Die EU-Russland-Beziehungen stecken in der Krise. Was ist in den letzten Jahren schiefgegangen? Wann kam der Wendepunkt?

Es wäre zu früh, zu sagen, dass alles schiefgegangen ist. Es bleibt eine gewisse Hoffnung auf den gesunden Menschenverstand – sowohl in der EU als auch in Russland. Ein Zeitpunkt, an dem die Beziehungen ins Kippen gerieten, war sicherlich der Start der von Polen und Schweden 2008 initiierten „Östlichen Partnerschaft“ (ÖP). Die Initiative selbst bot am Anfang keine große Perspektive für die Partnerländer. Aber das Programm war darauf angelegt, die ehemaligen Sowjetrepubliken von Russland zu trennen. Schon damals stellte die EU die ÖP-Staaten vor die Wahl: „Entweder – Oder?“ Jeder ernsthafte Fortschritt wurde damit unwahrscheinlich.

Mit Blick auf die Nachfolgestaaten der UdSSR drängt sich der Eindruck auf: Russland hat die Krim gewonnen, aber viel Vertrauen bei seinen Nachbarn verspielt. Gleichzeitig verfolgt Moskau das Projekt einer „Eurasischen Union“. Wie kann Russland noch attraktiv als regionales Integrationszentrum sein?

Ich würde die Krim-Episode nicht im Kontext der eurasischen Integration betrachten. Es ist schwer zu sagen, ob die Entscheidungen zur Krim spontan gefallen sind oder lange im Voraus geplant waren. Ich weiß nicht, was da hinter verschlossenen Türen läuft. In jedem Fall wurde die Angliederung der Krim als Wiedervereinigung mit einem russischen Territorium betrachtet. So wurde es der russischen Öffentlichkeit präsentiert, und genau deshalb erhielt das Vorgehen des Kremls große Unterstützung in den verschiedensten Teilen der russischen Gesellschaft, auch bei der Jugend.

Was die eurasische Integration angeht: Bei einigen Staatsführern in den postsowjetischen Republiken, insbesondere in Kasachstan und Belarus, aber auch in Kirgisien ist eine gewisse Zurückhaltung entstanden. Diese ist aus meiner Sicht übertrieben, mit der eventuellen Ausnahme von Kirgisien. Warum? Weil die Politikoption, die mit der Krim entstanden ist, sich nur realisieren lässt, wenn man es mit „failed elites“ und „failed states“ zu tun hat. Das kann man nun von Kasachstan nicht behaupten, auch von Belarus bislang nicht.

Die Idee einer „Eurasischen Union“ stammt ursprünglich vom kasachischen Präsidenten Nursultan Nasarbajew. Das Projekt war auch in den Augen Wladimir Putins zunächst ein ökonomisches, das auf den Erfahrungen der EU aufbaut, die auch einmal als Wirtschaftsprojekt begonnen hat. Seit ungefähr einem Jahr wird das eurasische Projekt immer politischer. Auch weil die EU die Länder vor die Wahl „Entweder-Oder?“ stellt. Das hat ökonomische und finanzielle Kosten zur Folge. Während man früher gesagt hat, das ist eine Wirtschaftsunion, die mit Russland als Lokomotive auf die ökonomische Modernisierung der postsowjetischen Staaten abzielt, ist jetzt viel mehr Politik in dem Projekt.

Denken Sie, dass es in der Moskauer Elite einen Konsens über die zukünftige Rolle der Ukraine in Europa gibt?

Ich glaube, dass es ein gemeinsames Verständnis gibt. In der gesamten postsowjetischen Periode hat die Ukraine eine sogenannte Mehrvektorenpolitik betrieben. Das zu ändern ist äußerst schwierig. Einerseits ist die Ukraine natürlich nach Russland orientiert, auf Grund der persönlichen, historischen und wirtschaftlichen Verbindungen. Andererseits blickt die Ukraine nach Europa, weil sie die Erfahrung der ostmitteleuropäischen Staaten wiederholen möchte. Aber das ist unmöglich. 2013 ist nicht 1989, wir haben jetzt eine ganz andere Welt.

Es gibt in der russischen Elite die Wahrnehmung, dass die Ukraine ein großes Sicherheitsrisiko für Europa insgesamt darstellt. Aber es gibt nach meinem Eindruck kein gemeinsames Verständnis darüber, wie man einen Ausweg aus der Krise findet. Die Ukraine ist ein riesiges Land mit großer Bevölkerung, das sich im völligen Chaos befindet. Es rennen Leute mit erheblichen Mengen an Waffen umher. Und es ist sehr schwer zu verstehen, wer diese Menschen sind und wen sie vertreten. Die Situation ist brandgefährlich. Ich finde es richtig, dass Russland auch an den Westen appelliert, seine Verantwortung wahrzunehmen.

