Als Hua Guofeng, der von Mao Zedong selbst noch eingesetzte Nachfolger und damit mächtigste Mann Chinas,  kurz nach dessen Tod am 9. September 1976 die „Viererbande“ verhaften ließ, war die Zeit der Kulturrevolution endgültig vorbei, und der Weg in einen beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwung setzte ein, beginnend mit den „Vier Modernisierungen“. Allein um die hierfür nötigen Handlungsspielräume zu sichern, mussten sich Chinas Partei- und Staatsführung von dem Großen Steuermann und seiner Politik verabschieden. Zugleich aber war allen klar, dass die Gestalt Mao Zedongs für das Selbstverständnis und den Zusammenhalt der erst 1949 ausgerufenen Volksrepublik China weiterhin unverzichtbar bleiben würde. Daher planten sie, obwohl es bis heute Stimmen gibt, die behaupten, Mao Zedong habe sich einäschern lassen wollen, für den balsamierten Leichnam Maos das Mausoleum im Zentrum des Tian’anmen-Platzes mit einem gigantischen Portrait.

Bis heute überwiegt trotz vielfältiger Kritik die Anerkennung der Leistungen Mao Zedongs. Es gibt nicht wenige, welche sich in die Nachfolge von Maos Kapitalismuskritik und seine Distanziertheit gegenüber dem Gang der Welt stellen. Neben der vielleicht größten Gruppe der Gleichgültigen gibt es aber auch solche, die Mao hassen, weil sie ihm das von ihnen oder Angehörigen erlittene Unrecht und Leid der vergangenen Jahrzehnte anlasten. Doch gibt es auch abwägende Positionen und die unter den Gebildeteren nicht geringe Zahl derer, die eine neue Aufklärung propagieren, eine neue Geistigkeit, und die sich weniger auf Marx und Lenin und Mao als auf diejenigen Denker und Literaten des chinesischen Aufbruchs in die Moderne berufen, die mit der Tradition der 4.-Mai Bewegung verbunden werden und deren Erbschaft im Verborgenen gepflegt wird und deren Anspruch noch längst nicht abgegolten ist.

Es gibt wohlriechende und stinkende Fürze. Man soll nicht meinen, dass alle sowjetischen Fürze wohlriechend seien.

Solchen Herausforderungen kann die Staats- und Parteiführung schon allein deswegen nicht mit Eindeutigkeit entgegen treten, weil sie an die 70:30-Rhetorik gebunden bleibt und zu Abwägungen gezwungen ist. Doch welches sind die Gründe für diese systemische Ambivalenz? Sie liegen in der spezifischen Architektur des Machtgefüges in China und lassen sich ohne einen Blick auf die Langwierigkeit bisheriger Aushandlungsprozesse nicht erklären.

Als der von Mao hochgeschätzte und zugleich gelegentlich in seine Schranken verwiesene Deng Xiaoping, inzwischen zum mächtigsten Mann Chinas aufgestiegen, bereits 1978 verkündete, Maos Verdienste und Fehler stünden in einem Verhältnis 70 zu 30, aber man werde mit ihm nicht so umgehen wie die Sowjetunion mit Stalin, stellte er sich damit selbst in die Nachfolge Maos. Denn dieser hatte im März 1956 über Stalin verkündet, „Stalins Verdienste und Fehler stehen in einem Verhältnis von 70 zu 30“. Einen Monat später hatte Mao im Politbüro mit Blick auf innerparteiliche Kontroversen erklärt, man müsse, „allen eine Gelegenheit geben, ihre Fehler zu korrigieren.“ Auch im Hinblick auf Russland solle man differenzieren und man solle nicht sagen, „dass wir von der Sowjetunion nichts lernen können“. Aber, betonte er, man darf „nicht blindlings nachahmen“, sondern muss „analytisch“ vorgehen. „Es gibt wohlriechende und stinkende Fürze. Man soll nicht meinen, dass alle sowjetischen Fürze wohlriechend seien. […] Alles, was brauchbar ist, müssen wir lernen. Was gut am Kapitalismus ist, müssen wir auch lernen.“

Zwanzig Jahre später, als dann die Abrechnung mit Mao in China auf der Tagesordnung stand, suchten Partei und Staat ebenfalls „analytisch“ vorzugehen. Zu dem in eine Hungerkatastrophe mit nahezu 50 Millionen Toten  mündenden „Großen Sprung nach vorn“ erklärte Deng Xiaoping: „Der ‚Große Sprung nach vorn‘ erfüllte Genossen Mao Zedong mit übermäßiger Begeisterung, aber galt das nicht für uns alle?“ – Wenig später, 1981, hieß es: „Genosse Mao Zedong war ein großer Marxist und ein großer proletarischer Revolutionär, Stratege und Theoretiker. Obwohl er in der Kulturrevolution schwere Fehler beging, überwiegen alles in allem seine Verdienste für die chinesische Revolution. Seine Verdienste sind zweifellos primär, seine Fehler sekundär.“

