegangen sind. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Mehrheit der Bevölkerung zulassen wird, dass die liberale Demokratie in Polen außer Kraft gesetzt wird.