Öffentliches Auftragswesen – nicht wenige dürften hier vor Langeweile abschalten. Dabei sollte der Prozess, mit dem öffentliche Behörden Aufträge für Bauleistungen, Waren oder Dienstleistungen an Unternehmen vergeben, und die Frage, wie unterschiedliche Praktiken den Wettbewerb beeinflussen oder sogar verzerren, im Mittelpunkt der politischen Debatte stehen. Denn Tatsache ist, dass das öffentliche Auftragswesen auch in der EU-Politik eine weitaus größere Rolle spielt, als vielen bewusst ist. Einerseits geht es um riesige Geldsummen: Jedes Jahr geben die EU-Mitgliedstaaten insgesamt etwa zwei Billionen Euro für das öffentliche Auftragswesen aus, etwa 14 Prozent des gemeinsamen Bruttoinlandsprodukts. Andererseits ist das öffentliche Auftragswesen für das Funktionieren unserer Gesellschaft von entscheidender Bedeutung. Es betrifft alle Bereiche – von Energie, Infrastruktur und Verkehr bis hin zu Gesundheit, Reinigung und Abfallwirtschaft. Da so viele Sektoren mit so riesigen Beträgen betroffen sind, kann – und sollte – das Auftragswesen als Instrument in vielen der dringlichsten Politikbereiche eingesetzt werden.

Bedauerlicherweise ist es in der Europäischen Union heute so, dass viel zu viele öffentliche Ausschreibungen ausschließlich auf der Grundlage des niedrigsten Preises vergeben werden. Die Qualität der Dienstleistungen, die Arbeitsbedingungen oder die Umweltauswirkungen werden hingegen nicht berücksichtigt. Laut einer im Auftrag des Europäischen Parlaments durchgeführten Studie haben im Jahr 2021 zehn Mitgliedstaaten 82 bis 95 Prozent  ihrer Ausschreibungen ausschließlich auf der Grundlage des niedrigsten Preises oder der niedrigsten Kosten vergeben. Doch die Logik des günstigsten Angebots ist kurzsichtig. Sie untergräbt die Qualität von Dienstleistungen und Konsumgütern und schadet Angestellten und Unternehmen gleichermaßen: den Arbeitnehmern, weil sie am Ende ungerecht behandelt werden; den Unternehmen, weil es bedeutet, dass diejenigen, die sich an die Regeln halten, einen unlauteren Wettbewerb mit denjenigen riskieren, die ein niedrigeres Angebot abgeben können, weil sie die Regeln brechen.

Die traurige Realität in der EU ist, dass öffentlich finanzierte Projekte immer wieder an Unternehmen vergeben werden, die das Leben ihrer Angestellten gefährden, indem sie grundlegende Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften nicht einhalten, oder an Unternehmen, die ihre Beschäftigten ausbeuten, indem sie ihnen weniger als den geltenden Mindestlohn bezahlen. Die öffentliche Auftragsvergabe schafft einen Anreiz für Unternehmen, sich gegenseitig mit mangelhaften Arbeitsbedingungen zu unterbieten, um die billigsten Dienstleistungen anbieten zu können. Letztlich untergräbt dies den fairen Wettbewerb.

Öffentliche Gelder dürfen nicht zur Finanzierung von Sozialdumping verwendet werden.

Diese Art des unlauteren Wettbewerbs sollte bekämpft und nicht belohnt werden. Öffentliche Gelder dürfen nicht zur Finanzierung von Sozialdumping verwendet werden. Stattdessen sollten Unternehmen finanziert und gefördert werden, die unsere gemeinsamen Regeln und Werte respektieren und gleichzeitig Lösungen für die sozialen und ökologischen Herausforderungen unserer Zeit anbieten. Zwei Billionen Euro können ein wirksames Mittel sein, um die soziale Marktwirtschaft anzukurbeln und das Gesicht der europäischen Volkswirtschaften auf faire und nachhaltige Weise zu verändern. Sie können zu besseren Bedingungen für Millionen von Menschen führen, was dazu beitragen wird, stärkere und widerstandsfähigere Volkswirtschaften für uns alle aufzubauen. Auch der lange erwartete Bericht zur Zukunft des EU-Binnenmarktes stützt unsere Forderung. Darin heißt es, die Vorschriften für das öffentliche Beschaffungswesen müssten sicherstellen, „dass die Verträge die Schaffung hochwertiger Arbeitsplätze fördern, die sich durch faire Löhne und Bedingungen auszeichnen, die durch Tarifverträge untermauert werden“.

