Verfolgt man die aktuelle deutsche Debatte um Griechenland, gewinnt man den Eindruck, dass die ausschließliche Schuld für die Eurokrise in der verantwortungslosen Schuldenpolitik der Südländer liegt. Und nun sollen die fleißigen, aber dummen Deutschen dafür zahlen. Währenddessen herrscht in Südeuropa die Meinung vor, Deutschland nutze seine wirtschaftliche Stärke, um dem Rest Europas eine Austeritätspolitik aufzuzwingen, die vor allem der deutschen Wirtschaft nützt. Beides ist Unsinn – aber brandgefährlich, wenn es geglaubt wird. Deutsche und südeuropäische Wahrnehmungswelten klaffen weit auseinander. Wenn falsche Wahrnehmungen sich verfestigen, werden sie zur Wirklichkeit. Das scheint die größte politische Gefahr der Eurokrise zu sein.

Natürlich löst es Empörung in Deutschland aus, wenn Angela Merkel mit Hitler und mit politischen Auflagen verbundene Finanzhilfen mit der Wehrmachtsbesetzung verglichen werden. Und in Griechenland ist man berechtigterweise beleidigt, wenn Griechen in deutschen Medien in Bausch und Bogen als faul, korrupt und lügnerisch dargestellt werden und deutsche Politiker sich von außen in den griechischen Wahlkampf einmischen. Diese sich gegenseitig hochschaukelnden Antipathien müssen schleunigst durchbrochen werden. In Deutschland wird die wachsende anti-deutsche Stimmung in vielen Nachbarländern zu leichtfertig als unsinnig und unberechtigt zurückgewiesen. Das birgt die Gefahr einer schleichenden Isolierung Deutschlands und gefährdet deutsches Ansehen und deutschen Einfluss in Europa.

 

Die Eurokrise als europäisches Politikversagen

Die Finanzkrise und die sich daraus entwickelnde Eurokrise ist ein europäisches Politikversagen. Wir alle tragen eine gemeinsame Verantwortung. Die fehlende Finanzmarktregulierung hat verantwortungsloses Leihen und Verleihen ermöglicht, und als es zum Kladderadatsch kam, sahen sich Regierungen genötigt, die Verluste zu sozialisieren, um den Systemzusammenbruch zu vermeiden. Die Kredite an Griechenland waren daher in erheblichem Maße nicht karitativ oder solidarisch motiviert, sondern einem gesunden Eigeninteresse geschuldet. Der Kompromiss war, dass die deutschen Steuerzahler die Last des Ausfallrisikos tragen und die griechischen die Bürde der Zins- und Tilgungsraten. Es ging darum, internationale – auch deutsche und griechische – Banken zu schützen.

Die Kredite an Griechenland waren daher in erheblichem Maße nicht karitativ oder solidarisch motiviert, sondern einem gesunden Eigeninteresse geschuldet.

Die Hilfspakete waren vor allem ein Gläubigertausch. An die Stelle privater Banken traten ausländische Staaten. Das hat den Vorteil, dass die Schuldenproblematik langfristig und politisch sinnvoll gelöst werden kann, ohne einen wirtschaftlichen Kollaps zu riskieren. Diese Chance hat die Politik bisher nicht genutzt.

Von deutscher Seite wurde einseitig die schnelle Konsolidierung öffentlicher Haushalte und die Durchsetzung von Strukturreformen favorisiert. Keine Frage, manche dieser Reformen machen Sinn. Weder Griechenland noch Deutschland brauchen ein Apothekermonopol. Und die steuerliche Privilegierung griechischer Reeder ist ähnlich unsinnig wie das deutsche Steuersparmodell für Schiffsfonds. Doch die Aussteuerung eines Drittels der Bevölkerung aus einer solidarischen Gesundheitsversorgung ist weder sozial, noch wirtschaftlich, noch politisch sinnvoll.

Sicher, Strukturanpassungen sind eine unbestreitbare und ständige Notwendigkeit, um im internationalen Konkurrenzkampf zu bestehen. Doch sie lösen keine wirtschaftliche Dynamik aus, wenn sie parallel zu einem Zusammenbruch der Beschäftigung, einem Kollaps der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage und dem permanenten Risiko von Staatsbankrott und Eurozonenaustritt stattfinden. Insbesondere ist die Hoffnung auf einen schnellen Anstieg von Privatinvestitionen als Motor eines Wirtschaftsaufschwungs unter diesen Bedingungen vollkommen illusorisch. Nicht nur die griechischen Wähler, auch die wirtschaftlichen Realitäten verlangen einen Politikwechsel. Nach einem solchen eindeutigen Wahlentscheid ist der bisherigen Politik die interne Legitimation entzogen. International auf ihrer bedingungslosen Fortsetzung zu bestehen, ist daher nicht zielführend.

Nicht nur die griechischen Wähler, auch die wirtschaftlichen Realitäten verlangen einen Politikwechsel.

Die Wahl in Griechenland ist eine Chance, auf allen Seiten eigene Beurteilungen zu überprüfen und nach gemeinsamen, tragfähigen Lösungen zu suchen. Im Moment sieht es hierfür nicht gut aus. Der verzweifelte Versuch Griechenlands, nationalsozialistische Altschulden zu reklamieren ist politisch nicht sehr aussichtsreich und dürfte das deutsch-griechische Klima noch weiter belasten. Solchen Verzweiflungstaten begegnet man am besten mit sinnvollen Vorschlägen. Deutschland hat fast alle Trumpfkarten in der Hand. Aus dieser Position der Stärke heraus ist Flexibilität und Kompromissbereitschaft ein Gebot der politischen Klugheit.

Ein europäisches Investitionsprogramm für Griechenland und ein Schuldenmoratorium bis die griechische Volkswirtschaft wieder das Niveau von 2010 erreicht hat, könnten der griechischen Wirtschaft entscheidend helfen, wieder auf die Beine zu kommen. Deutsche Bürgschaften für private deutsche Direktinvestitionen in Griechenland könnten zusätzlich helfen, die notwendige Investitionsdynamik zu fördern. Diese Schritte bedeuten nicht, auf sinnvolle und notwendige Strukturanpassungen zu verzichten. Im Gegenteil, sie bedeuten, diese überhaupt erst möglich zu machen. Eine solche mutige Ergänzung bisheriger deutscher Griechenlandpolitik würde nicht nur das Ausfallrisiko für griechische Anleihen reduzieren, sondern eine politische Rendite abwerfen, die unbezahlbar wäre.