Nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis im Jahr 2011 öffneten sich die libyschen Häfen für einen Menschenhandel in einem noch nie dagewesenen Ausmaß. Seither hat sich die illegale Migration über das Mittelmeer verdreifacht. In den ersten vier Monaten des Jahres 2015 gelangten rund 50.000 Migranten auf dem Seeweg nach Südeuropa. Weitere 1.800 kamen bei der Überfahrt ums Leben.

Schätzungen zufolge warten in Libyen noch Hunderttausende darauf, nach Europa überzusetzen. Millionen weitere würden es ihnen gleichtun, wenn sie könnten. Die Migranten kommen aus vielen verschiedenen Ländern Afrikas und des Nahen Ostens. Flüchtlinge aus dem kriegsgeplagten Syrien machten in den ersten vier Monaten 2015 gerade mal 30 Prozent der über das Meer kommenden Flüchtlinge aus. Andere kommen aus Nigeria, Gambia, Eritrea, Somalia und Mali. Sie wollen arme, instabile Länder hinter sich lassen, um ihr Glück in den wohlhabenden Ländern der Europäischen Union zu suchen. Es ist ein gefährliches Unterfangen. Aber es gibt viel zu gewinnen.

Von den 170.000 Migranten, die 2014 Italien erreichten, wurden Berichten zufolge nur etwa 5.000 wieder abgeschoben. Im letzten Jahr gab Italien 60 Prozent der Erstanträge auf Asyl statt und gewährte einen Flüchtlings- oder anderen Schutzstatus (vielen weitere zunächst abgelehnte Asylsuchende erhielten diesen Status nach einem Einspruch). Viele Migranten warten gar nicht erst auf ihre Anhörung. Sie verbringen einige Tage in überfüllten Aufnahmezentren, um sich dann in Richtung Norden zu den größeren Arbeitsmärkten Frankreichs, Deutschlands oder anderer Länder weiter nördlich abzusetzen. Den italienischen Behörden wird gelegentlich unterstellt, diese Flucht zu dulden, um die Kosten zu senken, die diese Neuankömmlinge den italienischen Steuerzahlern aufbürden.

Die Migranten, die sich auf diese Reise begeben, werden in der Regel als terrorisiert und verarmt dargestellt, als Menschen die dazu getrieben werden (um Amnesty International zu zitieren) »in dem verzweifelten Versuch, nach Europa in Sicherheit zu gelangen, ihr Leben auf gefährlichen Meerüberquerungen zu riskieren«. Demografische und wirtschaftliche Fakten lassen diese Geschichte nicht ganz so einfach erscheinen. Wenn Bevölkerungen vor Krieg und Hungersnöten fliehen, dann fliehen sie in der Regel alle zusammen: Alte und Kinder, Frauen und Männer. Die aktuellen Migranten sind jedoch mit großer Mehrheit Männer im arbeitsfähigen Alter. Sie alle haben eine beträchtliche Summe aufgebracht, um die Flucht zu bezahlen: Ein Platz auf einem Schlepperboot kostet 2.000 Dollar (über 1.700 Euro) aufwärts, ganz zu schweigen von den Hunderten oder Tausenden von Dollar, die es kostet, überhaupt vom Heimatort bis zu den Einschiffungspunkten zu gelangen. Nur sehr wenige der aus Libyen kommenden Migranten sind tatsächlich Libyer.

Doug Saunders, ein britisch-kanadischer Journalist, der aus Nordafrika und dem Nahen Osten berichtet und 2012 ein Buch veröffentlichte, in dem er mit großem Mitgefühl über die Migranten schreibt, die über das Mittelmeer nach Europa wollen, wies den Gedanken als »abwegig« zurück, dass diese Migranten vor Hungersnöten und Tod fliehen würden. Vielmehr äußerte er kürzlich dazu: »Jeder Bootsflüchtling, den ich traf, war ehrgeizig, städtisch, gebildet und wenn auch nicht aus der Mittelschicht (obwohl eine überraschende Zahl von ihnen das ist ...), so doch weit von der Subsistenzbauernschaft entfernt. Gemessen am europäischen Standard sind sie sehr arm, aber gemessen an den Verhältnissen in Afrika und dem Nahen und Mittleren Osten geht es ihnen nicht schlecht.«

 

Auf der Suche nach einem besseren Leben

Diese Migranten tun, was Migranten schon immer getan haben: Sie sind auf der Suche nach einem besseren Leben. Die Auswanderung erscheint zwar den Migranten reizvoll, stößt aber in der europäischen Bevölkerung auf Ablehnung – und die Spannung zwischen der fortgesetzten Migration und der öffentlichen Meinung verändert den Kontinent auf eine gefährliche Art und Weise.

