Am 23. April und am 7. Mai werden die französischen Bürger in zwei Wahlgängen den neuen Hausherrn des Elysée-Palasts küren – oder die neue Hausherrin. Die Entscheidung stellt eine Schicksalswahl für EU-Europa dar. Denn die Präsidentschaftskandidatin des rechtsextremen Front National, Marine Le Pen, hat beste Aussichten, den ersten Wahlgang zu gewinnen und in die Stichwahl einzuziehen. Sollte sie auch diese gewinnen und Staatspräsidentin Frankreichs werden, ist die Europäische Union zumindest vorübergehend am Ende. Einmal an der Macht, will Marine Le Pen Frankreich aus der Währungsunion und mutmaßlich auch aus der Europäischen Union hinausführen.

Anders als im Falle des anstehenden Brexit kann die EU einen „Frexit“ nicht überleben; denn „ohne Frankreich ist alles nichts“ wie Bundeskanzler Helmut Schmidt zu sagen pflegte. Frankreich ist Deutschlands unersetzlicher Partner im europäischen Einigungsprozess, der ja noch keineswegs abgeschlossen und konsolidiert ist. Dies zeigt die „Polykrise“ – so Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker – der letzten Jahre. Seit Anbeginn der europäischen Integration, sei es bei der Lancierung der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl 1951 oder der Römischen Verträge 1957, deren 60. Geburtstag soeben gefeiert wurde, und auch bei jeder einzelnen der zahlreichen weiteren Etappen zum Auf- und Ausbau von EWG/EG/EU – stets war Frankreich zusammen mit der Bundesrepublik der Initiator, Ideengeber und Promotor dieser Prozesse. Eben deshalb ist der vielbeschworene deutsch-französische „Motor der Integration“ auch heute noch in der mehrfach erweiterten und substantiell vertieften Europäischen Union unverzichtbar.

Seit Anbeginn der europäischen Integration war Frankreich zusammen mit der Bundesrepublik der Initiator, Ideengeber und Promotor dieser Prozesse.

Auch die jüngsten Schritte, die die EU-27 in Reaktion auf das Brexit-Votum und die massiven, despektierlichen Angriffe des neuen US-Präsidenten Donald Trump auf die EU unternommen hat, gehen in großem Maße auf deutsch-französische Initiativen zurück. Angesprochen ist hier zum einen der spektakuläre Beschluss vom 6.3.2017, für Europas operative zivil-militärische Missionen ein EU-Hauptquartier einzurichten (auch wenn dieser Begriff mit Rücksicht auf die NATO nicht verwendet wird); bemerkenswert zum anderen sind gemeinsame Vorstöße zur Forcierung eines Europas der verschiedenen Geschwindigkeiten. François Hollande spricht von einer „Idee, die sich aufdrängt. Sonst explodiert Europa“. Sie ist unter der Umschreibung „mit unterschiedlicher Gangart und Intensität“ in die Erklärung von Rom vom 25.3.2017 eingegangen. Beide Vorstöße dienen der Zukunftsfähigkeit der EU-27 und der Beendigung der Polykrise. Der deutsch-französische Motor der Integration bleibt also für die EU überlebensnotwendig.

Nun aber steht Marine Le Pen bereit, all dies zu zerstören. Wie hat es soweit kommen können? Ohne ins Detail zu gehen, muss hier die gesamte französische Politikerklasse, oder besser „Kaste“, verantwortlich gemacht werden, weil sie in einzigartiger Abgehobenheit, Selbstbezogenheit und Arroganz das Land abgewirtschaftet und die Politikverdrossenheit der Bürger befeuert hat. Der Reformstau besteht schon seit Jahren, und weder die konservativen Präsidenten Jacques Chirac und Nicolas Sarkozy noch der glücklose sozialistische Amtsinhaber François Hollande haben in ausreichendem Umfang Mut, Kraft und Entschlossenheit mobilisiert, um dies zu ändern. So sind Staatversschuldung und Arbeitslosigkeit über die Jahre angestiegen, das Wirtschaftswachstum ist schwach, 2013 lag es bei 0,58 Prozent und 2016 bei 1,1 Prozent.

Nun aber steht Marine Le Pen bereit, all dies zu zerstören. Wie hat es soweit kommen können?

Es soll hier nicht behauptet werden, dass keinerlei Reformen versucht wurden; aber der im Januar 2014 von François Hollande verkündete „pacte de responsabilité“ beispielsweise konnte das Blatt nicht grundlegend wenden. Zwar hat dieser „Pakt der Verantwortung“ mit seinem angebotsseitigen Fokus – bis 2017 werden den Unternehmen 40 Milliarden Euro an Abgaben erlassen, wenn sie im Gegenzug ihre Wettbewerbsfähigkeit steigern und Arbeitsplätze schaffen – zu einer Stabilisierung der wirtschaftlichen Lage und einer leichten Verbesserung auf dem Arbeitsmarkt geführt. Der Preis aber war die de-facto-Spaltung der sozialistischen Partei mit dem Ausscheiden der „frondeurs“ Arnaud Montebourg und Benoît Hamon aus der Regierung und der Berufung Emanuel Macrons zum Wirtschaftsminister – Hauptaufgabe: Umsetzung des Pakts der Verantwortung.

