Aller Voraussicht nach wird Deutschland für die Jahre 2019 und 2020 als nichtständiges Mitglied in den UN-Sicherheitsrat gewählt werden. Es werden wohl ausgesprochen schwierige Jahre. Die Aussichten, dass die Vereinten Nationen völlig marginalisiert werden und dass wir weiter in eine Welt abdriften, in der nur enge nationale Eigeninteressen, Willkür und das Recht des Stärkeren gelten, sind beunruhigend gestiegen.

Die ‚high-level‘ UN-Generalversammlung vom 24. und 25. April dieses Jahres war kein gutes Omen für die Zukunft der Organisation. Obwohl sie Frieden zum Thema hatte, spielten erstaunlicherweise die aufflammenden Spannungen zwischen den Großmächten, die vielen ungelösten innerstaatlichen Kriege und der Anstieg an ausländischen militärischen Interventionen keine Rolle. Es ging im Wesentlichen um die interne Reorganisation der Vereinten Nationen; neue Ansätze zur Lösung lang anhaltender blutiger Konflikte in Ländern wie Afghanistan, Irak, Jemen, Kongo, Libyen, Mali Somalia, Südsudan, Syrien Zentralafrika oder gar die Ukraine – um nur die schlimmsten Fälle zu nennen – gab es keine.

Die Debatte in der Generalversammlung schien von dieser unangenehmen Realität kaum Notiz genommen zu haben. Sie war ein trauriges Beispiel dafür, wie man sich in den Vereinten Nationen eher bemüht, Kontroversen zwischen wichtigen Mitgliedstaaten zu vermeiden als dem konfliktbeladenen Geschäft, Kriege zu verhindern, nachzugehen. Da stellt sich die bittere Frage, inwieweit die Vereinten Nationen für die globale Friedenssicherung noch relevant sind.

Inwieweit ist die UN-Charta noch gültiges internationales Recht? Heute sind die in der Charta verbotenen einseitigen militärische Interventionen und die Androhungen von militärischer Gewalt wieder Teil internationaler Politik geworden.

Im Sicherheitsrat – dem maßgeblichen Entscheidungsorgan der UN – stehen die Dinge noch schlechter. Gefangen in einem Teufelskreis gegenseitiger, oft fragwürdiger Anschuldigungen, scheint nun das Vertrauen zwischen den ständigen Mitgliedern China, Frankreich, Großbritannien, Russland und den Vereinigten Staaten derart zerrüttet, wie wir es seit den Zeiten des tiefsten Kalten Krieges nicht mehr kannten. Nicht nur sind Wortgefechte über den Syrien-Konflikt zur Farce verkommen, nun werden auch noch zuvor unstrittige Mandate wie die Verlängerung der UN-Missionen in Haiti und in Westsahara in Frage gestellt. Dabei steht dem Sicherheitsrat ein noch viel entscheidender Test bevor. Das Atomabkommen mit dem Iran fand seinerzeit im Sicherheitsrat eine selten einmütige Unterstützung und hat damit eine Art internationale Zustimmung erfahren. Die einseitige Aufkündigung des Abkommens durch die USA ist so auch ein Schlag gegen die Glaubwürdigkeit des UN-Sicherheitsrats und könnte zu dem bereits bekannten Konflikt zwischen dem Westen, Russland und China auch noch zu einem transatlantischen Bruch führen.

Mit den Problemen in der Generalversammlung und im Sicherheitsrat stellt sich eine viel grundsätzlichere Frage: Inwieweit ist die UN-Charta noch gültiges Völkerrecht? Heute sind die in der Charta verbotenen einseitigen militärischen Interventionen und die Androhungen von militärischer Gewalt wieder Teil internationaler Politik geworden. Auch spielt die Charta weder in dem jüngsten Bericht des Generalsekretärs zur Friedenssicherung noch in der Debatte der Generalversammlung eine Rolle.

