Das Geheimnis um die britischen Forderungen für einen Verbleib in der EU ist endlich gelüftet. Nachdem George Osborne, in seinem Amt britischer Schatzkanzler, bereits die Konturen eines möglichen Reformpakets vergangene Woche in Berlin vorzeichnete, hat David Cameron dem Verbleib Großbritanniens in der Union am Dienstag ein Preisschild umgehängt. In einer Rede im Chatham House, einem Londoner Thinktank, und in einem Brief an EU-Ratspräsidenten Donald Tusk präsentierte er eine Liste von Reformvorschlägen. Demnach soll die EU die Freizügigkeit beschränken, den Wettbewerb stärken, keine Nicht-Euro-Länder benachteiligen und Großbritannien nicht weiter mit dem Bindungsprinzip einer „ever closer union“ belästigen.

Die politische Strategie der Konservativen ist simpel und nach dem Vorbild des EU-Referendums 1975 unter Labour-Premier Harold Wilson gestrickt. Es wird erst mit den Mitgliedstaaten über EU-Reformen verhandelt, bevor die Briten in einer „in-out“ Volksabstimmung ihr Votum abgeben. Das Angebot Cameron’s an seine EU-Partner ist, dass er bei Erfüllung der Bedingungen sein politisches Gewicht in die Waagschale legen wird, um die Volksabstimmung zu „ihren Gunsten“ zu entscheiden und „Brexit“ zu verhindern.

Doch genau in dieser Schlusslogik verbirgt sich die Gefahr. Eine Mehrheit in der Volksabstimmung erscheint keineswegs als gesichert, zu unübersichtlich ist die politische Landschaft und zu ungewiss das Ergebnis der Verhandlungen. Es gibt wenig Zweifel daran, dass Cameron Großbritannien in der EU halten möchte, denn die Folgen und Kosten eines Austritts sind schwer abzuwägen und überwiegen laut Meinung vieler Experten die Vorteile eines in Europa isolierten „Little Britain“. Großbritannien würde nicht nur seine politische Gestaltungskraft in der EU verlieren, es müsste auch weiterhin den Richtlinien aus Brüssel folgen und zusätzlich alle Verträge mit der EU neu verhandeln, um freien Zugang zum gemeinsamen Binnenmarkts zu haben. Und um den geht es Cameron und den mächtigen Lobbyverbänden der Wirtschaft, die die „in“-Kampagne großzügig unterstützen.

Die Befürworter und Gegner der EU liegen nur wenige Prozentpunkte auseinander. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov ermittelte einen hauchdünnen Vorsprung von 2 Prozent der EU-Gegener und laut Ipsos MORI schmolz der Vorsprung der EU-Befürworter von 34 Prozent im Juni 2015 auf 13 Prozent im September 2015, etwa ein Fünftel bleibt unentschlossen. 

Nur am rechten Rand ist alles klar.

Die ambivalente Stimmung in der Öffentlichkeit reflektiert allzu gut die politische Fragmentierung von Parteien, Verbänden und NGOs. Bruchlinien verlaufen nahezu durch alle politischen Lager der Befürworter und Gegner des Referendums. Nur am rechten Rand ist alles klar. Die UK Independence Party mit ihrem charismatischen Vorsitzenden Nigel Farage wird alles daran setzen, um die Insel aus der EU zu lotsen. Ihnen ist die EU zu bürokratisch, teuer und migrationsfreundlich.

In den Reihen der Konservativen sympathisieren dutzende Abgeordnete, etwa 100 an der Zahl, mit dieser anti-europäischen Haltung. In einer hitzigen Debatte im Unterhaus am Dienstag haben einige der rebellischen Hinterbänkler Cameron vorgeworfen, dass die Forderungen nicht weit genug gehen und ohne Änderung der EU-Verträge nicht möglich sind, vor allem nicht beim Thema Migration. Dieses bleibt der wunde Punkt der Konservativen, denn der Zuzug von EU-Migranten hat UKIP den Nährboden für populistische anti-EU Polemik und knapp 13 Prozent der Stimmen in der Unterhauswahl im Mai 2015 beschert. Nur dem Mehrheitswahlsystem ist es zu verdanken, dass UKIP mit nur einem Abgeordneten im Parlament vertreten ist. Viele konservative Abgeordnete wollen kein Risiko eingehen und möglicherweise 2020 schon ihre Sitze an UKIP verlieren.

