Jüngst hat EZB-Präsident Mario Draghi im beschaulichen US-Ferienort Jackson Hole den versammelten Zentralbankern dieser Welt in nur einer Abbildung die Misere des Euroraums gezeigt: Sowohl in den USA als auch in Europa war die Arbeitslosigkeit nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 sprunghaft gestiegen. Während sie in den USA aber seit Mitte 2009 stetig fällt, steht der Euroraum heute vor einer Rekordarbeitslosigkeit. 2008 konnte sich die Politik noch damit herausreden, dass die Krise Europa wie einen Schock traf. Seit 2010 geht das nicht mehr. Das Ausmaß der Krise ist vollkommen unnötig – und es ist hausgemacht.
Falsche Krisenanalyse
Das liegt an der völlig falschen Krisenanalyse, die den Fokus auf die Staatsschulden legt. Aus Angst vor der angeblich zu hohen Verschuldung haben die Staats- und Regierungschefs unter den unverständlichen Titeln „Six-Pack“, „Two Pack“ und „Fiscal Compact“ die Neuverschuldung der Staaten immer weiter erschwert. Gleichzeitig erklärten sie die Verringerung der Staatsschulden in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit und Verelendung zur obersten politischen Priorität. Mit dem „Fiscal Compact“ sollen die Staaten der Staatsschuldenverringerung sogar Verfassungsrang geben. Der Tenor: Die hohen Staatsschulden hätten zur Eurokrise geführt, sie abzubauen würde Europa vor neuen Finanzkrisen schützen. Diese Analyse ist nicht nur grundfalsch, sondern die darauf beruhenden neuen Fiskalregeln haben Europa auch zur Dauerstagnation verurteilt.
Wären die Staatsschulden an allem schuld gewesen, wäre Deutschland jetzt im Würgegriff der Krise und Irland und Spanien im ökonomischen Schlaraffenland.
Warum ist die Analyse falsch? Weil der Anstieg der Staatsschulden nicht Ursache, sondern Folge der Krise war: Im Vorkrisenjahr 2007 lagen die Staatsschulden Irlands noch bei 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und diejenigen Spaniens bei 36 Prozent und somitweit unter den 60 Prozent, die die Maastrichter Schuldenregeln vorsehen und noch weiter unter der Staatsschuldenquote Deutschlands von 65 Prozent! Wären die Staatsschulden an allem schuld gewesen, wäre Deutschland jetzt im Würgegriff der Krise und Irland und Spanien im ökonomischen Schlaraffenland. Dabei bildete Griechenland mit seinem Schuldenstand von 105 % im Jahr 2007 die Ausnahme, nicht die Regel.
Überall in Europa stiegen die Staatsschulden erst durch die Krise an. Viel entscheidender als die Konjunkturpakete waren dafür die Bankenrettungen. Allein zur Rettung der Banken hat der deutsche Staat seine Schuldenstandquote bis 2010 um 15,7 Prozentpunkte gesteigert, Griechenland seine um 27 Prozentpunkte und Irland um ganze 124 Punkte! Um den Zusammenbruch des Finanzsystems zu verhindern, haben die Staaten die Bankschulden also sozialisiert. Die Banken waren aber nicht deswegen in Schwierigkeiten geraten, weil sie den Staaten zu viel Geld geliehen hatten, sondern dem Privatsektor. In Spanien lag die Verschuldung der privaten Unternehmen 2010 bei 263 Prozent des BIP, in Portugal bei 260 Prozent und in Irland bei fast 400 Prozent – in den meisten der heutigen Krisenländer waren somit die privaten, nicht die staatlichen Schulden Auslöser der Krise.
Als die Krise zuschlug und die Kredite knapper wurden, mussten die Unternehmen schnell ihre Schulden reduzieren. Das taten sie vor allem, indem sie ihre Kosten durch Entlassungen und Investitionsstreichungen senkten. Die Entlassungen und Lohnsenkungen führten dazu, dass Arbeitnehmer weniger kauften, was zum Zusammenbruch der Umsätze anderer Unternehmen führte, die wiederum ihre Investitionen und Beschäftigung verringern mussten: ein Teufelskreis. Das traf auch den Staat: Wer pleite und arbeitslos ist, zahlt nun mal keine Steuern, erhält aber Arbeitslosenhilfe. Staatliche Defizite und Schulden stiegen ab 2008. So stabilisierten die Konjunkturpakete 2009 und 2010 die Eurowirtschaft, denn die Regierungen steigerten ihre Ausgaben, als Unternehmen und Arbeitslose sie senkten.