In Russland hat man sich daran gewöhnt, die Ukraine als verwandten aber doch souveränen Staat anzusehen, wo man Partner für solide, zweifelhafte oder korrupte Geschäfte finden kann. Die ökonomischen und politischen Eliten ticken ähnlich. Russland wäre insgesamt bereit, eine gemeinsame Lösung zu finden. Aber dies geht nur schwer ohne Verständnis aus der EU. Wer auch immer in Kiew an die Macht kommt, wird keine sehr starke Position haben. Ob nun Tymoschenko oder Poroschenko die Wahlen gewinnt – beide werden mit Russland verhandeln und zu Kompromissen kommen. Und beide werden sich weiter in Richtung Europa bewegen. Es gibt ein Interesse in Russland daran, dass die Ukraine wieder eine handlungsfähige Regierung erhält. Im Moment scheint das Land unregierbar.

Sieht Moskau noch Möglichkeiten, die territoriale Einheit der Ukraine (abzüglich der Krim) zu bewahren?

Es gibt weder im Westen noch in Russland die Gewissheit, dass die Ukraine als einheitlicher Staat erhalten bleibt. Aber Russland ist an einem Zerfall des Landes nicht interessiert. Die Krim ist ein Einzelfall. Alles andere würde einen hohen Preis verlangen, und einen sehr langen Konflikt bedeuten. Das ist nicht das Ziel Russlands, denn Russland wird hier nichts gewinnen. Russland ist daran interessiert, dass die Rechte und Interessen der Menschen in den östlichen Regionen der Ukraine berücksichtigt werden und auch in der Verfassung verankert werden. Was auch immer von russischen Provokationen berichtet wird – das Schicksal der Ukraine wird jetzt von den Ukrainern entschieden. Es hängt davon ab, ob sie die Regierbarkeit wieder herstellen und sich untereinander einigen können.

Die Ukraine-Krise hat alten Ängsten vor Russland wieder Auftrieb gegeben, nicht zuletzt in Ostmitteleuropa.

Mir scheint, die Ängste sind übertrieben. Natürlich hat Polen als größtes Land Mitteleuropas keine wirkliche Angst. Was die Baltischen Staaten angeht, könnte das anders sein. Wenn man sich die Diskussion über Sanktionen anschaut, gibt es aber auch dort sehr unterschiedliche Meinungen. Zum Beispiel versteht man in Lettland genau, dass man im Fall von Wirtschaftssanktionen viel zu verlieren hätte. Es gibt große Befürchtungen und keine Liebe zu Russland. Aber andererseits ist Russland ein Partner, mit dem zu brechen im Moment sehr schwer ist.

In Polen soll die Angst vor Russland nach aktuellen Umfragen auf dem gleichen Niveau wie 1990 stehen.

Ich habe den Eindruck, dass man diese Stimmung nicht nur, aber auch mit der polnischen Innenpolitik erklären kann. Bald gibt es Wahlen. Die sehr kritische Position von Oppositionsführer Jaroslaw Kaczynski zu Russland ist bekannt. Die andere Frage ist, was es Polen nützt, wenn es diese Ängste kultiviert. Wenn sich die Situation noch verschärft, werden die Polen zusätzliche Garantien von Seiten der USA erhalten. Nicht nur Garantien, sondern im Falle von Truppenstationierungen auch zusätzliche Arbeitsplätze.

Glauben Sie, dass das bislang sehr positive Image der Europäischen Union in Russland unter der Krise leidet?

Wenn man über die wenigen Experten spricht, dann hat sich das Image der EU verschlechtert, gerade wegen der institutionellen Krise in der EU. Für die russische Gesellschaft ist die EU nach wie vor mit Europa synonym, und die Anziehungskraft von Europa, der europäischen Kultur und Lebensart ist ungebrochen. 

Spielt die Idee Gorbatschows vom gemeinsamen europäischen Haus oder auch die Idee eines Wirtschaftsraums von Lissabon bis Wladiwostok für die russischen Entscheidungsträger noch eine Rolle?

Niemand hat sich von diesen Ideen verabschiedet, das steht weiterhin in allen Dokumenten.

Welchen Rat würden Sie der EU in der aktuellen Krise geben?

Das gemeinsame Ziel der EU und Russlands ist die Stabilisierung der Situation in der Ukraine. Im Moment scheint die Logik der Ereignisse in der Ukraine beide Seiten zu zwingen, gegen ihre eigenen Interessen zu handeln. Das Wichtigste ist, die Verhandlungen fortzusetzen. Nach Genf 1 müssen Genf 2 und 3 folgen, vielleicht auch noch Genf 8.

Am Ende muss eine Lösung stehen, die die Ukraine auf friedlichem Weg zum inneren Frieden zwingt. Das ist die wichtigste Aufgabe. Wenn sich die Situation etwas stabilisiert, haben wir immer noch kein business as usual, aber es wird dann wieder die Möglichkeit geben, gemeinsam an der Lösung von Konflikten in anderen Weltregionen zu arbeiten, nicht zuletzt im Nahen Osten.

 

Das Interview führten Reinhard Krumm und Felix Hett.