Wenige Tage nach einer Fortbildung an einer Berliner Gesamtschule erhalte ich eine E-Mail einer Teilnehmerin. Sie bittet mich um Rat. Einige muslimische Schüler möchten an ihrer Schule einen Gebetsraum für sich einrichten und diesen auch während des Unterrichts, zu den Gebetszeiten, nutzen. Die Schulleitung weiß nicht so recht, wie sie damit umgehen sollten. Grundsätzlich gilt in Berlin das Neutralitätsgesetz. Das bedeutet: keine religiösen Symbole in öffentlichen Einrichtungen. In Bezug auf den Gebetsraum für muslimische Schüler und Schülerinnen jedoch tun sich alle Verantwortlichen an der Schule schwer mit einer klaren Entscheidung. Eines ist klar: sie wollen auf keinen Fall als Rassisten gelten. Die Zweifler unter ihnen fragen: »Mit welchem Recht zwingen wir diesen Menschen unsere Werte auf? «

Eine andere Schule, ein anderer Lehrer, ein ähnliches Problem: Eltern beschweren sich aufgebracht bei der Schulaufsichtsbehörde über eine angebliche Missachtung ihrer Religion durch einen Grundschullehrer. Sein Vergehen: Er hatte seinen vom Fasten völlig erschöpften minderjährigen Schülern in der Sommerhitze bei über 30 Grad empfohlen, einen Schluck Wasser zu trinken. Die Behörde rügte in diesem Fall den Lehrer und forderte ihn zu mehr Respekt auf.

Was diese beiden Lehrer an mich herangetragen haben, ist nicht ungewöhnlich. So geht es auch Mitarbeitern aus Jugendämtern und Sozialarbeitern, die dazu angehalten werden, in Familien mit Migrationshintergrund auch dann nicht einzuschreiten, wenn das rein rechtlich notwendig wäre – nur um sich ja nicht des Kulturimperialismus schuldig zu machen.

Die meisten von ihnen wollen sich deutlich gegen Rassismus und Vorurteile positionieren. Doch leider führt die Art und Weise, wie sie ihren guten Willen demonstrieren, dazu, dass genau dieser gute Wille leicht missbraucht und sehr leicht fehlinterpretiert werden kann. Dann steuert die Sache am Ziel vorbei.

Links und progressiv orientierte Zeitgenossen in Deutschland haben besondere Sympathien für Menschen »mit Migrationshintergrund« und besondere Solidarität auch und gerade für Musliminnen und Muslime. Ihre Motive sind grundsätzlich gut und gerecht. Sie wollen gerade die Gruppen in der Bevölkerung, denen vermehrt mit Fremdenfeindlichkeit begegnet wird, politisch unter ihre schützenden Fittiche nehmen, insbesondere da, wo die Diskriminierung sich gegen die Konfession der »Fremden« zu richten scheint.

Die Schutzimpulse erklären sich unter anderem aus dem Wunsch, maximale Distanz zu rechten, nationalistischen Haltungen zu zeigen. In der NS-Zeit wurden Juden von Rassisten verfolgt, wir wollen nicht zulassen, dass heute Muslime von Rassisten verfolgt werden. So scheint die Haltung auch zu sagen: Wir sind der lebende Beweis dafür, dass die Deutschen aus ihrer Geschichte gelernt haben.

Viele der im Westen neuen Musliminnen und Muslime sind eingewandert oder suchen Asyl, weil sie vor undemokratischen Verhältnissen flüchten, unter denen sie verfolgt werden, weil sie in ihren politisch und wirtschaftlich stagnierenden Staaten keine Chancen sehen. Für viele sind oder waren das Ankunftsland und dessen Gesetze und freien Gewohnheiten fremd und teils bedrohlich. Ihr Bildungsniveau ist im Durchschnitt nicht sehr hoch. Die Sozialstruktur vieler Untergruppen ist traditionell-patriarchal, viele sind aufgrund privater oder politischer Verhältnisse Opfer transgenerationaler Traumata, die viel zu oft unberücksichtigt und unbehandelt bleiben.

Eine progressive, demokratische Antwort auf die akuten Probleme der Zugewanderten muss die Augen offen halten und die komplexe, in Teilen gefährliche Realität erkennen, die entstanden ist.