Quer durch die Europäische Union äußern sich 57 Prozent der Bevölkerung negativ über die Zuwanderung von außerhalb der EU. Die gewählten Politiker gehen natürlich auf die Ansichten des Wahlvolks ein und versprechen einen deutlichen Rückgang bei der Zahl der Immigranten. Und doch kommt es nie zu diesem Rückgang, weil die EU in ihrer Gesetzgebung und ihren Abkommen Flüchtlingsrechte festgeschrieben hat. Das ist nicht so leicht zu ändern und hat zur Folge, dass es für Migranten von enormem Vorteil ist, sich als Flüchtlinge auszugeben. Und diejenige europäische Elite, die eine stärkere Zuwanderung befürwortet, nimmt den Migranten das auch gern ab. Alles in allem wird die Realität der über das Mittelmeer kommenden Einwanderungswelle von Unwahrheiten verschleiert.

Die Überfahrt auf dem Mittelmeer ist zwar kilometermäßig nicht lang, aber in psychischer Hinsicht ein weiter Weg. Ein in Italien ankommender Migrant lässt ein Umfeld informeller Regeln hinter sich und kommt in eine Welt, die von geschriebenen Gesetzen, formalen Berechtigungsnachweisen und Bürokratie gesteuert wird – eine Welt, in der seine eigenen Angaben über seine Qualifikationen (sofern er welche hat) nichts zählen. Er betritt einen Arbeitsmarkt, auf dem sowohl die Beschäftigtenzahlen als auch die Löhne für gering Qualifizierte seit Jahren zurückgehen. Er wird diese Bedingungen vielleicht immer noch als Verbesserungen sehen und akzeptieren. Seine Kinder werden das nicht mehr tun.

Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten haben sich die europäischen Gesellschaften schon immer schwergetan, Einwanderer aufzunehmen und zu integrieren.

Das vollständige Ankommen von einer Welt in der anderen dauert selbst unter den besten Voraussetzungen länger als eine Generation. Und im Fall Europas lassen die Umstände viel zu wünschen übrig. Im Vergleich zu den Vereinigten Staaten haben sich die europäischen Gesellschaften schon immer schwergetan, Einwanderer aufzunehmen und zu integrieren – ein Problem, das sich mit der Wirtschaftskrise in Europa noch verschärft. Europa lernt gerade, dass die Flüchtlinge von heute Gefahr laufen, die Schulabbrecher, Arbeitslosen und Kriminellen von morgen zu werden.

Einwanderer aus Nicht-EU-Ländern brechen doppelt so häufig die Sekundarschule ab wie gebürtige Europäer. Immigranten im arbeitsfähigen Alter sind doppelt so häufig arbeitslos. Zudem sind sie in den Gefängnissen Frankreichs, Großbritanniens, Belgiens und anderer europäischer Länder bei Weitem überrepräsentiert. Aus einer im The Economic Journal veröffentlichten Studie geht hervor, dass die Einwanderer von außerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums jedes Jahr zwischen 1995 und 2011 eine Nettobelastung für den öffentlichen Haushalt des Vereinigten Königreichs waren.

Je ärmer das Land ist, aus dem die Migranten kommen, desto höher sind die sozialen Kosten ihrer Aufnahme. Beispielhaft seien hier die Erfahrungen Schwedens angeführt. Gemessen an der einheimischen Bevölkerungszahl ist dort der Ausländeranteil einer der höchsten in Europa. Über 15 Prozent der Schweden sind entweder selbst im Ausland geboren oder beide Elternteile sind ausländischer Herkunft.

Das Land hat besonders viele Flüchtlinge aus den schlimmsten Krisengebieten der Welt aufgenommen, darunter aus Ländern wie Somalia, dem Irak und Syrien. Aber mit den steigenden Zahlen von Flüchtlingen aus armen Ländern ist die Wirtschaftsleistung der Migrantenbevölkerung deutlich gesunken. Die Zeitschrift The Economist berichtet, dass das mittlere Einkommen von nicht-europäischen Migrantenhaushalten 1991 etwa 21 Prozent unter dem alteingesessener schwedischer Haushalte lag. Bis zum Jahr 2013 hatte sich diese Kluft auf 36 Prozent vergrößert.

 

Erschreckende Gemengelage

All das hat eine erschreckende Gemengelage zur Folge: Frustration bei den Migranten und ihren Kindern, Missgunst bei älteren Bürgern, steigender Extremismus auf der einen, obrigkeitliche Fremdenfeindlichkeit auf der anderen Seite und ein immer auffälligerer (wenn auch wirkungsloser) Sicherheitsstaat. Viele Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks nehmen diese Tatsachen nur mit großem Unbehagen zur Kenntnis. Aber wenn die Führungspersönlichkeiten der politischen Mitte nicht auf das Unbehagen reagieren, werden es die Demagogen tun.

Obwohl die Zuwanderung Europa schon erhebliche finanzielle und soziale Kosten aufgebürdet hat, wirkte sich das kaum auf die Zahl der tatsächlichen Flüchtlinge weltweit aus. Und das ist auch nicht zu erwarten: Es gibt rund um den Erdball einfach zu viele Flüchtlinge, als dass eine Umsiedlung über große Entfernungen wirklich Abhilfe schaffen könnte. Die meisten Flüchtlinge bleiben entweder als »Binnenvertriebene« in ihren Heimatländern oder lassen sich im nächstgelegenen sicheren Ort nieder. Aus rein technischer und organisatorischer Sicht ist die Weltgemeinschaft inzwischen ziemlich erfolgreich in der Flüchtlingshilfe: Die syrischen Flüchtlingslager in Jordanien und der Türkei sind beispielsweise immer häufiger mit fließend Wasser, Abwasserentsorgung, Schulen und Elektrizität ausgestattet.

