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Wohl kaum eine Idee elektrisiert die Menschen gerade so sehr wie das Grundeinkommen. In der Lebenswelt der Arbeiterbewegung stößt dieses Umverteilungsinstrument zwar auf großes Misstrauen. Dennoch lohnt es, sich intensiver mit der Diskussion um das Grundeinkommen auseinanderzusetzen: Man kann sie getrost als erste Großdebatte des 21. Jahrhunderts bezeichnen. Was verstehen wir unter Arbeit in einer Welt voller Maschinen? Wie gestalten wir das Verhältnis zwischen Markt und Staat? Wie organisieren wir gesellschaftlichen Zusammenhalt bei wachsender Ungleichheit? Eine kluge Positionierung der Sozialdemokratie in diesen Fragen kann auch dazu beitragen, möglichst schnell ihre Rolle im digitalen Kapitalismus zu klären. Und letzteres ist für die Sozialdemokraten eine Frage des politischen Überlebens.

In der öffentlichen Debatte um das Grundeinkommen geht oft verloren, dass sich hinter dem Begriff die unterschiedlichsten Konzepte verbergen. Soll das Grundeinkommen lediglich die Existenz sichern, dann wäre es kaum mehr als eine umgetaufte Sozialhilfe. Oder soll es so üppig ausfallen, dass es die Empfänger vom Druck, ihren Lebensunterhalt zu erwirtschaften, gleich ganz entbindet? Ähnlich dramatisch unterscheiden sich die Finanzierungsvorschläge. Sollen die Wenigen, etwa die Kapitalbesitzer, herangezogen werden, oder trägt am Ende doch die Allgemeinheit der Steuerzahler die Hauptlast? Wird das Grundeinkommen als zusätzliches Sicherheitsnetz in den Sozialstaat eingezogen, oder sollen die solidarischen Sozialsysteme zur Gegenfinanzierung beschnitten werden? Offensichtlich hängt das Für und Wider ganz entscheidend davon ab, über welche Konstruktion des Grundeinkommens man eigentlich redet.

Die seltsamen Diskursallianzen in der Debatte um das Grundeinkommen haben sich quer zum politischen Spektrum der alten Industriegesellschaft gebildet.

Bemerkenswert an der Debatte um das Grundeinkommen sind erstens die überraschenden Allianzen, die sich quer zum politischen Spektrum der alten Industriegesellschaft gebildet haben. Unter den Befürwortern finden sich Digitalunternehmer, die Konsumnachfrage für die „Welt ohne Arbeit“ generieren wollen, neben Marxisten, die vom Ende der „entfremdeten Arbeit“ und dem Beginn der „Freizeitgesellschaft“ träumen. Neoliberale Korruptionsbekämpfer, die in den bedingungslosen Direktzahlungen die Chance wittern, den verhassten Bevormundungsstaat zurückzuschneiden, schreiten Seit' an Seit' mit linken Sozialstaatsverteidigern, welche die Befreiung von der entwürdigenden Bedarfsprüfung als Todesstoß für die Hartz IV Bürokratie herbeisehnen. Optimistische Utopisten preisen das emanzipatorische Potential des Grundeinkommens, während pessimistische Dystopisten es als letzte Chance begreifen, um den Lebensunterhalt der Menschen in einer Welt voller Maschinen zu sichern. Linkslibertäre Kosmopoliten fordern das bedingungslose Grundeinkommen, um die Verhandlungsposition der Individuen auf dem Arbeitsmarkt zu stärken, während wertkonservative Kommunitaristen den Zusammenhalt der Gemeinschaft durch das soziale Grundeinkommen stärken wollen. 

Unter den Gegnern des Grundeinkommens finden sich viele Gewerkschafter, die hinter dem „trojanischen Pferd“ die Sparkommissare wittern, die es endgültig auf die letzten Reste des Wohlfahrtstaates abgesehen hätten. Die Lordsiegelbewahrer der Schwarzen Null wiederum sehen in demselben Konzept nur einen durchsichtigen Vorwand für die ruinöse Ausweitung des ineffizienten Umverteilungsstaates. Umverteilungssozialisten machen jedoch gerade gegen diese befürchtete „gigantische Verschwendung von Steuergeldern“ mobil, um sie anderweitig effizienter einsetzen zu können. Die Vorstellung, dass die „hart Arbeitenden“ die „faulen Tagediebe“ finanzieren sollen, verletzt in gleichem Maße die Grundwerte sozial Konservativer, liberaler „Leistungsträger“ und stolzer Facharbeiter.

Diese seltsamen Diskursallianzen liegen quer zum alten Links-Rechts-Schema. Im Industriekapitalismus wurde vor allem um die Verteilung materieller Güter gerungen. Dabei prallten die „Linken“, die den Staat zur Durchsetzung von Gleichheit und Gerechtigkeit nutzen wollten, auf die „Rechten“, die das freie Spiel der Marktkräfte als idealen Ausdruck der Leistungsgerechtigkeit verstanden. Konkret ging es in den Auseinandersetzungen um materielle Dinge wie Löhne, Arbeitnehmerrechte und Sozialleistungen. In der neoliberalen Hegemonie des Finanzkapitalismus wurden diese materiellen Verteilungskonflikte zugunsten kultureller Anerkennungskonflikte fast vollständig auf Eis gelegt. Nun fochten Libertäre für die Emanzipation der Individuen, während Autoritäre sich um die Bewahrung traditioneller Werte und Hierarchien sorgten. Konkret gestritten wurde um kulturelle Dinge wie die Homo-Ehe, Abtreibungen oder Kopftuchverbote.

