Fast 200 Jahre lang war der Wahlkreis North Shropshire, eine landwirtschaftlich geprägte Grafschaft in den West Midlands, eine feste Bank der Tories. Verlässlich hatte man dort für den Brexit gestimmt und seit 1997 siebenmal den Tory-Kandidaten Owen Paterson ins Unterhaus geschickt. Erst ein Korruptionsskandal, in dem es um Nebenjobs von Abgeordneten ging, setzte dieser traditionellen Treue ein Ende. Premier Boris Johnson hatte Paterson verteidigt und wollte fast halsbrecherisch die Lobby-Regeln des Parlaments nachträglich zu seinen Gunsten verändern. Paterson trat schließlich zurück, und das Nachwahlergebnis im Dezember 2021 kam einem politischen Erdbeben gleich. Mit einem Zugewinn von 37 Prozent demütigte Helen Morgan, die Kandidatin der Liberaldemokraten, den Kandidaten der Tories, die ein Drittel ihrer Stimmen verloren. Sogar Wählerinnen und Wähler von Labour gaben in Umfragen zu, taktisch gewählt zu haben, um den Tories eine Lektion zu erteilen.

Boris Johnson, Garant für zuverlässige Wahlsiege, Macher und Brexit-Lieferant, wird plötzlich zum Problem für seine Partei.

Diese Niederlage war der Anfang vom Ende des Boris Johnson – nicht die albernen Christmas Partys im Amtssitz von „Number 10“ und nicht die Einladung seines persönlichen Assistenten an das Personal der Downing Street zu einem fröhlichen Umtrunk inmitten des Lockdowns. Boris Johnson, der Garant für zuverlässige Wahlsiege, der Macher und der Brexit-Lieferant, wird plötzlich zum Problem für seine eigene Partei. 15 Premierminister mit 66 Regierungsjahren haben die Tories seit 1900 gestellt. Nun liegt Labour in Umfragen um 10 Punkte vorn. In der Frage nach dem besseren Premierminister setzt sich Oppositionsführer Keir Starmer mittlerweile klar durch. Aber gefährdet diese Stimmung die ganze Regierung?

Die Conservative and Unionist Party, kurz Tories genannt, gilt als eine der anpassungsfähigsten Parteien der Welt. Was ist ein Boris Johnson im Vergleich zu einer ruhmreichen Geschichte, die bis in das 17. Jahrhundert zurückgeht? Man hat die Diktatur Cromwells überlebt, die Glorious Revolution überstanden und mit Winston Churchill den zweiten Weltkrieg gewonnen. Wo ist das Problem? Jemand anderes wird den Stab übernehmen. Die Legislaturperiode endet erst 2024.

Die Tories gelten als eine der anpassungsfähigsten Parteien der Welt. Wo ist das Problem? Jemand anderes wird den Stab übernehmen.

Und doch markiert Johnsons bevorstehende Niederlage auch eine Zeitenwende. Sie könnte das Ende der Clown-Politik, das Scheitern der Popkultur in der Staatskunst einläuten. Inmitten der Krise ist kein Platz für Exzentrik und Lausbubentum. Zwar hat „BoJo“ – wie ihn seine Fans nennen – seine Partei entkrustet, von Fossilienschichten befreit und Labour programmatisch an die Wand gespielt. Ganze Landstriche ehemaliger Labour-Bastionen gingen nur wegen Johnson 2019 erstmals an seine Partei. Aber was bleibt am Ende von seinen Versprechen? Was bleibt zum Beispiel von der Verheißung, endlich die Lebensverhältnisse im Norden des Landes nachhaltig zu verbessern?

Die letzte Regierungserklärung durch Elisabeth II. war durchsetzt vom Schlagwort des leveling up. Von der Ausstattung der Polizei bis zur neuen Nichtraucherstrategie – alles diene der Abschaffung der Ungleichheit. Ein neuer Gesetzentwurf zum lebenslangen Lernen (New Skills and Post-16 Education Bill) setzt dabei auf die Kreditfähigkeit der Betroffenen, die sich dafür verschulden sollen. Der Verteuerung der Immobilienpreise will ein weiterer Gesetzentwurf mit mehr Planungsfreiheiten für Investoren begegnen. Neue Arbeitsplätze sollen durch die Einrichtung von acht Freihäfen entstehen; ein Projekt, bei dem Kritiker eher Geldwäsche und Steuervermeidung befürchten. Gesetzesvorlagen zu Arbeitnehmerrechten nach dem Brexit und zur Rentenreform wurden dagegen vertagt. Im April steht eine kräftige, sozial unausgewogene Steuererhöhung an, eine selbst unter den Tories stark umstrittene Maßnahme.