Viel schwieriger gestaltet es sich, innerhalb dieser über Nacht entstandenen Städte wirtschaftliche Möglichkeiten zu schaffen und zu verhindern, dass sich Extremismus ausbreitet. Und noch schwieriger ist es, die Kriege schnell zu beenden, die überhaupt erst zur Vertreibung der Menschen geführt haben. Diese Probleme werden nicht dadurch gelindert, dass man ständig darauf beharrt, die weiterentwickelten Länder müssten die illegale Migration der mobilsten, durchsetzungsfähigsten und generell am wenigsten schutzbedürftigen Menschen aus den ärmeren Teilen der Welt hinnehmen.

Ab 2012 hatten die USA einen drastischen Anstieg an illegalen Einreisen unbegleiteter Minderjähriger aus Mexiko und Mittelamerika zu verzeichnen. Die Zahl der an der amerikanisch-mexikanischen Grenze aufgegriffenen Migranten stieg zwischen 2013 und 2014 um 75 Prozent. Die gesamte Krise hindurch hieß es in der Nachrichtenberichterstattung immer wieder, es handele sich um Flüchtlinge, die dem tödlichen Chaos in ihren Heimatländern zu entfliehen versuchten.

Die Situation in Mittelamerika war aber zu der Zeit nicht nennenswert chaotischer geworden – im Gegenteil, die Mordrate in Honduras, aus dem die meisten Flüchtlinge stammten, war zwischen 2012 und 2014 sogar um 20 Prozent gesunken. Die meisten der unbegleiteten Minderjährigen waren männlich und viele von ihnen sahen offenbar ihre Chance gekommen: Eine Reihe politischer Änderungen in den USA seit 2008 schien zu versprechen, dass junge Migranten nicht wieder in ihre Heimatländer zurückgeschickt würden. Die Zunahme der versuchten Grenzübertritte begann erst kürzlich abzuebben, nachdem die USA die mexikanische Regierung dazu gebracht hatte, die Migranten schon auf dem Weg durch Mexiko aufzugreifen.

Demgegenüber machte Australien kürzlich andere Erfahrungen. Die zuvor regierende Labor Party verlor die Parlamentswahlen von 2013 gegen den Konservativen Tony Abbott, zu dessen Wahlversprechen unter anderem gehörte, zu verhindern, dass weitere Asylsuchende Australien auf dem Seeweg erreichen. Unter Abbots Politik würde keinem ungenehmigten Boot das Anlegen erlaubt werden. Punkt. Auf See abgefangene Boote würden in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt oder zur Passagierabfertigung an unwirtliche Orte wie Papua Neuguinea geschleppt. Die Regierung kündigte diese neuen Maßnahmen über die sozialen Medien in ganz Südostasien an. Ein auf YouTube veröffentlichtes Video warnte in vielen Sprachen der Region: »Wenn Sie ohne ein Visa mit dem Schiff nach Australien kommen, dürfen Sie nicht bleiben.« Seitdem hat die illegale Migration über das Meer nahezu vollständig aufgehört.

Diese Maßnahme ist teuer: Die Regierung gibt für die Unterbringung von Migranten in Einrichtungen außerhalb des Landes jährlich angeblich etwa eine Milliarde australischer Dollar (über 600 Mio. Euro) aus. Das ist jedoch eine verhältnismäßig kleine Summe im Vergleich zu den hohen sozialen und wirtschaftlichen Kosten über viele Jahre – und viele Generationen – hinweg, in denen die Zuwanderung einer großen Zahl an sehr gering qualifizierten Menschen zugelassen wurde.

Der Ozean rund um Australien ist sehr viel größer als das Meer zwischen Libyen und Europa. Und doch ist Australiens Beispiel vielversprechend. Die Migration richtet sich nach der Gelegenheit. Beseitigt man die Gelegenheit, wird auch die Migration aufhören. Migranten, die sich ihren Weg nach Europa erzwingen wollen, sind verständlicherweise auf der Suche nach einem besseren Leben. Aber auch die Menschen in den Ländern, in die sie einreisen möchten, haben das Recht, zu tun, was für sie selbst am besten ist.

Die bereits erfolgte Zuwanderung zu einem Erfolg werden zu lassen wird von den europäischen Führungen immense Weisheit, Großzügigkeit und politische Kreativität erfordern. Diese Herausforderung wird immer gewaltiger, wenn die Zahl der Zuwanderer weiterhin unkontrolliert wächst, was einer Einwanderungspolitik zuzuschreiben wäre, die sich selbst für ihr Mitgefühl rühmt, aber in der Praxis die dunkelsten und gefährlichsten Neigungen der Europäer perpetuiert – der alten und neuen Europäer gleichermaßen.

 

Siehe hierzu auch eine Erwiderung von Chadi Bahouth: Die Wahrheiten der Migrationsdebatte, die beim FES-Onlineportal sagwas erschienen ist.

 

(c) The Atlantic