So sehen sie sich im Dilemma zwischen Tradition und Moderne, Wir-Gruppe und Ihr-Gruppe. In dieser Lage bieten ihnen Fixierungen an religiöse oder nationalistische Ideologien aus den Herkunftsländern vermeintlich Halt und stärken scheinbar das Selbstwertgefühl, das unter der Oberfläche jedoch brüchig und instabil bleibt. Sich selber ausgrenzend erleben sich diese Menschen als ausgegrenzt und suchen die Sündenböcke dafür in der Mehrheitsgesellschaft, der Gesellschaft, die sie aufgenommen hat. Den Rechten geht es darum, die »fremden«, Halt suchenden Gruppen rassistisch, undifferenziert und kollektiv zu diskriminieren. Die Zugewanderten davor in Schutz nehmen zu wollen ist deshalb – ich sage es noch einmal – ein ehrenwertes Motiv.

Aber: Eine progressive, demokratische Antwort auf die akuten Probleme der Zugewanderten muss die Augen offen halten und die komplexe, in Teilen gefährliche Realität erkennen, die entstanden ist. Es nutzt niemandem, auch nicht den Zugewanderten, im Sinne einer Bewältigung der deutschen Nazi-Vergangenheit die Augen zu verschließen vor dem massiven Bedarf an Demokratisierung, der in diesen Gruppen besteht. Es ist fahrlässig, die demokratiefeindlichen Bestrebungen der Fundamentalisten unter ihnen zu unterschätzen. Es ist kontraproduktiv, die Verhältnisse nicht beim Namen zu nennen, die politischen Defizite nicht klaren Blicks zu sehen.

Unkritische, mitunter sentimentale Haltungen, wie sie die Linken und Grünen so oft einnehmen, sind nachgerade kontraproduktiv. Es ist meiner Ansicht nach alles andere als »antifaschistisch«, die antisemitischen und fundamentalistischen Strömungen kleinzureden und aus muslimischen Zugewanderten pauschal bedauernswerte Diskriminierte zu machen.

Was ist daran links, was progressiv?, frage ich mich. Und: Seid ihr noch bei Trost? Oder sind wir eure Kuscheltiere geworden?

Kritik von Gläubigen wie Nichtgläubigen an Religion als Herrschaftsinstrument ist ein Klassiker der Linken!

Marx nannte Religion das »Opium des Volkes«. Hegel, Kant und Weber waren Religionskritiker. Freud analysierte als Ursprung für die Erfindung eines strengen Gottvaters unter anderem ein unmündiges Bedürfnis danach, Verantwortung an Autoritäten abzugeben, sich kindlich zu unterwerfen. Die Französische Revolution übte Kritik an Religion als Instrument der Herrschaft und Unterdrückung

Kritik von Gläubigen wie Nichtgläubigen an Religion als Herrschaftsinstrument ist ein Klassiker der Linken! Diese Kritik ist eines ihrer Fundamente. Umso verrückter erscheint es, wenn die muslimischen Kritiker ihrer eigenen Religion von Grünen, Linken und sogar Sozialdemokraten mit Argwohn betrachtet werden. Warum ist unsere Kritik nicht ebenso berechtigt? Wer in Kauf nimmt, dass ein muslimisches Mädchen in der Schule weniger lernt als ein nicht-muslimisches, weil es nicht schwimmen darf, ist ein Rassist, der mit der Zukunft dieses Mädchens spielt. Wer meint, die patriarchalen Strukturen in der muslimischen Community dürfen nicht angesprochen werden, weil das Muslime »verletzen« könnte, nimmt Muslime nicht ernst und sieht sie nicht als gleichberechtigt an. Dieser Kulturrelativismus derer, die glauben, dass sie die Strukturen der Kirche, des Rechtsextremismus, der AfD usw. zu Recht kritisieren, und entsprechende menschen- bzw. frauenfeindliche Inhalte thematisieren, jedoch, wenn es um Muslime geht, unter dem Stichwort »Toleranz« die Probleme tabuisieren zu können meinen, entmündigt uns Muslime.

Warum soll das, was anderen Religionen – dem Katholizismus, dem Protestantismus, dem Judentum – durch Kritik und Reform von innen und außen in der großen Mehrheit gelungen ist, nicht auch im Islam gelingen? Und warum erhalten wir dafür keine Solidarität von den Progressiven im Land?

