In der Frage der Wirtschaftssanktionen gegen Russland stehen sich zwei Ansichten unversöhnlich gegenüber. Nach offizieller Lesart des Westens sind Sanktionen ein Mittel, Russland für seinen Verstoß gegen die Regeln der internationalen Ordnung zu bestrafen und sein künftiges Verhalten zu korrigieren. Die Russen sehen das völlig anders. In ihren Augen sollen die Sanktionen Russland und seine Verteidigungsfähigkeit schwächen. Diese gegensätzlichen Auffassungen sind nur die Spitze eines Eisbergs gegenseitiger Missverständnisse zwischen Russland und dem Westen, die in der fundamentalen Uneinigkeit darüber wurzeln, wie Nationen in der Welt von heute ihre Sicherheit gewährleisten können.

„Putin lebt in einer anderen Welt“, lautet ein berühmter Satz Angela Merkels. Sie meinte damit, dass sich der russische Präsident in einem anderen Bezugsrahmen bewegt und daher politische Ereignisse und Maßnahmen völlig anders wahrnimmt als wir im Westen. In der Frage der globalen und nationalen Sicherheit ist das zweifellos der Fall. In der Beurteilung der Sicherheitslage, des russischen Vorgehens in der Ukraine und des Sinns von Sanktionen trennen uns Welten.

 

Die zwei Welten der Gegner

Nach westlichem Verständnis muss sich Sicherheit in einer eng verzahnten Welt auf Kooperation, Dialog und Vertrauen stützen. Garantieren können sie nur Partner, die in ein System mit festen Regeln eingebunden sind. Mit diesem Sicherheitsbegriff können die Russen nichts anfangen. Nach ihrem Verständnis können sie Sicherheit und Souveränität nur gewährleisten, wenn sie sich unabhängig von anderen verteidigen können. Keine multinationale oder supranationale Organisation kann das für sie übernehmen.

In der Frage, wie es zum Konflikt in der Ukraine kommen konnte, sind wir völlig unterschiedlicher Ansicht. Nach Putins Auffassung griff er ein, um Russland zu verteidigen und ein drohendes Sicherheitsrisiko auszuschalten. Nach dieser Logik wird Russland vom Westen bedrängt. Es darf nicht zulassen, dass die Ukraine, mit der es wirtschaftlich so eng verbunden ist, gänzlich in den Einflussbereich seines Gegners gerät, der die Ukrainer beschwatzen oder zwingen könnte, sich gegen die Russen zu stellen, ohne dass Russland Mittel hat, diesen Druck zu erwidern. Aus westlicher Sicht dagegen bedroht der Regelverstoß Russlands unser gesamtes System und somit die Sicherheit (und auch Wohlstand und Freiheit) aller.

Nach Aussage westlicher Staatschefs bezwecken sie mit den Sanktionen, „Putins Kalkül zu verändern“. Das setzt voraus, dass es Vorteile gäbe, auf die Putin bereit wäre zu verzichten, wenn im Gegenzug der Druck aktueller oder künftiger Sanktionen gemildert wird. Doch wer von diesem Kosten-Nutzen-Modell ausgeht – das der Strafverfolgung entliehen ist –, verkennt gründlich, was für Russland auf dem Spiel steht. Für die Russen ist die Ukraine keine Beute, deren Wert sie mit den Kosten des Raubzugs verrechnen. In ihren Augen diente Russlands Eingreifen in der Ukraine vielmehr der Verteidigung gegen eine existenzielle Bedrohung.

Für die Russen ist die Ukraine keine Beute, deren Wert sie mit den Kosten verrechnen. In ihren Augen diente Russlands Eingreifen vielmehr der Verteidigung gegen eine existenzielle Bedrohung.

Durch die Sanktionen meint der Westen die Russen zwingen zu können, dass es sein Verhalten in akzeptablere Bahnen lenkt. Nach russischer Sicht aber zwingt er sie zu wählen: Entweder, sie akzeptieren eine politische und militärische Situation, die das Überleben ihrer Nation langfristig bedroht, oder sie setzen sich einem nicht enden wollenden eskalierenden Wirtschaftskrieg aus. Für Russland ist das keine Wahl. Es verliert in jedem Fall.

Wir sitzen daher in einer Falle, die wir uns selbst gestellt haben. Wir haben eine Politik betrieben, die nie nach Plan verlaufen, sprich Russland zwingen konnte, sein Verhalten zu ändern und die Regeln unserer Ordnung zu befolgen. Die Russen werden diese Regeln nicht befolgen, solange sie davon überzeugt sind, dass unsere Ordnung sie an der Wahrung ihrer eigenen Sicherheit hindert. Sanktionen können daher unser „Russland-Problem“ nicht lösen. Solange sich Russland bedroht fühlt und noch in der Lage ist sich zu verteidigen, wird es sich verhalten wie in der Ukraine – und schlimmer.

 

Sieg = Zusammenbruch?

Wenn ein „Sieg“ in diesem Konflikt darin besteht, dass wir Russland unser Verständnis internationaler Sicherheit aufzwingen, dass diese Version also die Oberhand gewinnt über die russische, dann kann dieser Sieg nur eine Form annehmen: Russland muss vollständig zusammenbrechen. Manch einer im Westen sieht Russland schon auf dem besten Weg zum internen Kollaps, der womöglich eher früher als später eintritt, durch Sanktionen aber beschleunigt wird. Das ist eine brandgefährliche Wette. Denn wenn wir Russland lediglich der Gefahr eines Zusammenbruchs aussetzen, wird es sich genötigt sehen, Präventivmaßnahmen zu ergreifen. Solange Russland über Vergeltungswaffen verfügt (in der gesamten Bandbreite des Arsenals, von Atomsprengköpfen und anderen militärischen Kampfmitteln bis hin zur Energie und zu Cyber-Waffen), wird es sie alle einsetzen, ehe es kapituliert.

Wenn unsere Strategie darin besteht, Russland dazu zu zwingen, seinem Ziel einer unabhängigen Wahrung der eigenen Sicherheit und Souveränität abzuschwören, dann müssen wir auch bereit sein, diese Strategie bis zum bitteren Ende durchzuziehen. Dann müssen wir einen Plan haben, wie wir alle russischen Waffen unschädlich machen oder wie wir sie überleben können.

Falls wir das alles nicht wollen, welche Alternativen haben wir dann? Ein nicht-militärisches Ende ist nur zu erreichen, wenn wir die Grundproblematik der unvereinbaren Sicherheitsbegriffe lösen. Putins Interesse ist die Sicherheit. Unseres auch. Wir haben fundamental unterschiedliche Ansichten. Diese Unterschiede beizulegen, muss das wahre Thema von Verhandlungen sein.