Am 9. April hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in einem wegweisenden Urteil die Schweiz wegen ihrer klimapolitischen Untätigkeit verurteilt. Das Gericht in Straßburg wertete die unzureichenden Bemühungen der Schweiz, ihre nationalen Treibhausgasemissionen zu reduzieren, als Verletzung der Menschenrechte von mehr als 2 000 älteren Schweizerinnen.

In der Klimapolitik steht ohne Frage sehr viel auf dem Spiel. Rechtsstaatlichkeit und eine starke Justiz sind wiederum wesentliche Grundlagen für eine intakte liberale Demokratie. Klar, die Gefahren eines reinen Mehrheitssystems, in dem der Wählerwille ungeprüft umgesetzt wird, sind uns hinlänglich bekannt. Doch mittlerweile überlassen wir es zu sehr den Gerichten, Politik unmittelbar zu gestalten. Der EGMR hat sich mit seiner Entscheidung auf bedenkliche Weise in eine Angelegenheit eingemischt, für die in erster Linie die Wählerinnen und Wähler zuständig sein sollten.

Der französische Philosoph Montesquieu vertrat im 18. Jahrhundert die Ansicht, Richter sollten „der Mund des Gesetzes“ sein, sprich: Sie sollten sich an das schriftlich niedergelegte Gesetz halten. Denn Richterinnen und Richter werden nicht gewählt. Die Legitimität ihrer Entscheidungen gründet sich auf Gesetze und Verfassungen, die vom Volk und seinen Vertreterinnen und Vertretern beschlossen wurden. Natürlich können die Gerichte in der Klimapolitik aktiv werden und tun das auch regelmäßig. Dies muss jedoch auf der Grundlage von Gesetzen und Verfassungsänderungen geschehen, die zuvor von Parlamenten verabschiedet wurden. Was wir jetzt beim EMGR erleben, ist eine schleichende Ausweitung seines eigentlichen Auftrags – ohne unmittelbare Grundlage in Form von Rechtstexten.

Schauen wir uns die Argumentationsweise des Straßburger Gerichtshofs an. Im Fall der Schweiz befand der EGMR, das Land habe gegen Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen. Nun könnte man annehmen, es gehe in diesem Artikel um Klimapolitik. Tatsächlich aber besagt  Artikel 8, dass „jede Person das Recht auf Achtung ihres Privat- und Familienlebens, ihrer Wohnung und ihrer Korrespondenz“ hat. Unter Berufung auf diesen Artikel macht der Europäische Gerichtshof geltend, ältere Menschen seien am stärksten vom Klimawandel und insbesondere von Hitzewellen betroffen und ihr Leben werde dementsprechend beeinträchtigt. (Nebenbei, die Lebenserwartung Schweizer Frauen über 80 ist seit 1990 deutlich gestiegen.)

Die Entscheidung des EGMR macht deutlich, dass Demokratien immer mehr versucht sind, in aristokratischer Manier den komplizierten und vertrackten Prozess der Wahldemokratie zu umgehen.

Diese Argumentation ist in mehrfacher Hinsicht problematisch. Der vom Gericht hergestellte Zusammenhang mit dem Klima steht – gelinde gesagt – auf äußerst schwachen Füßen und wäre von den Erstunterzeichnern der Menschenrechtskonvention wahrscheinlich belächelt worden. Wir sollten uns vor Augen halten, dass die Konvention ausdrücklich zum Schutz der Rechte des Einzelnen verfasst wurde, während die jetzige Entscheidung des EGMR de facto unter Berufung auf das Gemeinwohl auf einen Politikwechsel drängt. Man kann natürlich geltend machen, dass das Gemeinwohl wichtig ist – einschließlich des Wohls, in einer Welt ohne Klimawandel zu leben. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Konvention nicht für diesen Zweck geschaffen wurde.

Die Entscheidung des EGMR macht deutlich, dass Demokratien immer mehr versucht sind, in aristokratischer Manier den komplizierten und vertrackten Prozess der Wahldemokratie zu umgehen, indem sie die Politik so weit wie möglich von der Wählerschaft fernhalten und sie Fachleuten anvertrauen. Hinter der Argumentationslinie des EGMR steht die Vorstellung, Rechtsdokumente seien „lebende Instrumente“ (Living Instruments), die von Richterinnen und Richtern neu interpretiert werden müssen, damit sie dem Wandel der Zeiten Rechnung tragen.

