Europa steckt gerade mitten in seiner schlimmsten politischen Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Auf dem gesamten Kontinent haben die traditionellen politischen Parteien an Attraktivität eingebüßt, während populistische, euroskeptische Bewegungen immer mehr Zulauf bekommen. Die Eurokrise hat eine tiefe Kluft zwischen Deutschland und den hochverschuldeten südeuropäischen Staaten wie Griechenland und Portugal offenbart. Deutschland und Italien sind bei Themen wie Grenzkontrollen und Bankenregulierungen aneinandergeraten. Und am 23. Juni hat mit Großbritannien erstmals in ihrer Geschichte ein Mitgliedsland die EU verlassen – ein schwerer Schlag für das Staatenbündnis.

Die Innenpolitik läuft also aus dem Gleis und gleichzeitig drohen Gefahren von außen. Im Osten hat ein revanchistisches Russland mit der Invasion in die Ukraine und der Annektierung der Krim unheilverkündende Signale ausgesandt. Südlich von Europa hat der Zusammenbruch zahlreicher Staaten Millionen von Migranten nach Norden getrieben. Die Anschläge von Paris, Brüssel und andernorts haben gezeigt, dass Extremisten den Kontinent ins Mark treffen können.

Die EU scheint nicht mehr stark oder einig genug, um den inneren Unruhen und den Sicherheitsbedrohungen an ihren Außengrenzen entgegenzuwirken.

Die EU scheint nicht mehr stark oder einig genug, um den inneren Unruhen und den Sicherheitsbedrohungen an ihren Außengrenzen entgegenzuwirken. Deshalb wenden sich die politischen Führungen auf dem gesamten Kontinent wieder verstärkt der nationalstaatlichen Innenpolitik zu. Viele Wähler scheinen das richtig zu finden.

Europas Geschichte hat schmerzhaft vor Augen geführt, dass eine Rückkehr zu einem aggressiven Nationalismus gefährlich sein könnte. Dennoch ist ein Europa mit wieder durchsetzungsstarken Nationalstaaten der heutigen zerrissenen, ineffektiven und unbeliebten EU vorzuziehen.

Die Fürsprecher der EU gingen davon aus, dass die Vorteile einer Mitgliedschaft – der Binnenmarkt, gemeinsame Außengrenzen und ein länderübergreifendes Rechtssystem – auf der Hand lägen. Dann kam die Ukraine-Krise. Die Ukrainer gingen 2014 auf die Straße und stürzten ihren korrupten Präsidenten Viktor Janukowitsch, nachdem dieser plötzlich ein neues Wirtschaftsabkommen mit der EU hatte platzen lassen. Sofort danach marschierte Russland in die Ukraine ein, annektierte die Krim und schickte auch schnell Truppen und Artillerie in die Ostukraine. Der europäische Traum hatte den russischen Panzern und grünen Männchen nichts entgegenzusetzen.

Russlands Schachzug allein reichte noch nicht, die EU zu lähmen. Aber die kurz darauf beginnende nächste Krise brachte die Union fast an ihre Belastungsgrenze. Im Jahr 2015 kamen über drei Millionen Flüchtlinge nach Europa, von denen nahezu die Hälfte vor dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen war. Und der Flüchtlingszuzug ist noch nicht zu Ende. Anfangs zeigten sich einige Länder, allen voran Deutschland und Schweden, besonders aufnahmebereit. Als Ungarn letztes Jahr einen Stacheldrahtzaun an seiner Grenze zu Kroatien errichtete, verurteilte Kanzlerin Angela Merkel dies als einen Schritt, der an den Kalten Krieg erinnere. Und der damalige französische Außenminister Laurent Fabius äußerte, dass dies „ein Verstoß gegen die gemeinsamen europäischen Werte“ sei. Aber Anfang dieses Jahres änderten viele dieser Politiker ihre Haltung und begannen, die Länder an der Außengrenze Europas zu drängen, ihre Sicherheitsmaßnahmen zu verstärken. Im Januar warnten mehrere europäische Regierungen Griechenland vor einem Rauswurf aus dem Schengen-Raum, sollte es dem Land nicht gelingen, den Flüchtlingsstrom zu bremsen.

Die sich für offene Grenzen aussprechenden europäischen Politiker haben ihren eigenen Bürgern keinen Vorrang vor den ausländischen Neuankömmlingen eingeräumt.

Ob bewusst oder unbewusst haben die sich für offene Grenzen aussprechenden europäischen Politiker ihren eigenen Bürgern keinen Vorrang vor den ausländischen Neuankömmlingen eingeräumt. Die Intentionen dieser Politiker mögen edel sein, aber wenn ein Staat seinen eigenen Staatsbürgern keinen besonderen Schutz zukommen lässt, riskiert die Regierung des betreffenden Landes, an Legitimität zu verlieren. Tatsächlich wird der Erfolg eines Landes vor allem daran gemessen, inwieweit es seine Bürger und Grenzen vor Bedrohungen von außen schützen kann, ganz gleich, ob es sich dabei um feindliche Nachbarländer, Terrorismus oder Masseneinwanderung handelt. In dieser Hinsicht scheitern die EU und ihre Befürworter. Und den Wählern bleibt das nicht verborgen. Die Briten erteilten der Staatengemeinschaft im Juni eine heftige Abfuhr, als sie sich für den Austritt entschieden. Laut einer kürzlich vom amerikanischen Meinungsforschungsinstitut Pew Resarch Center durchgeführten Umfrage stehen 61 Prozent der Franzosen der EU ablehnend gegenüber; in Griechenland ist die Abneigung mit 71 Prozent noch höher.

