Die dramatischen Nachrichten aus der Türkei bewegen auch in Deutschland viele Bürgerinnen und Bürger – nicht nur mit türkischen Wurzeln. Der Erleichterung über den fehlgeschlagenen Putsch wich rasch die Sorge über den Kurs des Landes. Erdogan, so sehen es deutsche Medien, scheint mittlerweile fast selbst zum Putschisten zu werden.

Dabei wäre die Niederschlagung des Putsches die große Chance gewesen, innenpolitisch einen anderen Weg einzuschlagen und das Land zu einen. Alle im türkischen Parlament vertretenden Parteien hatten sich noch während der nächtlichen Ereignisse gegen eine Machtübernahme durch das Militär ausgesprochen. Das Ausland stand geschlossen hinter der türkischen Regierung. Viele Menschen waren in Ankara und Istanbul auf die Straße gegangen, weil sie das undemokratische und brutale Vorgehen einiger Militär-Angehöriger nicht akzeptieren wollten. Das war beeindruckend – und hätte die türkische Demokratie auf Dauer stärken können. Erdogan hätte nicht nur als der Präsident in die Geschichte eingehen können, der die Hoheit der Politik über das Militär erlangt hat, sondern auch als gesellschaftlicher Versöhner, der wahre staatsmännische Größe zeigt. Doch er wählte leider, wenn auch wenig überraschend, einen anderen Kurs, der das Land weiter spalten wird. Erdogan geht zwar zunächst als Gewinner aus dem Putschversuch hervor, aber die türkische Demokratie zahlt dafür einen hohen Preis.

Selbstverständlich musste der türkische Staat gegen die Putschisten vorgehen. Keine Regierung würde sich dieses Vorgehen bieten lassen. Auch dass in den ersten Stunden nach so dramatischen Ereignissen die Emotionen hochschlagen, ist nachvollziehbar. Aber nur einen Tag nach dem Putsch tausende Richter und Staatsanwälte abzusetzen und in den folgenden Tagen weitere zehntausende Staatsbedienstete zu verhaften oder zu suspendieren, steht im klaren Widerspruch zu rechtsstaatlichen Verfahren. Die Namen der Betroffenen standen offenbar bereits im Vorfeld auf Listen. Der Putschversuch wurde als Vorwand und willkommene Gelegenheit genutzt, gegen Oppositionelle und Andersdenkende vorzugehen - und nicht nur gegen Anhänger der ehemals mit Erdogan verbündeten Gülen-Bewegung.

Voller Sorge müssen wir in diesem Zusammenhang übrigens auch davon ausgehen, dass die Verhaftungs- und Entlassungswellen im türkischen Sicherheitsapparat dazu beitragen werden, dass die Handlungsfähigkeit der türkischen Sicherheitskräfte zur Gefahrenabwehr zumindest zeitweise geschwächt ist, was das Risiko von Anschlägen erhöht.

Wichtig ist, den Kontakt mit denjenigen Menschen in der Türkei zu halten und auszubauen, die in demokratischer und gewaltfreier Opposition zur Regierung stehen.

Unsere Einwirkungsmöglichkeiten auf die innenpolitische Lage in der Türkei sind begrenzt. Klar ist, dass wir die Defizite in aller Deutlichkeit ansprechen werden. Wichtig ist auch, den Kontakt mit denjenigen Menschen in der Türkei zu halten und auszubauen, die in demokratischer und gewaltfreier Opposition zur Regierung stehen und sich für Meinungs- und Pressefreiheit und Menschenrechte einsetzen, auch weil sie in diesen Tagen stark verunsichert sind. Die gesellschaftliche Entfremdung zwischen Deutschland beziehungsweise der EU und der Türkei darf sich nicht noch weiter verstärken. Es ist zu hoffen, dass eine öffentliche Unterstützung für Oppositionelle auch vor Repression schützen kann.

Und es ist zu wünschen, dass die Ankündigung, über die Wiedereinführung der Todesstrafe zu diskutieren, allein der Aufregung der ersten Stunden nach den Ereignissen geschuldet war und schnell wieder begraben wird. Ein Land, das der EU angehören möchte, kann nicht die Todesstrafe einführen. Es ist nun an den türkischen Parlamentariern, jeden Vorstoß in diese Richtung abzuwenden. Ähnlich verhält es sich mit dem Notstand: Alle demokratischen Kräfte in der Türkei sollten größtes Interesse haben, dass seine Dauer auf die drei angekündigten Monate begrenzt bleibt und danach wieder beendet wird. Die Gefahr, dass der Notstand ausgenutzt wird, um weiter auch gegen diejenigen vorzugehen, die in Opposition zu Erdogan stehen, aber gar nichts mit dem Putschversuch zu tun haben, scheint sich leider bereits zu bewahrheiten.

 

Wie konnte es soweit kommen?

Im Nachhinein ist man immer schlauer. Aber es gibt durchaus Situationen, in denen man bereits zum Zeitpunkt des Geschehens ahnt, dass die handelnden Akteure dabei sind, Chancen zu verspielen. In der jüngsten Geschichte der Türkei gibt es eine Reihe dieser Momente. Auf türkischer Seite, aber auch auf deutscher Seite.