Wie kann das sein in einer Versammlung der Vereinten Nationen, in der es um Frieden geht? Die Charta ist ja der grundsätzliche und allgemein gültige Vertrag aller Mitgliedsländer im Bestreben, den Weltfrieden zu wahren. Die Vereinten Nationen stehen und fallen mit der Charta; ohne sie wird es keine Vereinten Nationen geben. Auch die Autorität des Sicherheitsrats, dem nun Deutschland zeitweise angehören wird, beruht allein auf der gemeinsamen Anerkennung der Charta. Ohne sie werden letztlich auch die Menschrechte, die Flüchtlingskonvention sowie das humanitäre Völkerrecht, ja internationales Recht schlechthin in Frage gestellt. Schlimmer noch, es könnte das Vertrauen in international ausgehandelte Abkommen untergraben. Aber ohne solch gegenseitiges Vertrauen kann es auch keine Friedensordnung geben.

Im Westen mögen wir das beklagen, wie es Bundeskanzlerin Angela Merkel kürzlich auf dem deutschen Katholikentag tat. Aber was bedeutet ein solcher Vertrauensverlust für die Länder in Lateinamerika, in Afrika und großen Teilen Asiens – also in Ländern, die sich militärisch kaum schützen können und sich daher auf die Garantien der UN-Charta verlassen müssen? In diesen Ländern lebt immerhin die große Mehrheit der Menschen, die von den Auseinandersetzungen der ständigen Mitglieder im Sicherheitsrat weitgehend ausgeschlossen sind. Ein Zusammenbruch der UN-Charta wurde ja nicht nur globalen Mächten freie Hand geben, ihre Ziele mit militärischen Mitteln durchzusetzen, es würde auch immer mehr regionale Mächte ermutigen, ihre Ziele ebenfalls militärisch zu verfolgen.

Die Vereinten Nationen sind heute in einem so schlechten Zustand und die Konflikte haben sich derart zugespitzt, dass etwas passieren muss. Vielleicht wäre es nun an der Zeit – ähnlich wie am Endes des Kalten Krieges – durch einen mutigen Schritt nach vorne erneut Vertrauen in den kollektiven Sicherheitsansatz der Vereinten Nationen zu schaffen. Drei Vorschläge, wie der UN-Charta als Fundament internationaler Friedensregelung wieder zur notwendigen Beachtung verholfen werden könnte, möchte ich zur Diskussion stellen:

Wahrung der universellen Anwendung der UN-Charta

Die UN-Charta ist eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften der Menschheit. Als angesichts von 55 Millionen Kriegstoten, Millionen vertriebener Menschen, schrecklicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit und zerbombten Städten sich die Gründungsmitglieder in der UN-Charta darauf einigten, nie wieder militärische Gewalt oder gar die Androhung militärischer Gewalt zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele einzusetzen, brachen sie mit jahrhundertalten Überzeugungen, dass Kriege unvermeidlich sind und nur militärische Macht Sicherheit bringt. Die Charta stellte militärischer Macht ein Modell internationaler Kooperation und kollektiver Sicherheit entgegen.

Leider scheint davon nicht mehr viel übriggeblieben zu sein. Vielmehr finden immer häufiger einseitige militärische Interventionen statt und, ohne jede Skrupel, wird wieder mit der militärischen Vernichtung von Gegnern gedroht. Zur – vermeintlichen – Sicherheit wird wieder in militärische Aufrüstung und die Entwicklung neuer Waffen investiert. Auch in Deutschland gibt es den Ruf unter Politikern, aber mehr noch in den Medien, nach erneuter Aufrüstung und gar dem Einsatz militärischer Stärke. Man hört selten jemanden an die normativen Errungenschaften der UN-Charta erinnern.

Dabei sollte doch der Verzicht auf militärische Gewalt zur Lösung von Konflikten heute von noch größerer Wichtigkeit für uns sein als noch vor 70 Jahren. Die Zerstörungskraft moderner Waffen hat seitdem um ein Vielfaches zugenommen und immer mehr Staaten haben Zugang zu Massenvernichtungswaffen. Das Argument, dass moderne Waffen punktgenau eingesetzt und wir so „saubere“ Kriege führen könnten, ist eine Märchen. Kriegerische Auseinandersetzungen könnten schnell zu einem Flächenbrand werden. Der Konflikt in Syrien mit wahrscheinlich Hunderttausenden an zivilen Toten sollte eine Warnung dafür sein, wie schnell ein innerstaatlicher Konflikt in einen Krieg zwischen globalen und regionalen Mächten umschlagen kann.