Die Architekten der EU schufen einen Kopf ohne Körper.

Die Architekten der EU schufen einen Kopf ohne Körper: Sie bauten eine vereinte politische und administrative Bürokratie auf, schufen aber keine einheitliche europäische Nation. Die EU wollte die Nationalstaaten überwinden, aber ihr fataler Fehler war und ist, immer wieder das Fortbestehen nationaler Unterschiede zu übersehen und den Bedrohungen an den Außengrenzen nicht angemessen entgegenzuwirken. Die Folge dieser Nachlässigkeit ist die Zunahme politischer Parteien, deren Ziel die Wiederherstellung der nationalen Eigenständigkeit ist. Diese Parteien knüpfen häufig an rechtsextreme, populistische und manchmal fremdenfeindliche Stimmungen an.

Natürlich legen es die meisten der europäischen euroskeptischen Politiker nicht darauf an, die Union völlig aufzulösen. Sie wollen jedoch eine größere nationale Eigenständigkeit in der Sozial-, Wirtschafts- und Außenpolitik durchsetzen.

Natürlich: Das Wiederaufleben der Souveränität beschwört viele dunkle Erinnerungen an Nationalismen herauf, die den Kontinent schon zweimal an den Rand der Vernichtung brachten. Viele Beobachter befürchten nun, dass die europäische Politik sich mehr und mehr derjenigen aus den 1930er-Jahren annähert, als populistische Staatsführungen Hass schürten, um sich Unterstützung zu sichern. Derartige Ängste sind nicht völlig aus der Luft gegriffen. Die lautstarke Fremdenfeindlichkeit der österreichischen FPÖ erinnert an die ersten Tage des Faschismus. Auch der Antisemitismus nimmt in ganz Europa zu; er keimt in Parteien des gesamten ideologischen Spektrums auf, von der Labour Party in Großbritannien bis hin zur ungarischen Jobbik.

Doch die Bejahung der nationalen Souveränität muss nicht zwangsläufig mit einem gefährlichen Nationalismus einhergehen. Eine Rückkehr zu Nationalstaaten ist weniger mit Nationalismus als mit Patriotismus verbunden, beziehungsweie mit dem, was George Orwell als „Liebe zu einem bestimmten Ort und seiner Lebensart“ bezeichnete.

Die EU hat zwar durch den gemeinsamen Markt Wohlstand geschaffen, ist aber heute immer häufiger selbst Ursache von Instabilität.

Tatsächlich könnte eine Renationalisierung Europas die beste Aussicht auf Sicherheit mit sich bringen. Die Gründer der EU waren überzeugt, dass diese Vereinigung ein stabiles und wohlhabendes Europa garantieren würde – und eine Weile schien sich das zu bewahrheiten. Doch inzwischen ist zu konstatieren, dass die EU zwar durch den gemeinsamen Markt Wohlstand geschaffen hat, aber heute immer häufiger selbst Ursache von Instabilität ist.

Seit 1949 verlässt sich Europa beim Grenzschutz auf die NATO und vor allem auf die USA. Heute scheinen die identifizierbaren Feinde Europas – von Russland bis hin zum selbsternannten Islamischen Staat (IS) – für die meisten Menschen beunruhigender als das politische Chaos, das durch einen Zerfall der EU entstehen könnte. Ihre Hoffnung ist, dass die einzelnen Länder für die Art von Sicherheit sorgen können, die Brüssel nicht liefern kann.

Uneingeschränkt souveräne europäische Staaten könnten die verschiedenen Bedrohungen an ihren Grenzen möglicherweise besser abwehren als die Union. Nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine hatte die EU keine weitere Antwort als Sanktionen und schwammige Forderungen nach mehr Dialog. Die an Russland grenzenden europäischen Staaten fühlten sich durch die EU ungenügend abgesichert, weshalb sie um Unterstützung durch die NATO und US-Streitkräfte baten. Wo die EU gescheitert ist, könnte es den einzelnen Ländern auf sich selbst gestellt vielleicht besser ergehen.

Die Rückkehr zu Nationalstaaten muss nicht heißen, dass Europa in ein anarchisches Wirrwarr miteinander streitender Regierungen versinkt.

Die Rückkehr zu Nationalstaaten muss nicht heißen, dass Europa in ein anarchisches Wirrwarr miteinander streitender Regierungen versinkt. Mehr Autonomie wird die europäischen Staaten nicht davon abhalten, miteinander zu handeln und zu verhandeln. Genauso wenig wie Supranationalismus Einvernehmen garantiert, beruht Souveränität auf Feindseligkeit zwischen den Nationen.

In einem Europa wiederbelebter Nationalstaaten werden die Länder weiterhin auf der Grundlage gemeinsamer Interessen und Sicherheitsanliegen Bündnisse schließen. Angesichts der Schwäche der EU haben einige Staaten das bereits getan: Die Tschechische Republik, Ungarn, Polen und die Slowakei – normalerweise eine unverbundene Gruppe – haben sich zusammengetan, um sich gemeinsam gegen die EU-Pläne zu wehren, die sie dazu zwingen würden, Tausende von Flüchtlingen aufzunehmen.

Es wird Zeit, dass führende US-Politiker und Europas politische Klasse sich bewusst machen, dass eine Rückkehr zu Nationalstaaten in Europa nicht in einer Tragödie enden muss. Im Gegenteil.

Dieser Artikel erschien in der September/Oktober-Ausgabe 2016 der Zeitschrift Foreign Affairs. Eine Erwiderung veröffentlichen wir in den kommenden Wochen an dieser Stelle.