Nicht nur innenpolitisch ist die Debatte um die Beschränkung der Freizügigkeit das wichtigste Thema. Es stellt zugleich den heikelsten europapolitische Reformpunkt auf Cameron’s Liste dar. Die EU-Partner, allen voran Deutschland, haben immer wieder darauf verwiesen, dass dieses Grundprinzip nicht „verhandelbar“ sei, auch wenn es sich im Kern „nur“ um eine vierjährige Beschränkung zum Zugang zu Sozialleistungen für EU-Migranten in Großbritannien handelt. Ob Cameron parteiinterne Rebellen von seiner causa überzeugen kann, wird maßgeblich von dem Ergebnis der Verhandlungen bei der Beschränkung von Wohlfahrtsleistungen für Migranten abhängen. Ohne eine Änderung der Verträge erscheint eine Reform dieser Kernforderung jedoch kaum machbar, denn dafür fehlen der EU derzeit die politischen Ressourcen und vor allem Zeit. Cameron will das Referendum bereits im Herbst 2016 abhalten, möglichst noch vor 2017, wenn in Deutschland und Frankreich nationale Wahlen anstehen.

Labour sieht sich gezwungen, die konservative Agenda einer "in"-Kampagne in Teilen mitzutragen.

Ähnlich schwierig ist die Lage für pro-europäische Kräfte. Durch die von Cameron vorgegebenen Bedingungen ergibt sich für sie ein Paradox. Einerseits verstehen Labour, Liberal Democrats und Gewerkschaften die EU nicht nur als freien Binnenmarkt und „Mittel zum Zweck“, sondern verbinden mit ihr auch ein sozialeres Europa, eine gemeinsame Außen-, Integrations- und Umweltpolitik sowie gemeinsame Grundwerte wie Solidarität, Freiheit  und Gleichheit. Andererseits sehen sie sich gezwungen, die konservative Agenda einer "in"-Kampagne in Teilen mitzutragen, denn diese wird in Öffentlichkeit und Medien nach den Verhandlungen präsent sein. Für sie besteht also die Gefahr, dass sie am Ende auf Cameorn´s "EU light" reduziert werden und als politische Verlierer dastehen. Daher rührt vor allem noch das derzeitige Zögern des neuen Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn ein klares Bekenntnis für Europa abzugeben, denn eigentlich will man auch ein anderes Europa, jedoch ein sozialeres kein flexibleres wie es die Konservativen wollen.

Die Unentschlossenheit von Labour spielt den Europaskeptikern jedoch in die Karten, deren gut finanzierte Kampagnen bereits auf Hochtouren laufen. Es wird aller Voraussicht nach bis zum letzten Tag spannend bleiben, denn die Befürworter eines Verbleibs in der EU werden nicht gemeinsam an einem Strang ziehen. Ein Ausscheiden Großbritanniens hätte verheerende, unabsehbare politische und wirtschaftliche Folgen, welche nicht nur den Sonderstatus der Insel in Europa auf Dauer zementieren, sondern auch den Zusammenhalt Großbritanniens gefährden würden. Die SNP hat bereits angekündigt, dass im Falle von "Brexit" ein weiteres Referendum über die schottische Unabhängigkeit zur Debatte stehen würde. Schließlich wollen die Schotten Teil der EU bleiben. Auch im Falle eines Bekenntnisses der Briten zur EU wird die "britische Frage" nicht verschwinden, denn dafür bedürfte es neben allem Pragmatismus auch ein emotionales Bekenntnis für Europa. Dazu ist man jedoch in Großbritannien noch meilenweit entfernt.

Lesen Sie hier die aktuelle Studie von Roger Liddle und Florian Ranft zum Thema "Brexit - Was für die EU und Großbritannien auf dem Spiel steht".