Erweiterung der UN-Charta auf innerstaatliche Konflikte

Die allgemeine Sicherheitslage in der Welt hat sich grundsätzlich verändert. Heute dominieren bewaffnete Konflikte innerhalb von Staaten, während Kriege zwischen Staaten fast nicht mehr vorkommen. Es gab natürlich innerstaatliche Konflikte bereits bei der Gründung der Vereinten Nationen. Damals ging man aber davon aus, dass diese nur lokale Bedeutung hätten und für den Weltfrieden keine Rolle spielten. Unter dem Eindruck der beiden Weltkriege konzentrierte sich die UN-Charta ausschließlich auf die Verhinderung von Kriegen zwischen Staaten. Jede Form der Einmischung der Vereinten Nationen in innerstaatliche Angelegenheiten schließt die UN-Charta kategorisch aus: Sie hat ein Eingreifen in innerstaatliche bewaffnete Konflikte nicht vorgesehen, ein Umstand, der zu den vielen Schwierigkeiten beigetragen hat, Konflikte wie in Bosnien-Herzegowina, Ruanda oder heute in Syrien zu lösen.

Soll die UN in Zukunft relevant bleiben, muss innerstaatlichen Konflikten in der Charta Rechnung getragen werden. Zum einen müssten sich die Mitgliedstaaten auf allgemeine Normen innerstaatlicher Ordnung einigen. Mit den Menschrechten und Prinzipien wie beispielsweise der Verantwortung, die Zivilbevölkerung zu schützen („Responsibility to Protect“), sind bereits wichtig Schritte getan. Zum anderen müssten ausländische militärische Interventionen in innerstaatliche Konflikte oder das Recht lokaler Regierungen, zur Bekämpfung interner Oppositionsgruppen ausländisches Militär einzuladen, unter Regeln kollektiver Sicherheit gestellt werden. Das Gleiche müsste für die ausländische Unterstützung von Konfliktparteien mit Waffen und Geld gelten. Weiterhin müssten Regelungen getroffen werden, wie man fragile Mitgliedstaaten unterstützen kann und wie mit bewaffneten nichtstaatlichen Akteuren umzugehen ist.  

Eine solche Ausweitung der UN-Charta auf innerstaatliche Konflikte wäre sicherlich ein umstrittener, aber notwendiger Schritt. Er würde einen Eingriff in die nationale Souveränität von Mitgliedstaaten bedeuten, aber auch zu deren Schutz vor willkürlichen militärischen Interventionen führen.

Demokratisierung kollektiver Entscheidungen unter der UN-Charta

Im Wesentlichen haben heute noch die fünf Siegermächte des Zweiten Weltkriegs das Sagen in den Vereinten Nationen. Drei der ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats, Frankreich, Großbritannien und die USA, vertreten heute nur noch etwa sechs Prozent der Weltbevölkerung; mit dem weiteren Anwachsen der Weltbevölkerung könnte dieser Anteil im Jahr 2100 auf vier Prozent schrumpfen. Mit Russland als viertes ständiges Mitglied wird der Sicherheitsrat immer noch von ehemaligen Kolonialmächten des „weißen Mannes“ dominiert. Um die Glaubwürdigkeit der Vereinten Nationen als Forum kollektiver Sicherheit zu erhalten, müssten die in der UN-Charta vorgesehenen Entscheidungsprozesse demokratisiert und den heutigen geopolitischen Gegebenheiten angepasst werden.

Nun sind in der Vergangenheit viele Versuche, die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat und das Vetorecht zu ändern, fehlgeschlagen. Das wird auch in nächster Zukunft nicht anders sein. Aber vielleicht gibt es einen Weg, dieses Problem anders zu lösen. Eine Möglichkeit wäre, das Mandat der Kommission für Friedenskonsolidierung (PBC) zu stärken und dieser Kommission ein Mitspracherecht bei der Prävention und Eindämmung aller innerstaatlichen Konflikte zu geben. Die PBC könnte mit der Koordinierung der unterschiedlichen politischen, sozialen, wirtschaftlichen, humanitären und menschenrechtlichen Aspekten internationaler Friedensbemühungen beauftragt werden, wohingegen das übergeordnete Recht, über zivile und militärische Interventionen zu entscheiden, weiterhin beim Sicherheitsrat bleiben würde.