Als Politikerinnen und Politiker können wir nicht untätig bleiben. Deshalb haben wir die Europäische Allianz für das öffentliche Auftragswesen ins Leben gerufen, um in der kommenden Legislaturperiode eine Überarbeitung der EU-Vergabevorschriften zu erreichen. Die Europäische Kommission soll wissen, dass die Forderung nach einer Überarbeitung des Auftragswesens breit im politischen Spektrum verankert ist. Bei allen öffentlichen Ausschreibungen sollten Sozialklauseln in der gesamten Auftragskette verbindlich vorgeschrieben werden. Der derzeitige freiwillige Ansatz für deren Anwendung ist nicht ausreichend.

Außerdem sollten öffentliche Ausschreibungen nur an Unternehmen vergeben werden, die Tarifverhandlungen und Gewerkschaften respektieren. Tarifverhandlungen und sozialer Dialog sind das Herzstück des europäischen Arbeitsmodells und der sozialen Marktwirtschaft; das öffentliche Auftragswesen kann dazu beitragen, dies zu fördern. Dies würde den Mitgliedstaaten dabei helfen, eine Tarifverhandlungsquote von 80 Prozent zu erreichen – ein erklärtes Ziel der EU – und bessere Arbeitsbedingungen für mehr Menschen zu schaffen.

Bei allen öffentlichen Ausschreibungen in der gesamten Auftragskette sollen Sozialklauseln verbindlich vorgeschrieben werden.

Außerdem müssen wir den öffentlichen Auftraggebern die Befugnis erteilen, Unternehmen, die Betrug begehen oder gegen Arbeitsrechte verstoßen, von öffentlichen Ausschreibungen auszuschließen. Die Grundlage hierfür bilden die Übereinkommen der Internationalen Arbeitsorganisation über Vereinigungsfreiheit und das Recht auf Kollektivverhandlungen. Es sollte auch eine klare Grenze für die Vergabe von Unteraufträgen bei öffentlichen Ausschreibungen geben. Es gibt viele triftige Gründe für die Vergabe von Unteraufträgen, aber endlose Unterauftragsketten haben keinen anderen Zweck, als die Vorschriften zu umgehen oder anderweitig Betrug zu begehen. Leider ermöglichen Untervergabeketten den Unternehmen immer wieder, sich im Falle von Arbeitsunfällen oder Verstößen gegen das Arbeitsrecht vor der Verantwortung zu drücken.

Berücksichtigt werden muss auch, dass auf dem europäischen Arbeitsmarkt ein Fachkräftemangel herrscht, um die Herausforderungen des grünen und digitalen Wandels zu meistern. Mehr als 75 Prozent der europäischen Unternehmen haben Schwierigkeiten, Arbeitskräfte mit den richtigen Fähigkeiten zu finden. Daher sollten alle öffentlichen Ausschreibungen zweckgebundene bezahlte Praktika und Lehrstellen beinhalten. Auf diese Weise kann das öffentliche Auftragswesen von heute einen Beitrag zur Wirtschaft von morgen leisten.

Wenn es gelingt, das öffentliche Auftragswesen richtig zu gestalten, kann es zu einem mächtigen Instrument werden, das uns bei den politischen Maßnahmen und Initiativen hilft, die wir auf europäischer, nationaler, regionaler und lokaler Ebene beschließen. Wenn dies nicht gelingt, werden weiterhin öffentliche Gelder in Unternehmen gesteckt, die die von uns beschlossenen Maßnahmen aktiv untergraben. Wir wollen ein Europa, in dem das öffentliche Auftragswesen für die Interessen der Bürgerinnen und Bürger arbeitet – und nicht gegen sie.