Gleichzeitig steigen die Inflation und vor allem die Energiepreise, während das unter Corona eingeführte Kurzarbeitergeld ausläuft. Die Gefahr weiterer Lieferengpässe und damit verbundenen Versorgungskrisen in einzelnen Sektoren ist weiterhin nicht gebannt. Während die Wirtschaftsleistung durch die Pandemie in Deutschland um 4,6 Prozent schrumpfte, ging sie im Vereinigten Königreich – auch durch den Brexit - um 9,7 Prozent zurück.

Die Boris-Bilanz ist dürftig, aber politische Beobachter notieren eine ganz andere Gefahr: den Umbau der britischen Demokratie durch eine fast autokratisch agierende Mehrheitspartei.

Die Boris-Bilanz ist also dürftig, aber im Windschatten all seiner Skandale und exzentrischen Auftritte notieren politische Beobachter eine ganz andere Gefahr: den Umbau der britischen Demokratie durch eine fast autokratisch agierende Mehrheitspartei. Wichtige Institutionen der Demokratie werden regelmäßig und systematisch attackiert: die BBC, die Wahlkommission, der Ethikrat des Parlaments, das Parlament selbst, das Demonstrationsrecht, das Justizsystem als Ganzes und sogar das Oberste Gericht. Der neue Gesetzentwurf zur Electoral Integrity erinnert nicht von ungefähr an die Versuche der amerikanischen Republikaner zur Wählerunterdrückung. Über 11 Millionen Menschen besitzen weder die geforderte Foto-ID noch einen Führerschein. Kaum überraschend gehören diese Menschen überproportional armen, benachteiligten und nicht-weißen Bevölkerungsgruppen an, die nicht zur Tory-Wählerschaft gehören. Die Kommunalwahlen – so der Plan der Innenministerin Priti Patel – sollen in Zukunft nach dem Mehrheitswahlrecht ablaufen. Auch dadurch würde die Conservative Party bevorteilt.

Menschrechtsaktivisten beklagen den neuen Police, Crime, Sentencing and Courts Bill als einen Angriff auf fundamentale Bürgerrechte. Die Vorlage schränkt das Demonstrationsrecht ein, kriminalisiert Obdachlose und setzt nicht-sesshafte Bevölkerungsgruppen behördlicher und polizeilicher Willkür aus. Der Higher Education Bill wiederum könnte der Versuch sein, eine konservative Agenda an den Universitäten durchzusetzen. Die Agenda des leveling up, so die schärfsten Regierungskritiker, habe eine ganz andere Funktion, nämlich politischen Dissens zu unterdrücken. Unter dem gegenwärtigen Mehrheitswahlverfahren hat diese Strategie großes Potential. Johnsons Partei macht sich erst gar nicht die Mühe, daraus ein Geheimnis zu machen. Ihr letztes sehr erfolgreiches Wahlprogramm enthielt einen Aktionsplan zur Einrichtung einer „Kommission über die Verfassung, Bürgerrechte und Demokratie“ mit dem Mandat, „das Gleichgewicht zwischen der parlamentarischen Regierung und den Gerichten wiederherzustellen, indem die Macht des Justizwesens eingeschränkt und die der Minister und des Parlaments wiederhergestellt oder gestärkt wird“.

Je länger das Kasperletheater um den Premier andauert, umso besser für die Kräfte der Partei, die ihren Machterhalt langfristig absichern wollen.

Bei den Kommunalwahlen im Mai wird die Regierungspartei erneut Wahlniederlagen erleiden. Nach North Shropshire muss man dann vielleicht auch auf Uxbridge verzichten, den Wahlkreis von Boris Johnson. Aber damit wäre nur eine Schlacht verloren, nicht der Krieg. Und je länger das Kasperletheater um den Premier andauert, umso besser ist das für die Kräfte der Partei, die inmitten des Skandalgeschreis weiter agieren und ihren Machterhalt langfristig absichern wollen. Am Tag der berühmten Peppa Pig-Rede“ des Premiers ging die Verabschiedung seines kontrovers diskutierten Gesetzes zur Kranken- und Pflegeversicherung lautlos in der Presse unter. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.

Und so werden die Tories der Labour Partei vor 2024 keine Chance für Neuwahlen geben. Eine Krisenmanagerin oder ein Krisenmanager wird aus der Taufe gehoben werden und dem Amt des Premierministers wieder das verleihen, was viele Briten zuletzt schmerzlich vermisst haben: Würde. Brexit is done. Das Spiel ist aus. Boris kann gehen.