Zu Beginn seiner Amtszeit als türkischer Premierminister wurde Erdogan nicht nur in Brüssel für seinen Reformeifer bewundert. Mit diesem Erdogan, so die Einschätzung vieler in den Jahren 2004 und 2005, könnte es gelingen, die Türkei tatsächlich in die EU zu integrieren. Gerhard Schröder hatte früh die strategische Bedeutung des Landes erkannt, doch die Signale von CDU und CSU in Richtung Ankara waren von Beginn an andere: Reformen sind gut, also macht mal – aber Vollmitglied in der EU werdet ihr trotzdem nie. Diese wenig durchdachte Linie ihrer Partei machte Angela Merkel zur Grundlage ihrer Türkeipolitik, nachdem sie ins Kanzleramt einzog.

Sicherlich gab es weitere Gründe für die zunehmende Entfremdung zwischen der Türkei und der EU – aber Merkels Türkeipolitik war einer davon.

Seitdem wurde formal mit dem Ziel einer Aufnahme in die EU verhandelt und gleichzeitig in Kanzleramt und bayrischer Staatskanzlei von „privilegierter Partnerschaft“ gesprochen. Enttäuschungen auf türkischer Seite waren die Folge. Sicherlich gab es weitere Gründe für die zunehmende Entfremdung zwischen der Türkei und der EU – aber Merkels Türkeipolitik war einer davon. Als eine engere Kooperation mit der durch den Syrien-Krieg geostrategisch ins Zentrum gerückten Türkei im letzten Jahr für Merkel alternativlos wurde, wirkte die Wiederannährung der Kanzlerin an Ankara opportunistisch und unglaubwürdig.

Erdogan, mittlerweile Präsident, reagierte entsprechend und reizte seinen Verhandlungsspielraum gegenüber der EU und der Kanzlerin optimal aus. Beide Seiten verspielten anschließend die Gelegenheit, das Land tatsächlich einen Schritt in Richtung EU zu führen. Die Hauptverantwortung dafür liegt bei Präsident Erdogan, der in dem Vertrauen darauf, dass die EU ihn trotzdem nicht so leicht fallen lassen würde, seine persönliche Macht immer weiter ausgebaut hat.

Die Motive für Erdogans Handeln waren und sind dabei vor allem innenpolitischer Natur. Sein Ziel bleibt die Errichtung eines autoritären Präsidialsystems. Kurden, Oppositionelle und kritische Journalisten sind die Leidtragenden. Auf Kritik wird äußerst dünnhäutig, hart und unverhältnismäßig, letztlich unsouverän reagiert, ob sie nun aus dem In- oder Ausland kommt. Die unerträglichen Aussagen Erdogans über deutsche Bundestagsabgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund im Nachgang zur Annahme der Armenien-Resolution sind nur ein Beispiel dieser Politik.

Die Re-Militarisierung des Kurdenkonflikts, die Aufhebung der Immunität der türkischen Parlamentarier, die insbesondere die HDP-Kolleginnen und -Kollegen trifft, die Repressionen gegenüber unabhängigen Medienvertretern, die Verfolgung von Gülen-Anhängern – all das hat zu Polarisierungen in der türkischen Gesellschaft geführt. Ihre Auswirkungen sind bis in die Türkei-stämmige Bevölkerung in Deutschland zu spüren. Die Konflikte verlaufen dabei nicht selten mitten innerhalb von Familien, Freundschaften werden belastet, und in Deutschland lebende Kritiker der AKP halten sich aus Sorge um die Sicherheit ihrer Familien in der Türkei mit politischen Aussagen zurück. Schon aus diesem Grund kann uns die Lage in der Türkei nicht egal sein.

Nachdem es Erdogan außenpolitisch geschafft hatte, es sich im Prinzip mit allen Nachbarstaaten zu verscherzen, konnten wir in den letzten Wochen einen Richtungswechsel in der türkischen Außenpolitik beobachten, der zu einer Wiederannährung an Russland und Israel führte. Natürlich ist die  Annäherung zwischen der Türkei und Israel, die nicht gerade eine Liebeshochzeit darstellt, zu begrüßen. Das gilt auch für die Entschärfung des hochgefährlichen Konflikts mit Russland. Gleichwohl können eine Abwendung von der EU und eine Hinwendung zu Putin wohl kaum in unserem Interesse liegen.

Inwieweit wir in den kommenden Monaten auch eine neue türkische Syrienpolitik beobachten werden, bleibt abzuwarten. Klar scheint spätestens nach den jüngeren verheerenden Anschlägen in der Türkei zu sein, dass die Zeiten vorbei sind, in denen der begründete Verdacht bestand, dass die Türkei sich zu nachlässig gegenüber der Terrormiliz IS und anderen radikalen Gruppen verhalten hat.

In der Diskussion, wie Deutschland und Europa mit der Türkei umgehen sollten, darf nicht ignoriert werden, dass das NATO-Mitglied Türkei nun mal in einer geopolitisch zentralen Lage liegt, mit Grenzen zu Syrien, Irak und Iran und in unmittelbarer Nachbarschaft zu Russland und zur Ukraine. Die Einbindung der Türkei in die NATO liegt daher auch in unserem Interesse, weshalb wir die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung nicht leichtfertig aufs Spiel setzen dürfen. Insbesondere beim Kampf gegen den internationalen Terrorismus geht es dabei auch um unsere eigene Sicherheit. Allerdings gilt ebenso, dass auch die NATO auf gemeinsamen Werten beruht. Deren Unterhöhlung, wie wir sie derzeit in der Türkei beobachten können, schadet dem gesamten Bündnis.