Bei der Suche nach den Ursachen dieser französischen Malaise und „morosité“ sind auch einige Merkmale des politischen Systems der V. Republik anzusprechen, wie die sehr starke Stellung des Staatspräsidenten und – vor allem – die damit verbundene langjährige tiefe Spaltung der Politik nach einer links-rechts Logik. Das Mehrheitswahlrecht bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen tut ein Übriges, um das System zu zementieren und neue politische Kräfte auszuschließen. So erhielten bei den letzten Parlamentswahlen 2012 die Grünen zwar 5,46 Prozent der Stimmen, aber keinen einzigen Abgeordnetensitz; der Front National erzielte 13,79 Prozent der Stimmen und nur zwei Mandate. Dies alles hat über die Jahre zu einer schwerwiegenden Krise der französischen Parteien geführt, die „die Gesellschaft nicht mehr repräsentieren“.

Vor diesem Hintergrund, der durch die komplexe politische Lage auf europäischer und internationaler Ebene weiter negativ belastet wird, konnte der Aufstieg des FN über die Jahre hinweg gelingen. Seit der Übernahme des Parteivorsitzes 2011 verfolgt Marine Le Pen äußerst erfolgreich den Kurs, ihre rechtsextreme Partei zu „banalisieren“ und zu „dediabolisieren“, wie man das in Frankreich nennt. Indem Marine Le Pen manche extremistischen Exzesse ihres Vaters und Vorgängers im Amt des FN-Parteivorsitzenden, Jean-Marie Le Pen, zurückgenommen hat, wie beispielsweise die Leugnung des Holocausts und krass antisemitische Positionen, ist es ihr gelungen, ihre Anhängerschaft um ein Vielfaches zu vermehren und sich als die Anti-Establishment Politikerin zu etablieren, die „au nom du peuple“ (im Namen des Volkes) spricht – so ihr aktueller Wahlkampfslogan.

Jüngsten Umfragen zufolge stimmen 33 Prozent der Befragten im Allgemeinen mit den Ideen des FN überein; letzte Wahlprognosen sehen für Le Pen ein Ergebnis von 24 Prozent der Stimmen und mithin den zweiten Platz hinter Emmanuel Macron (25,5 Prozent) im ersten Wahlgang voraus. Sie wird in die Stichwahl kommen.

Welche selbstmörderischen Kräfte treiben die „etablierten“ französischen Parteien eigentlich an?

Daraus ergeben sich abschließend zwei Fragen. Erstens: Welche selbstmörderischen Kräfte treiben die „etablierten“ französischen Parteien eigentlich an? Wie kann sich die Linke durch gleich zwei Kandidaturen (Mélenchon und Hamon) selbst sabotieren? Wie können die konservativen Republikaner sich mit dem Festhalten an dem untragbaren Kandidaten François Fillon selbst an die Wand fahren? Bei etwas mehr Verstand und strategischem Denken ließe Marine Le Pen sich leicht aus der Stichwahl herauskatapultieren. Es ist dieses Versagen, das die zweite Frage überhaupt erst virulent werden lässt: Wer kann im entscheidenden zweiten Wahlgang die FN-Kandidatin noch stoppen? Nach derzeitigem Wissensstand kann dies allein dem jungen Emanuel Macron gelingen, dem Ex-Wirtschaftsminister François Hollandes, der das tradierte links-rechts-Schema für überholt hält, de facto aber einen sozialdemokratischen Kurs „light“ vorschlägt. Jüngsten Umfragen zufolge könnte ihm in der Stichwahl vom Mai mit 63 Prozent der Stimmen ein deutlicher Sieg über Le Pen (37 Prozent) gelingen. Dies jedoch setzt voraus, dass die französischen Wähler erneut einen „front républicain“ bilden, um die rechtsextreme Gefahr abzuwenden – so wie sie es bereits 2002 getan haben, als sie mit über 82 Prozent Chirac wählten, um Le Pen-Vater zu verhindern. Zu hoffen ist, dass es auch 2017 wieder so kommt; Frankreich würde sich wahrlich als „reife Republik“ auszeichnen und die „Genesung der Europäischen Union“ einleiten.

Die Schicksalswahl könnte also durchaus ein gutes Ende finden. Aber selbst dieses best-case-Szenario wäre ein erneuter Beweis dafür, dass in Europa an erster Stelle die einzelstaatlichen Demokratien krank sind, und nicht die EU, wie der italienische Regierungschef Mario Monti vor etlichen Jahren bereits feststellte. Oft aber verwechsele man Ursache und Wirkung. Um die EU wiederzubeleben, müssen zunächst die Mitgliedstaaten gesunden.