Der EGMR bezieht seine Legitimität jedoch aus der Konvention, die von den nationalen Parlamenten der Mitglieder des Europarats ratifiziert wurde. Wenn die Living Instrument-Doktrin zu weit getrieben wird, schwächt das die Legitimität des EGMR – zumal in einer Zeit, in der einige Länder die Entscheidungen des EGMR ignorieren und andere über einen Austritt diskutieren. Die Versuchung, den politischen Spielraum der Wahldemokratie immer weiter einzuschränken, bringt das Risiko mit sich, dass autoritäre Stimmen, die sich einen starken Mann wünschen, der über Parlamente oder Gerichte hinweggeht, an den politischen Rändern gestärkt werden.

Der Fall der Schweiz ist nahezu ein Paradebeispiel für den Konflikt zwischen nicht gewählten Institutionen und dem Willen der Wählerinnen und Wähler. Auf dieses Spannungsverhältnis wies die britische Anwältin Jessica Simor, die die Schweizer Frauen vertrat, ausdrücklich hin: „Dieser Konflikt tritt immer wieder auf: Auf der einen Seite ein Demokratieverständnis, das allein den Volkswillen gelten lässt, und auf der anderen Seite die Position, dass Demokratie mit grundlegenden und universellen Rechten einhergeht, die essenziell sind und nicht davon abhängen, was die Mehrheit entscheidet.“

Statt zu schmollen und die Schweizer Wählerinnen und Wähler zu beschimpfen, machte sich das Parlament noch einmal an die Arbeit.

Doch das Schweizer Modell zeigt, dass man dem Volk durchaus zutrauen darf, sich mit komplexen Gesetzesvorlagen auseinanderzusetzen. Die Schweizerinnen und Schweizer nehmen die Klimapolitik zweifellos ernst und haben in den letzten drei Jahren gleich zweimal per Referendum über den Klimaschutz abgestimmt: 2021 und 2023. Der erste Gesetzentwurf zum Klimaschutz, der auf Netto-Null-Emissionen bis 2050 abzielte und eine Abgabe auf Autokraftstoffe sowie eine Steuer auf Flugtickets vorsah, wurde 2021 von der Wählerschaft knapp abgelehnt, weil viele Bürgerinnen und Bürger befürchteten, sie müssten die Kosten für die Netto-Null-Politik tragen.

Statt zu schmollen und die Schweizer Wählerinnen und Wähler zu beschimpfen, machte sich das Parlament noch einmal an die Arbeit und legte einen neuen Gesetzesentwurf vor. Auch dieser hatte die Netto-Null-Emissionen bis 2050 zum Ziel, enthielt aber statt neuer Steuern oder Verbote verschiedene Anreize. Dieser neue Gesetzesentwurf, mit dem die Schweiz ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Klimaabkommen von 2015 nachkommt, wurde von den Schweizern im vergangenen Sommer mit überwältigender Mehrheit angenommen. Die Schweiz verkörpert mit ihren vielen Volksabstimmungen ein kurioses und eigenwilliges Politikmodell. Doch es führt umweltbewussten Gesetzgebern und Aktivistinnen weltweit vor Augen, dass Wählerinnen und Wähler sehr wohl in der Lage sind, sich ernsthaft mit wichtigen politischen Fragen auseinanderzusetzen, wenn man sie wie mündige Menschen behandelt.

Noch ein Wort zum EGMR: Er läuft Gefahr, seinem Ruf und den hohen Idealen, für die die Europäische Menschenrechtskonvention steht, erheblichen Schaden zuzufügen. Der einzige Richter des EGMR, der eine abweichende Meinung vertrat, war Tim Eicke. Er bringt diese Besorgnis sehr deutlich auf den Punkt: „Ich kann nachvollziehen, dass man den menschengemachten Klimawandel als etwas sehr Reales und seine Bekämpfung als dringend notwendig empfindet, und teile diese Meinung. Aber ich befürchte, dass die Richtermehrheit mit diesem Urteil den legitimen und zulässigen Handelsrahmen des Gerichtshofs überschritten und damit leider vielleicht genau das Gegenteil dessen erreicht hat, was eigentlich intendiert war.“

Dieser Artikel erschien zuerst im US-Onlinemagazin  Persuasion.

Aus dem Englischen von Christine Hardung