Wir sind keine Kulturimperialisten, wenn wir klare Gesetze haben, die für alle, unabhängig von ihrer Religion, Herkunft, Hautfarbe oder Muttersprache, gelten. Ist das nicht sogar das große Verdienst der Aufklärung, des blutig erkämpften Prozesses der Gewaltenteilung und Demokratisierung? Dass das Gesetz nicht unterscheidet, für wen es gilt und bei wem es eine Ausnahme macht? Übersetzt auf die Alltagssituationen der vielen Lehrer, Jugendamtsmitarbeiter, Sozialarbeiter, Polizisten, Richter bedeutet das, dass Eltern ihre Kinder nicht am Freitag von der Schule befreien können, weil sie zur Moschee gehen, dass Schwimmunterricht nicht zur Disposition steht, dass Eltern ihre 20-jährige Tochter nicht zwangsverheiraten dürfen. Wir brauchen eine andere Wohnpolitik sowie andere Schulen und eine neue Form der Sozialarbeit, die diese Menschen langfristig begleitet. Das ist eine Mammutaufgabe.

Den kritischen Muslimen wird die Debatte in Deutschland von zwei Seiten aus verweigert: von den offiziellen muslimischen Verbänden und von den meisten linken, grünen Milieus.

Pauschalisierungen wie »Das hat mit dem Islam nichts zu tun« oder »Der Islam ist an allem schuld« bringen uns an dieser Stelle jedoch nicht weiter. Sie polarisieren nur. Wenn Menschen in Familien aufwachsen, in denen Gewalt ein Mittel der Erziehung ist, wo Geschlechtertrennung herrscht und Sexualität tabuisiert wird, egal ob aus religiösen Gründen oder aus anderen Traditionen heraus, schafft dies die Basis für Ereignisse wie zu Silvester am Kölner Domvorplatz. Demgegenüber ist es unverzichtbar, dass der Staat in alle Richtungen wehrhaft ist, egal, ob die Gefahr von Rechtsradikalen kommt oder von Islamisten.

Den kritischen Muslimen wird die Debatte in Deutschland von zwei Seiten aus verweigert: von den offiziellen muslimischen Verbänden und von den meisten linken, grünen Milieus. Das ist erstaunlich und sollte zu denken geben. In beiden Lagern weigert man sich, die brennenden Probleme der muslimischen Gesellschaften klar zu benennen und anzugehen.

Diese Probleme sind unter anderem: das Anwachsen eines gefährlichen Fundamentalismus, das Ausgrenzen von Frauen als Menschen zweiten Ranges, eine Sexualfeindlichkeit, die zugleich hochgradig sexualisiert wie tabuisiert ist, ein Buchstabenglaube, der den Koran nicht in seinem historischen und lokalen Kontext versteht, sondern als von Allah diktierten Text begreift. Viele Beispiele belegen, wie unfrei und unglücklich das Kleben an diesen Vorstellungen macht.

Solange die muslimischen Verbände – ebenso wie Teile der Grünen und Linken – leugnen, dass ein traditionell patriarchalisches Verständnis des Islam den fundamentalistischen Muslimen in die Hände spielt, solange haben bei diesem Thema AfD und Pegida das Sagen. Die Neue Rechte meint deshalb das Benennen der Probleme für sich pachten zu können – und sie tut es auch tatsächlich: hetzend und rassistisch, statt politisch aufklärend, soziologisch klar und religionsanalytisch.

Kluge und präventive Politik muss sich zum Ziel setzen, dass in der Mitte der Gesellschaft eine Debatte stattfindet, sie muss sie anstoßen. Traditionelles Islamverständnis befördert sexuelle Tabus und sexuelle Gewalt. Es hat enormen Einfluss auf das Verhalten der Geschlechter zueinander.. Das festzustellen ist nicht rassistisch, sondern ein Fakt. Wir, die Muslime, haben das Problem – die Kritischen unter uns benennen es und brauchen die Solidarität der Demokraten im Land. Von der AfD, von Pegida wollen wir sie nicht, denn was sie vorbringt, ist keine.

Eine offene, tabufreie Debatte wird zu Lösungen führen, zum Nachdenken und zu besserer Prävention. Und sie wird die Rechtsradikalen und die Islamisten schwächen. Dazu muss allen klar werden, dass Muslime nicht für die »Opferrolle« gecastet werden wollen, sondern als gleichberechtigte Bürger gleiche Rechte und Pflichten wahrnehmen wollen.

Dieser Beitrag ist die gekürzte Fassung eines Textes, der gerade im neuen Sammelband Flucht, Migration und die Linke in Europa erschienen ist. Ursprünglich formulierte der Autor seine Ideen in einem Meinungsbeitrag der taz.