Eigentlich sollte man erwarten, dass die Debatte um das Umverteilungsinstrument Grundeinkommen entlang der materiellen Verteilungsachse ausgefochten würde. In der politischen Debatte scheiden sich Befürworter und Gegner jedoch entlang der kulturellen Anerkennungsachse. Damit liegt sie scheinbar voll im Trend der Zunahme kultureller Konflikte zwischen Kosmopoliten und Kommunitaristen, Modernisierungsbefürwortern und Modernisierungsskeptikern, oder schlicht zwischen „Anywheres“ und „Somewheres“.

Um ihr politisches Überleben zu sichern, muss die Sozialdemokratie so schnell wie möglich ihre Rolle im digitalen Kapitalismus klären.

Die Debatte um das Grundeinkommen ist aber mehr als die Fortsetzung der Kulturkämpfe des Finanzkapitalismus. Das Charakteristische an den ersten politischen Scharmützeln des digitalen Kapitalismus ist vielmehr die Rückkehr der Verteilungskonflikte im kulturellen Gewand. Die Verquickung aus kulturellen und materiellen Motivationen findet sich auch in den anderen großen Auseinandersetzungen unserer Zeit, von der Flüchtlingskrise über die Geschlechterfrage bis zur Krise Europas. Auch in diesen Konflikten geht es um die Verteilung materieller Dinge. Als Gegner werden aber nicht mehr „die Kapitalisten“ wahrgenommen, sondern „die Anderen“. Es ist, als hätten die Verlierer des Kapitalismus die Hoffnung auf eine grundlegende Veränderung des Systems längst aufgegeben und kämpften nur noch mit den kulturell als anders Definierten um ein Stück vom immer kleiner werdenden Kuchen. Es spricht vieles dafür, dass es genau diese Kulturalisierung der Verteilungskonflikte ist, die die politischen Auseinandersetzungen des digitalen Kapitalismus prägen wird.

Davon profitieren zunächst die Rechtspopulisten, die es verstehen, auf der Klaviatur der Identitätspolitiken zu spielen. Die Kräfte der politischen Linken dagegen verkämpfen sich wieder einmal in alten Grabenkämpfen. Die einen sehen in den berechtigten Verteilungsinteressen der Globalisierungsverlierer nur den „latenten Rassismus und Sexismus der alten, weißen Männer“. Die anderen tun die emanzipatorischen Kämpfe um die Anerkennung kultureller Identitäten als „postmoderne Ablenkung von den eigentlichen Interessen der Arbeiterklasse“ ab. Dieses Entweder-Oder führt aber auf die falsche Fährte. Das Charakteristische an der politischen Formation des digitalen Kapitalismus ist es vielmehr gerade, dass Verteilungsfragen im kulturellen Gewand ausgetragen werden. Wer das nicht versteht, verliert entweder die Anschlussfähigkeit im kulturell kodierten Diskurs, oder, schlimmer noch, versucht die Rechtspopulisten autoritär zu übertrumpfen. Wer sich so weit am linken oder libertären Rand des politischen Spektrums positioniert, darf sich dann nicht wundern, wenn diese Positionen im politischen Meinungskampf kaum Gehör finden. Die Rolle der Sozialdemokratie ist es also, progressive Projekte zu konstruieren, ohne Verteilungsgerechtigkeit und Anerkennungsgerechtigkeit gegeneinander auszuspielen. Mit anderen Worten: Es geht nicht entweder um „Gleichheit“ oder um „Emanzipation“, sondern um konkrete Angebote, wie sich diese beiden progressiven Kernwerte miteinander verbinden lassen.

Um ihr politisches Überleben zu sichern, muss die Sozialdemokratie also so schnell wie möglich ihre Rolle im digitalen Kapitalismus klären. Die Debatte um das Grundeinkommen kann sehr hilfreich dabei sein, möglichst viel über die neue politische Formation zu lernen. Warum zum Beispiel stößt dieses Umverteilungsinstrument, auf das so viele Menschen große Hoffnungen setzen, gerade in der sozialdemokratischen Lebenswelt auf vehemente Ablehnung? Vieles spricht dafür, dass es dabei um kulturelle Werte geht. Das bedingungslose Grundeinkommen widerspricht dem Gerechtigkeitsempfinden und der Identität der Arbeiterbewegung („Arbeiten muss sich mehr lohnen als nicht arbeiten“).

Gerade am Grundeinkommen lässt sich aber auch exemplarisch vorführen, wie sich aus einem problematischen Instrument ein Politikangebot formen lässt, das auf die kulturellen Besonderheiten der sozialdemokratischen Lebenswelt zugeschnitten ist. Es ist beispielsweise sehr wohl mit den Grundwerten der Arbeiterbewegung vereinbar, all diejenigen zu entlohnen, die aktiv einen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Genau hier setzt das Konzept des solidarischen Grundeinkommens an, das jenseits der existentiellen Grundsicherung Beiträge zum Gemeinwohl besonders entlohnt. Die Erziehung der Kinder und die Pflege der Alten werden also ebenso als Arbeit anerkannt wie die Schaffung von Kultur und die Bewahrung von Erinnerung.

Sicherlich wird es einiges an Überzeugungskraft kosten, solcherlei Beiträge als „Arbeit“ anzuerkennen, die nicht dem Normalarbeitsverhältnis entsprechen. Um in der Welt der Roboter und Algorithmen zu überleben, muss die Sozialdemokratie aber ohnehin ihren Arbeitsbegriff erneuern. Das solidarische Grundeinkommen zeigt also nicht nur, wie man durch die Einbettung eines Umverteilungsinstrumentes in die kulturelle Wertewelt der Anhänger ein attraktives Politikangebot schafft. Mit der Neubestimmung des Arbeitsbegriffes macht sich die Sozialdemokratie auch anschlussfähig an die politischen Diskurse des digitalen Kapitalismus.