Vor allem aber durfte die sich als Elite empfindende Partei ihre eigenen Einsichten nicht unbedingt „den Massen“ zumuten, wie dies schon Mao selbst mit Blick auf Stalin entschieden hatte: „Über einige Dinge kann überall gesprochen werden. Die üblen Taten, die Stalin und die Dritte Internationale begangen haben, dürften bis zur Ebene der Sekretäre von Gebietskomitees verbreitet werden. […]. Wir haben nicht vor, uns darüber in Zeitungen und vor den Massen auszulassen.“ So muss auch heute die Verehrung aufrechterhalten werden, wie sie das weiße und sandfarbene Mausoleum erheischt, errichtet mit Materialien aus allen Teilen des Landes, gestellt in die Mitte des Platzes vor dem Tor des Himmlischen Friedens. Im Innern über der Kopfseite des Sarkophags prangt die Inschrift „Ewiger Ruhm dem Großen Führer und Lehrer Vorsitzenden Mao Zedong!“

Unabweisbar blieb daher, dass die Staatsführung die Deutungshoheit über Mao Zedong und seinen Kult  nicht aus der Hand geben dürfe.

Denn die Ambivalenz der Regionen gegenüber jedem Zentralismus, die Reserviertheit gegenüber einer allzu mächtigen Zentrale leben fort. Bei der Unsicherheit der Grundlagen gibt es kaum eine andere Zentralfigur, keine andere Instanz, auf die sich das heutige politische System  verständigen könnte als eben die Figur ihrer Gründergestalt – trotz aller Ambivalenz.  Schon an der Mauer der Demokratie 1978/1979 hatte es neben Verurteilungen und Preisungen Mao Zedongs differenzierende Stimmen gegeben wie die eines anonymen Eisenbahnarbeiters in einer auf den 22. November 1978 datierten Stellungnahme: "Der Vorsitzende Mao war ein großer Führer des chinesischen Volkes und eine große Gestalt in Chinas Geschichte. Doch seine Verdienste anzuerkennen bedeutet nicht, dass er keine Fehler begangen hat." Unabweisbar blieb daher, dass die Staatsführung die Deutungshoheit über Mao Zedong und seinen Kult  nicht aus der Hand geben dürfe, allein um nicht Gefahr zu laufen, dass er zur Leitfigur einer gegen die Verhältnisse gerichteten Bewegung wird. Dabei forderte die in der Figur Maos begründete Ambivalenz erhöhte Wachsamkeit. Als einmal der Künstler Zhang Hongtu in einer Collage (Acryl auf Leinwand, 1989) in einer Kopie des Abendmahls von Leonardo da Vincis in dem Gemälde alle Köpfe durch Köpfe Mao Zedongs ersetzte und damit gegen die brutale Niederschlagung der Demokratiebewegung auf dem Platz vor dem Tor des Himmlischen Friedens am 4.Juni 1989 protestierte, richtete sich das "Einer unter euch wird mich verraten" (Matthäus 26, 21), zu lesen als: "Mao wird durch Mao verraten" gegen die Parteiführung. Damit wurde die Figur Mao Zedongs gegen die politischen Verhältnisse zur Zeit der Machtkonzentration Deng Xiaopings gestellt. Dies und auch der Umstand, dass Mao für die heutige politische Führung gefährlich werden kann, fördert die Beibehaltung der 70:30-Rhetorik. Man sucht weiter einen chinesischen Weg. Als Xi Jinping im September 2015 und danach immer wieder dafür plädiert, weiter für das revolutionäre Ideal zu kämpfen, denn es sei „höher als der Himmel. Generation um Generation muss dafür kämpfen“, nahm er eine unmittelbare Anleihe bei Mao Zedong, der bis heute die Chiffre für Zukunftshoffnung und Katastrophe zugleich ist. Die Abschaffung des Prinzips der „Eisernen Reisschale“ der Herrschaft Mao Zedongs durch seine Nachfolger bedeutet ja nicht, dass die Partei sich nicht weiter in der Verantwortung sieht, die soziale Stabilität zu sichern. Dabei dauert die Suche nach einem jenseits der Partei institutionell und zugleich im öffentlichen Bewusstsein verankerten gesamtstaatlichen Gemeinschaftsgefühl an. Und bei allen Verbrechen gegen die Menschlichkeit Mao Zedongs, darin sind sich die meisten Biografen einig, lässt sich sein Leben doch nicht „auf eine einzige Dimension reduzieren“. Und daher werden auch weiterhin in China seine Verdienste und seine Fehler in einem Verhältnis 70 : 30 gesehen werden.