Da heute fast alle Konflikte innerstaatlicher Natur sind, würde das der PBC eine überaus wichtige und substanzielle Rolle zugestehen. Es würde helfen, die Fragmentierung von Entscheidungen in den vielen Verwaltungsräten der UN zu verhindern und die vielen unterschiedlichen Hilfsprogramme und finanziellen Zuwendungen zu bündeln. Mit ihren 31 Mitgliedern, die nach unterschiedlichen Kriterien ausgewählt werden, ist die PBC zudem wesentlich repräsentativer als der Sicherheitsrat.

Die Bundesregierung spricht oft und gerne über eine größere Verantwortung, die Deutschland in der Welt übernehmen solle. Meistens wird darunter eine erweiterte Rolle der Bundeswehr verstanden; aber wäre hier nicht eine lohnende Gelegenheit, als Mitglied des Sicherheitsrats eine größere Verantwortung auch im nichtmilitärischen Bereich internationaler Diplomatie zu zeigen? Immerhin entstand die UN-Charta als Reaktion auf den von Deutschland angezettelten Zweiten Weltkrieg und die dabei begangenen Verbrechen. Daraus sollte sich eine besondere Verpflichtung Deutschlands zur Wahrung und Erweiterung der UN-Charta ergeben. Vielleicht könnte die Bundesregierung die Wiederbelebung der Vereinten Nationen zu einem europäischen Projekt machen. Immerhin werden im nächsten Jahr mit hoher Wahrscheinlichkeit fünf der 15 Mitglieder des Rates aus der Europäischen Union kommen.

Ein solcher dreiteiliger Reformvorschlag würde sicherlich zunächst auf viel Skepsis stoßen. Unter den gegebenen Umständen könnten Mitgliedsländer diesen für unrealistisch halten, da der politische Wille zur Stärkung der UN fehle. Aber ist dem wirklich so? Als sich im Jahr 1945 die Gründungsmitglieder auf die UN-Charta einigten, war das ein wesentlich radikalerer Bruch mit der Vergangenheit als die hier gemachten drei Vorschläge. Näher betrachtet gibt es bereits viele Ansätze dazu. Die UN-Charta ist ja von jedem Mitgliedsland ratifiziert worden, warum sollte man da gegen die Wahrung der in der Charta enthaltenen Grundsätze sein? Und gibt es nicht schon viele Normen wie beispielsweise die Menschenrechte, die Verantwortung, die zivile Bevölkerung zu schützen sowie das humanitäre Völkerrecht, die das Verhältnis zwischen Staat und Bürger definieren. Auch die weitaus repräsentativere Kommission für Friedenskonsolidierung besteht bereits. Was fehlt, ist gegenseitiges Vertrauen – und politischer Wille.

Auch waren die Gegensätze der fünf Siegermächte nach dem Zweiten Weltkrieg wesentlich größer als das heute der Fall ist. Damals wurde die Sowjetunion von einem Massenmörder regiert, China durch einen General vertreten, der im Bürgerkrieg Gefangene erschießen lies; da waren Frankreich und Großbritannien, beides Kolonialmächte, die damals überzeugt waren, dass sie das Recht hätten, Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt zu regieren und es gab die Vereinigten Staaten, ein Land, in dem in großen Teilen noch ein striktes Apartheit-Regime herrschte. Und doch konnten diese grundverschiedenen Regierungen sich 1945 zusammenraufen und sich auf eines der humanitärsten, zukunftsweisendsten und progressivsten Dokumente der Menschheitsgeschichte zur Wahrung des Friedens verständigen.

Warum sollte also ein viel kleinerer Schritt im Jahr 2020 nicht möglich sein? Dann werden die Vereinten Nationen das 75. Jahr ihres Bestehens feiern. Das wäre doch ein guter Anlass für einen Neuanfang. War Deutschland bei der Gründung der Vereinten Nationen noch ausgeschlossen, könnte es nun eine Vorreiterrolle einnehmen.