Gigantische Schuldenberge
Der plötzliche Schwenk der europäischen Wirtschaftspolitik von der sinnvollen Konjunkturstützung zum destruktiven Schuldensenkungsfetisch um jeden Preis brachte dann alles zum Zusammenbruch. Unternehmen und private Haushalte konnten ihre gigantischen Schuldenberge nicht in nur zwei Jahren abbauen – sie hätten mehr Zeit und mehr staatliche Unterstützung gebraucht. Mit der Austeritätspolitik brach die europäische Wirtschaft dann richtig ein – und dazu noch die Banken: Weil Unternehmen reihenweise wegen fehlender Umsätze Bankrott gehen, müssen die Banken ihre Forderungen abschreiben und machen riesige Verluste. Banken wurden ab 2011 nicht mehr deswegen gerettet, weil sie sich auf dem US-Hypothekenmarkt verspekuliert hatten, sondern weil ihre heimischen Gläubiger ausfielen.
Dabei kann die krasse Austeritätspolitik selbst ihr eigenes Ziel, nämlich die Senkung der Staatsschulden, gar nicht erreichen: Der Politik geht es vor allem um die Senkung der Schuldenstandquote – also der staatlichen Schulden in Prozent des BIP. Wenn aber das BIP durch die per Austerität verschärfte Krise zusammenbricht, steigt die Schuldenstandquote von ganz allein – selbst wenn die Staaten gar keine Defizite hätten. Besonders hart hat das Griechenland getroffen. Dessen Staatsschuldenquote ist zwischen 2011 und 2013 allein wegen des zusammenbrechenden Wachstums um 33 Prozentpunkte gestiegen.
In der Eurokrise werden nicht nur die Fehler der 1930er Jahre wiederholt, sondern noch viel schlimmere gemacht.
In der Eurokrise werden nicht nur die Fehler der 1930er Jahre wiederholt, sondern noch viel schlimmere gemacht. Im Extremfall Griechenland ist das BIP seit der Krise nunmehr stärker gefallen als in der Weimarer Republik, was damals Hitlers Machtergreifung den Weg bereitet hatte. Mittlerweile ist auch die Wirtschaftsleistung der ganzen Eurozone mehr gefallen als in vielen anderen Ländern in den 1930er Jahren.
Damals hatte die Politik noch die Ausrede, dass sie keine Ahnung von den Mechanismen der Wirtschaft hatte. Damit kann sie sich heute nicht mehr herausreden. Die europäische Politik stürzt den Kontinent blind in den wirtschaftlichen Abgrund. Mehr noch: Der kontraproduktive Fetisch, die Regeln zur Reduzierung der Staatsschulden noch zu verschärfen und in allen Verfassungen der Euroraummitglieder zu verankern, perpetuiert die Depression. Das wird politische Konsequenzen haben.





3 Leserbriefe
1. waren die Aktivitäten auf spekulativen Märkten der Finanz- und der Realwirtschaft (Immobilien!) und die damit verbundene private Verschuldung zwar unmittelbare Auslöser der Krise 2007 ff, doch stand daneben in einigen Ländern eine auch vor der Krise schon hohe oder überbordende Staatsverschuldung. Und: Die Überschuldung privater Haushalte durch Immobilienkäufe ist in einigen Ländern – etwa in Spanien - durch staatliche Anreize gefördert worden.
2. Herr Lindner nennt einzig Griechenland als "Ausnahmefall" hoher Staatsverschuldung, verschweigt aber weitere Länder wie Italien, Portugal und Frankreich. Eben nicht „überall in Europa stiegen die Staatsschulden erst durch die Krise an“: Einige Länder hatten die nach Einführung des Euro sinkenden Zinssätze nicht für den Abbau des Schuldenstandes genutzt, sondern für die Ausweitung schuldenfinanzierter Staatsausgaben.
3. Ebensowenig geht der Autor auf die Strukturprobleme der Länder mit Wirtschaften, die auf den Weltmärkten nicht wettbewerbsfähig sind, ein. Diese Probleme bestanden schon vor Ausbruch der Weltfinanzkrise 2007, erschwerten extrem eine Bewältigung der Krise und trugen entscheidend zu Abwärtsspiralen bei.
4. Bei der Politik der EU und der wirtschaftlich erfolgreicheren Länder zur Eindämmung der Staatsschulden geht es nicht um eine falsche Ursachenanalyse, wie Herr L. meint, sondern um eine Strategie zur Bewältigung der Krisenfolgen: die Mitgliedstaaten sollen ertüchtigt werden, mit gestärkter Wirtschaft und auf niedrigerem Schuldenniveau in Zukunft Krisen besser bekämpfen zu können.
Mit seinem Beitrag beteiligt sich Herr Lindner lediglich am ach so beliebten Verelendungsdiskurs. Dass die Überschrift O-Ton Linkspartei ist, überrascht da kaum. Die historisch unausgewiesene Analogie zu den 1930er Jahren mit der dunklen Drohung einer Wiederholung der damaligen Entwicklung zum Nationalsozialismus setzt diesem Populismus noch die Krone auf.
Dr. Winfried Heidemann, Düsseldorf